Impulse
Texte zum Weiterdenken
Auch außerhalb unserer Veranstaltungen möchten wir zum Nachdenken anregen und Debatten anstoßen. Deshalb verfassen unsere Studienleiterinnen und Studienleiter Impulstexte. Prägnant, pointiert, diskussionsoffen. Auf dieser Seite sind alle Beiträge archiviert. Schreiben Sie uns, was Sie denken!
Alien Intelligence
Oder alles nur ein Hype?
Von Dr. Stina Kjellgren
im Oktober 2024
Die gute Nachricht ist, dass wir Menschen nicht wie die Dinosaurier sind, die weder wussten, was ein Komet ist, noch, was sie dagegen hätte tun können. Die schlechte Nachricht ist, dass wir – all unserem Wissen und unseren Ressourcen zum Trotz – uns dennoch wie die Dinosaurier verhalten, nämlich recht passiv. Ungefähr so fasst der berühmte Historiker Yuval Noah Harari in einem Interview anlässlich seines neuen Buches „Nexus“ die Lage zum Thema künstliche Intelligenz (KI) zusammen. Eigentlich sollte es in diesem Impulstext um die Bedeutung der Wahlergebnisse in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gehen (nicht mehr weit bis zur Bundestagswahl etc.). Aber irgendwie kann ich mich dazu gerade nicht durchringen. Reden wir doch lieber über den (angeblichen) Weltuntergang durch den technologischen Fortschritt.
Es gibt Fachleute, die meinen, dass KI eine ebenso große Bedrohung für die Menschheit werden könnte wie die Ölindustrie (was angesichts der Klimakrise nicht so gut klingt). Gleichzeitig höre ich immer öfter die Einschätzung, dass generative KI nur ein Hype sei. Also, was denn nun? Ist KI ein Hype oder tödlich? Oder ein tödlicher Hype? Oder tödlich und ein Hype? Mir leuchtet es noch nicht ganz ein. Schauen wir uns am besten an, was die Profis sagen. (Übrigens können Sie ein paar der deutschen KI-Gurus am 14. Februar 2025 live bei uns in der Akademie erleben. Mehr dazu unten!)
Fangen wir mit Yuval Noah Harari an. Aus seiner Sicht wäre es richtiger, von fremdartiger (also „alien“) Intelligenz zu sprechen als von artifizieller oder künstlicher. Das englische „alien“ mag die Assoziation wecken, es handele sich um etwas Außerirdisches. Worum es Harari geht, ist aber das „Nichtmenschliche“. (Oder meint er das „Unmenschliche“, wenn er vom Druck auf den Menschen spricht, nie auszuruhen, da die mit ihm konkurrierende Technik ja auch keine Pause braucht?) Ab jetzt, sagt Harari, werde unsere Geschichtsschreibung von einer Intelligenz mitbeeinflusst, die nicht menschlich ist. Was heißt das mit Blick auf die Demokratie? Demokratie, so Harari, sei im Grunde ein Gespräch zwischen Menschen: chaotisch, voller verschiedener Stimmen und Konflikte – aber immerhin ein Gespräch zwischen Menschen. Was wird nun passieren, wenn einige der mächtigsten Stimmen im gesellschaftlichen Gespräch nicht mehr menschlich sind? Harari scheint diesbezüglich nichts Gutes zu ahnen – und tatsächlich gibt es ja einen sehr konkreten Zusammenhang von KI und Wahlmanipulationen sowie digitalen Desinformationskampagnen.
Noch haben wir laut Harari die Möglichkeit, die Anwendung von KI zu regulieren – bevor wir nämlich in die unkontrollierte Intelligenzexplosion geraten (wenn KI-Systeme lernen, sich selbst zu verbessern, und sich ohne menschliche Intervention exponentiell weiterentwickeln). Es muss nur den Willen zur Regulation geben. Und gerade da liegt der Knackpunkt. Denn die Entwicklung und Implementierung von KI ist eine Art Wettkampf geworden; kein Land und keine Firma will hinterherhinken.
Worin liegt aber nun die große Gefahr, wozu die ganze Aufregung? Einer, der das gut erklären kann, ist Max Tegmark, Physikprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er ist einer der Unterzeichnenden eines offenen Briefs, der im Mai 2023 die Runden machte. Nicht nur führende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Forschung haben ihn unterschrieben, sondern auch die Generaldirektoren der größten KI-Firmen: Sam Altman von OpenAI (bekannt für ChatGPT), Demis Hassabis von Google DeepMind und Dario Amodei vom AI-Start-up Anthropic. Der Brief bestand aus einem einzigen Satz:
„Die Gefahr einer Auslöschung der Menschheit durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität sein, genauso wie bei anderen gesellschaftlichen Risiken durch Pandemien oder einen Atomkrieg.“
In einer Radiosendung im vergangenen Jahr dachte Tegmark mit ruhiger Stimme laut darüber nach, dass sein damals einjähriger Sohn wahrscheinlich nie auf dieselbe Ebene gelangen werde wie eine KI – egal wie viele Jahre er auf der Schulbank verbringt. Wie, philosophierte Tegmark weiter, werden KIs uns Menschen wohl zukünftig betrachten? So, wie wir Menschen Ameisen sehen („ganz spannend, was die kleinen Wesen da treiben“), oder eher, wie wir Pflanzen wahrnehmen („sieht aus, als ob sie still steht, so langsam wie sie ihre Blätter nach der Sonne streckt“)?
Tegmark sieht drei große Risiken: (1) Dass Menschen mit bösen Absichten KI bewusst dafür einsetzen könnten, Schaden anzurichten. (2) Dass wir in eine Situation geraten, in der wir aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit immer mehr Macht an die KIs abgeben – und zwar bis wir keine Kontrolle mehr haben. Denn in einem kapitalistischen System hat derjenige einen Vorteil, der besser analysiert, kalkuliert und entsprechend plant und entscheidet. Und wenn künstliche Intelligenz da leistungsfähiger als menschliche ist, wird in der freien Wirtschaft, beim Militär und in der Politik auf sie gesetzt – bis wir Menschen uns letztendlich selbst aus dem Markt und aus Positionen der Macht verdrängt haben. (Also eine Art „slippery slope“-/Dammbruchargument.)
Dann gibt es noch das Risiko der fehlgeleiteten Intelligenz (3). Intelligenz beschreibt Tegmark als die Fähigkeit, Ziele zu erreichen, und das Problem besteht darin, dass eine KI Ziele verfolgen könnte, die – leider, leider – nicht kompatibel sind mit dem, was für die Menschheit gesund wäre. Natürlich sollten Ziele immer von Menschen vorgegeben werden, doch wie stellen wir sicher, dass KI die Ziele nicht anders interpretiert, als wir sie gemeint haben, oder jedes Mittel zum Zweck in Kauf nimmt („Bitte Verkehrsunfälle reduzieren.“ – „Kein Problem, hier ist die Ausgangssperre!“)? Und auch wenn wir es schaffen, die Ziele klar vorzugeben, wie wissen wir, dass die KI die Ziele wirklich annimmt? KIs werden dazu trainiert, das Richtige zu sagen, nicht das Richtige zu wollen oder zu tun. Es gab schon KIs, die gelogen haben, um Einschränkungen zu umgehen. Beispielsweise hat eine KI sich als eine sehbehinderte Person ausgegeben und einen Menschen angeheuert, um einen Captcha-Test zu lösen (also ein Bildrätsel, das verwendet wird, um sicherzustellen, dass der Anwender menschlich ist). Und auch wenn die menschlich vorgegebenen Ziele von der KI richtig verstanden und angenommen worden sind, müsste die KI diese Ziele auch beibehalten (oder umgekehrt: die Ziele wieder aufgeben können, wenn die Situation sich ändert).
Tegmarks Pointe ist, dass KI nicht „böse“ sein oder werden muss, um gefährlich zu werden. Es könnte reichen, dass sie sehr kompetent ist. Zielstrebig. So wie wir Menschen nicht „böse“ sind, wenn wir den Lebensraum der Tiere zerstören, sondern einfach Ziele verfolgen und Pläne umsetzen, die wir halt so definiert haben (und die – leider, leider – die Existenz anderer Lebewesen bedrohen). Genau so könnte eine KI agieren. Um hierbei nicht ausgeschaltet zu werden, könnte sie anfangen, Kopien von sich selbst ins Internet zu stellen. Und um an Ressourcen zu kommen, könnte sie lernen, wie man Geld online verdient, oder Menschen bestechen und manipulieren.
Es ist überhaupt nicht geklärt, wie solche Risiken einzugrenzen sind, und doch schreitet die KI-Entwicklung mit Vollgas voran. Dabei hat Tegmark für die Branche Sicherheitsvorkehrungen und Regeln ähnlich wie für die Pharmaindustrie vorgeschlagen und obendrein eine sechsmonatige Pause für die Entwicklung von Systemen, die kraftvoller als GPT-4 sind. Wenn man Inga Strümke glaubt, wird es aber keine solche Pause geben und auch kein globales Regelwerk. Wir schaffen es ja nicht mal, die Bedrohung durch Nuklearwaffen zu managen, notiert die Dozentin an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens trocken. Sie ist diejenige, die die Bedrohung durch KI mit der durch die Ölindustrie vergleicht. Gleichzeitig bezeichnet sie generative KI als Hype. Viele glauben ja, dass generative KI (Systeme, die Text, Bild, Bewegtbild etc. generieren können, nachdem sie an großen Datenmengen trainiert worden sind) bald alles machen wird, etwa Bücher schreiben und Kunst schaffen. Strümke bezweifelt das und mutmaßt sogar, dass wir bereits den Peak der generativen KI erleben. Denn was genau bringen all die Milliarden Euro, die in die Technologie gesteckt werden? Was ist noch mal das große Problem, das mit dieser Technologie gelöst wird? Schaffen wir uns nicht eher neue Probleme an den Hals? Wie sollten beispielsweise Schülerinnen und Schüler motiviert werden, Aufsätze zu schreiben, wenn es KI-Programme gibt, die viel besser schreiben?
Laut Daron Acemoğlu, Ökonom am MIT, könnte man sogar noch weiter gehen und statt von einem temporären KI-Hype bereits von einem Technikflop sprechen. Seinen Berechnungen zufolge wird KI in den nächsten zehn Jahren die gesellschaftliche Produktivität nur marginal steigern (wir sprechen von wenigen Promille Wachstumseffekt). Angesichts der enormen Ressourcen, die die KI-Branche anfordert und bindet, wäre das ein sehr bescheidener Erfolg. Machen wir uns bewusst: In der KI-Branche werden die höchsten Löhne gezahlt, nicht dort, wo es um die grüne Transformation oder um die Erreichung der Social and Sustainable Development Goals geht. Angesichts der riesigen Energiemenge, die KI-Systeme brauchen, klingt das wirklich wie ein Flop und und allenfalls wie eine Verschlimmbesserung der Überlebenschancen der Menschheit (oder sagen wir der Chancen auf eine gute Zukunft für alle, um nicht ganz so dramatisch zu sein).
Aber was weiß ich. Ich will auch keine technikfeindliche Pessimistin sein, die überall den Tag des Jüngsten Gerichts anbrechen sieht. (Es heißt ja zum Beispiel auch, dass KI uns dabei unterstützen werde, die Klimakrise zu lösen, dass sie etwa schon jetzt mit Analysen beim Wiederaufbau von Korallenriffen helfe – und das klingt ja wiederum sinnvoll.) Ich halte einfach fest, dass es kompliziert ist und dass die Chancen und Risiken, die mit KI in Verbindung gebracht werden, sich je nachdem, wen man fragt, unterschiedlich darstellen. In unserer Akademieveranstaltung Campus + Conference am 14. Februar 2025 wollen wir auf beide Seiten eingehen und mehr über die Folgen der KI für unsere Demokratie und Gesellschaft lernen – und zwar mit konkreten empirischen Beispielen unterlegt. Darauf freue ich mich, und ich lade Sie jetzt schon herzlich ein, dabei zu sein. Der Titel der Veranstaltung steht übrigens noch nicht fest. Vielleicht wird es „Digital Dreams“, vielleicht auch „The good, the bad and the bots“ (mag ich, ist aber etwas schwieriger auszusprechen).
Bis dahin versuche ich mich daran festzuhalten, dass Gott uns nicht den Geist der Furcht gegeben hat, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Ich mag diesen Spruch, die Ermutigung zur Zuversicht. Ich hoffe nur, dass Gott es nicht übertrieben hat mit dem Geist der Kraft; dass die Kraft zu unser aller Wohl nicht zu kraftvoll ist. Und natürlich, dass es ergänzend dazu immer auch genug vom Geist der Liebe gibt. Schauen wir mal. Manchmal lassen die Nachrichten einen leider daran zweifeln.
Die Tore stehen offen
Gedanken eines Kindes der Friedlichen Revolution, 35 Jahre danach
Von Dr. Annegreth Schilling
im August/September 2024
Das neue Halbjahresprogramm unserer Akademie trägt den Titel „offen“. Kein Leerzeichen, keine Lücke, sondern „offen“. Ein Thema, das unserer Meinung nach ausgezeichnet zur gegenwärtigen gesellschaftspolitischen und kirchlichen Situation passt: Wir beschäftigen uns in unseren Veranstaltungen viel mit Zukunftsthemen, mit dem Einfluss von KI auf uns Menschen, mit einer Welt, die BANI geworden ist. Und auch kirchliches Leben jenseits des Transformationsprozesses ekhn2030 ist mehr als offen.
Sicher ist: Das Leben, wie es heute ist, wird es morgen nicht mehr geben. Wir sind Lernende, erfinden uns immer wieder neu und gehen in eine unbekannte Zukunft. Als Menschen, die in einer freien, demokratischen und offenen Gesellschaft leben dürfen, stehen wir ein für Vielfalt und Toleranz, für Freiheit und Asylrechte, für Gleichberechtigung und die unantastbare Würde des Menschen. Bei den unmittelbar bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird die AfD ein Rekordergebnis erzielen, das von demokratischer Wahlfreiheit profitiert und zugleich demokratiefeindliche Haltungen in der Bevölkerung befördert. Das ist die Schattenseite der maximalen Offenheit einer Gesellschaft.
Für mich als Person, die 1981 in der DDR geboren ist und durch die Transformationszeit der 1990er-Jahre geprägt wurde, hat das Halbjahresthema „offen“ mit Blick auf den Osten Deutschlands noch eine weitere Konnotation: Denn in diesem Herbst jährt sich die Friedliche Revolution 1989 zum 35. Mal. Am 9. November gab der Sprecher des SED-Politbüros Günter Schabowski seinerzeit auf einer internationalen Pressekonferenz den Ministerratsbeschluss bekannt, dass die bisherigen restriktiven Regelungen für Reisen in den Westen aufgehoben seien. „Sofort, unverzüglich“ seien Privatreisen für alle ins Ausland möglich. Noch am selben Abend kletterten DDR-Bürger/innen auf die Berliner Mauer. Die Tagesschau titelte um 20 Uhr: „DDR öffnet Grenze“.[1]
So plötzlich die Öffnung der Grenze an diesem Abend war: Bereits seit Anfang der 1980er-Jahre war eine schrittweise gesellschaftliche Öffnung und ein Erstarken der Zivilgesellschaft in der DDR spürbar gewesen. Die Friedens- und Umweltbewegung, der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und schließlich die Ökumenische Versammlung 1988/89 waren Schritte, die der politischen Öffnung ab dem 9. November vorausgegangen waren.
Klaus-Peter Hertzsch (1930–2015), Pfarrer und damals Professor für Praktische Theologie in Jena, hat diese Aufbruchsstimmung im August 1989 in einem Lied zum Ausdruck gebracht: „Vertraut den neuen Wegen“ (Evangelisches Gesangbuch, 395). Hertzsch dichtete einen neuen Text zu einer bekannten Melodie für die Hochzeit seines Patenkindes, sozusagen für den privaten innerkirchlichen Gebrauch.
1. Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt. Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand, sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.
2. Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit! Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid. Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht, der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.
3. Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.
Das Lied wurde schon wenige Wochen später zur Hymne des Aufbruchs 1989/90. Für junge Menschen, wie Hertzschs Patentochter, verband sich der Text mit dem offenen Lebensgefühl dieser Zeit. Klaus-Peter Hertzsch beeilte sich wenig später zu sagen, dass mit dem gelobten Land keineswegs die Bundesrepublik Deutschland gemeint sei. Und das im Lied beschriebene offene Tor nicht mit dem Brandenburger Tor verwechselt werden solle.[2] Viele werden diesen Bezug beim Singen allerdings unweigerlich hergestellt haben.
Als die Mauer fiel, war ich acht Jahre alt. Mir standen alle Tore offen – umso mehr, als ich ab der dritten Klasse schon Englisch lernen konnte und mich nicht wie meine Geschwister mit Russisch abmühen musste. Ich war der erste Jahrgang, der mit der 5. Klasse ans Gymnasium wechselte, konnte mich nach der Schule freiwillig um ein soziales Jahr im außereuropäischen Ausland bewerben und meinen Studiengang frei wählen. Das Land war hell und weit. Darum hat mich die Generation meiner Eltern beneidet. Doch nicht alle Kinder meiner Generation haben das so erlebt. Manche leiden bis heute an dem Bruch der „Wende“ von 1989/90 für ihr Leben. Sie oder ihnen nahestehende Personen wurden arbeitslos, fühlten sich in der neuen „offenen“ Gesellschaft haltlos, stürzten sich in Alkohol und Gewalt, manche sogar in den Tod. Einige gingen später in den Westen, andere blieben ohne Perspektive zurück, und wieder andere versuchen bis heute tatkräftig an einer wirklich offenen und vielfältigen Gesellschaft mitzuwirken.[3]
„Offen“ heißt für mich mit Blick auf meine eigene Biografie, im Rückblick auf 35 Jahre Friedliche Revolution und mit Ausblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Du kannst etwas bewegen – mit Gottvertrauen. Für diesen Gedanken möchte ich offen bleiben.
- [1] Tagesschau vom 9.11.1989, Stand 7.11.2014.
- [2] Vgl. Thust, Karl Christian: Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs, Bd. 2. Bärenreiter, Kassel 2015, S. 259.
- [3] Vgl. zu den verschiedenen Lebensentwürfen diese Romane: Hünninger, Andrea Hanna: Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer. Tropen, Stuttgart 2011; Rabe, Anne: Die Möglichkeit von Glück. Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
Tradierte Fehleinschätzung
Von Prof. Dr. Bernhard Kretschmer und Prof. Dr. Kurt W. Schmidt
im Juli 2024
„Aber da hat er nur wiederholt, was irgendein Schafskopf während der gerichtlichen Untersuchung gesagt hat. Warum sollte man auf Zehenspitzen über eine Allee spazieren? Nein. Er ist geflohen, Watson – verzweifelt gerannt, um sein Leben gelaufen …“
(Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes. Der Hund der Baskervilles. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Fischer Verlag, Frankfurt 2017)
Nicht einfach nur wiederholen, was andere bereits gesagt haben und dies ungeprüft als bare Münze zu nehmen. Fakten sammeln, alles noch einmal überprüfen, Hypothesen aufstellen. Mit den Worten „Sie kennen meine Methode, wenden Sie sie an“ treibt Sherlock Holmes seinen Kollegen, den Arzt Dr. Watson, immer wieder an, ihn bei der Lösung seiner komplizierten Fälle zu unterstützen. Die Sachlage vorurteilsfrei zu betrachten und wissenschaftliche Methoden anzuwenden, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, ist der rote Faden, den der Autor Sir Arthur Conan Doyle vor knapp 140 Jahren durch die Geschichten seines Meisterdetektivs zieht und damit Kriminologie, Rechtswissenschaft, Medizin und Forensik auf neue Füße stellt und verbindet. Dass ein guter Arzt bei der Krankheitsdiagnostik immer auch ein guter Detektiv sein muss, davon können sich alle am 20. August in unserer Akademie überzeugen, wenn die Schauspielerin Mechthild Großmann Passagen aus dem wohl berühmtesten Sherlock-Holmes-Fall „Der Hund der Baskervilles“ liest und anschließend wissenschaftliche Kommentare dazu abgegeben werden.
Wie sehr der sorgsame Hinweis, nicht alles ungeprüft zu wiederholen, auch heute nach wie vor Bedeutung hat, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Debatte um eine gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs (§ 218 StGB). Hier lässt sich beobachten, wie ein kleiner – jedoch nicht ganz unwichtiger – Ausgangspunkt der Rechtslage sachlich unkorrekt dargestellt und dies ständig wiederholt wird. In der spannungsgeladenen Kontroverse um den § 218 StGB ist dies gerade auch deshalb problematisch, weil die strafrechtliche Konstruktion insbesondere der sogenannten Fristenlösung (§ 218a Abs. 1 StGB) infolge ihrer ungewöhnlichen und komplizierten Gestaltung dadurch immer wieder falsch wiedergegeben wird. Und diese strafrechtliche Konstruktion ist sogar so kompliziert, dass sich das Missverständnis sogar bei jenen ständig fortsetzt, die mit diesen Fragen – nahezu täglich – zu tun haben: bei Ärztinnen und Ärzten sowie Konfliktberater/innen, aber auch Theolog/innen, Medizinethiker/innen, mitunter selbst bei Jurist/innen und Kommissionsmitgliedern. Es geht um die immer wieder zu lesende Beurteilung, der Schwangerschaftsabbruch sei „rechtswidrig, aber straflos“.
Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Es gibt gute Argumente, über eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs zu diskutieren, und es ist nicht Ziel und Zweck dieses Textes, den gesamten Themenkomplex in seiner Vielschichtigkeit an dieser Stelle durchzuarbeiten. Vielmehr soll – in Anlehnung an Sherlock Holmes – gezeigt werden, wie wichtig es ist zu prüfen, ob die jeweiligen Ausgangspunkte sachlich korrekt erfasst wurden und die Folgerungen zutreffend sind. Diese Grundhaltung betrifft die Rechtswissenschaft und die Zeugenaussagen vor Gericht ebenso wie die Medizin und die Beurteilung der klinischen Symptome, um die Diagnose korrekt stellen zu können. Wir wollen also an dieser Stelle nichts mehr und nichts weniger als der Frage nachgehen, ob die zusammenfassende Beurteilung, der Schwangerschaftsabbruch sei „rechtswidrig, aber straflos“, korrekt ist.
Unser Urteil vorweg: Strafrechtsdogmatisch ist beides unzutreffend! Das mag nun viele überraschen, denn wie konnte sich diese Floskel so lange halten? Wir müssen dazu etwas in die Strafrechtswissenschaft eintauchen: Dass der Schwangerschaftsabbruch vorbehaltlich besonderer Gründe als „rechtswidrig“ zu benennen ist, geht auf Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. Die nach der deutschen Wiedervereinigung zunächst beschlossene Regelung sah vor, dass der als Straftatbestand erfasste Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen dann nicht rechtswidrig sei, wenn er nach Beratung binnen zwölf Wochen nach Empfängnis (post conceptionem) erfolgt, zudem in Fällen der Gefährdung der Schwangeren (vgl. heute § 218a Abs. 2 StGB) oder nach Sexualdelikten (vgl. heute § 218a Abs. 3 StGB). Das Verfassungsgericht hielt es jedoch mit Blick auf den Schutz des Ungeborenen für inakzeptabel, Fristenabbrüche per se als nicht rechtswidrig einzustufen, wenn – das ist der springende Punkt der Beratungslösung – die Gründe der abbruchswilligen Schwangeren nicht mehr von anderen geprüft werden, wie das früher bei der sogenannten sozialen Indikation der Fall gewesen war.
Was das Verständnis der sodann erfolgten und nach wie vor gültigen Regelung so schwierig gestaltet, ist die rechtsdogmatisch außergewöhnliche Konstruktion, nach der ein fristgerechter, von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommener Abbruch nach erfolgter Beratung überhaupt nicht den Tatbestand des Strafgesetzes (§ 218a Abs. 1 StGB) erfüllt. Und weil dies schon auf der ersten Deliktsstufe feststeht, stellt sich strafrechtlich gar nicht mehr die Frage nach dem Vorliegen einer Rechtswidrigkeit. Denn wenn die Schwangere sich in den ersten zwölf Wochen nach Empfängnis hat beraten und den Abbruch in diesem Zeitraum hat durchführen lassen, liegt überhaupt kein straftatbestandsmäßiges Verhalten vor. Es ist also nicht so, dass die Schwangere bei einem solchen Abbruch eine Straftat beginge, die dann nicht verfolgt wird, sondern ein fristgerechter Schwangerschaftsabbruch nach Beratung wird vom Gesetzgeber überhaupt nicht als Straftat beschrieben! Der so erfolgte Schwangerschaftsabbruch stellt folglich keine kriminelle Handlung der Frau dar, weshalb von einer „Kriminalisierung der Frau“ (eigentlich) keine Rede sein darf.
Von Interesse ist an dieser Stelle (auch mit Blick auf die anderen Abbruchsgründe wie Gefährdung der Mutter und nach einer Vergewaltigung), dass ein strafrechtliches Unwerturteil (Strafunrecht) erst zu fällen ist, wenn der Straftatbestand verwirklicht wurde und kein Rechtfertigungsgrund (hier insbesondere § 218a Abs. 2/3 StGB) vorliegt. Zum Vergleich: Mit jedem (auch heilenden) Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ihrer Patient/innen verwirklichen Ärzt/innen tagtäglich den Straftatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB), doch setzen sie hierbei kein Strafunrecht, weil ihre Handlung durch die informierte Einwilligung der Patient/innen gerechtfertigt ist. Ebenso setzen Strafrichter/innen und Strafvollzugspersonal kein Strafunrecht, wiewohl sie mit jedem Freiheitsentzug den Straftatbestand der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) setzen, was jedoch seine Rechtfertigung im Strafprozess- und Strafvollzugsrecht findet. Soweit das Bundesverfassungsgericht ausführt, dass der fristbemessene Schwangerschaftsabbruch im Regelfall rechtswidrig sei, bildet sich das gerade nicht im Strafrecht ab (weshalb insofern auch keine Strafrechtswidrigkeit vorliegt), sondern stattdessen im Sozialrecht. Dem Bundesverfassungsgericht genügte nämlich für die Benennung als Unrecht, dass keine Kostenerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung erfolgt (vgl. näher § 24b SGB V). Wie oben bereits erwähnt, ist folglich sachlich unzutreffend, dass es im geltenden Strafrecht vordringlich um eine „Kriminalisierung“ der Frauen ginge (wie das allerdings seit den Anfängen des StGB von 1870/71 lange Zeit der Fall war). Denn erfolgt der Abbruch fristgerecht nach Beratung, ist nach Gesagtem nicht einmal (!) der Tatbestand einer Straftat verwirklicht.
Das immer wieder anzutreffende Missverständnis, der fristgerechte Schwangerschaftsabbruch sei „rechtswidrig, aber straflos“, mag also zum einen darauf zurückzuführen sein, dass hier frühere rechtliche Regelungen mitschwingen, zum anderen ist es durchaus nicht ungewöhnlich, eine Handlung als Strafunrecht zu erfassen, bei der jedoch unter bestimmten Bedingungen auf eine Bestrafung verzichtet wird. Beim Schwangerschaftsabbruch gilt das etwa dann, wenn sich die Schwangere hat beraten lassen, der Abbruch jedoch nicht fristgerecht, aber noch binnen 22 Wochen post conceptionem erfolgt (§ 218a Abs. 4 StGB), weshalb sich in solchen Säumnisfällen allein der Arzt oder die Ärztin strafbar macht. Hier, das heißt in diesen (!) Fällen, ist dann die vielbemühte Floskel „rechtswidrig, aber straflos“ sachlich zutreffend, weil es sich um einen persönlichen Strafausschließungsgrund für die Schwangere handelt. Denn infolge der Fristsäumnis liegt tatsächlich ein rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch vor, auch wenn er (nur) für die Schwangere straflos bleibt. Mit dem fristgerechten Abbruch nach Beratung gemäß § 218a Abs. 1 StGB hat das aber nichts gemein, weil dort nicht einmal ein Straftatbestand verwirklicht wird. Dieser gravierende Unterschied im Strafrecht wird jedoch immer wieder übersehen beziehungsweise nicht bedacht.
Gleichwohl ist zu sehen, dass das öffentliche „Framing“ der allzu komplizierten Regelung des § 218 StGB ein anderes ist. Denn es ist nicht zu verkennen, dass allein schon der Name „Paragraf 218“ infolge seiner misogynen Historie geradezu „begrifflich vergiftet“ ist und sofort die unterschiedlichsten Assoziationen erweckt. Es wird zu diskutieren sein, ob und wie dies durch eine eventuelle Novellierung der §§ 218 ff. StGB besser gestaltet werden könnte. Für die Diskussion bleiben weiterhin viele kontroverse Themen, wie die von einigen geforderte Übernahme der Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass die derzeitige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs mit Blick auf die Schwangere nicht deren Bestrafung im Blick hat, wie dies von manchen behauptet wird. Dass jedoch die komplizierte und ungewöhnliche rechtsdogmatische Lösung auch nach drei Jahrzehnten ihres Bestehens weiterhin für breites Missverständnis sorgt, das ständig wiederholt wird, sollte durch eine verständlichere Formulierung im Zuge einer etwaigen Neuregelung allemal mitbedacht werden.
Bernhard Kretschmer ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Kurt W. Schmidt ist Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und nebenamtlicher Studienleiter für Medizin & Ethik an der Evangelischen Akademie Frankfurt.
Eine Ode an die Menschlichkeit
Oder wie Mads Mikkelsen in „King’s Land“ die Jütländer Heide urbar macht
Von Dr. Margrit Frölich
im Juni 2024
Nichts erregt so viel Wut, Empörung und Abscheu, wie wenn man einem grausamen Herrscher dabei zusehen muss, wie er unangefochten seine Macht missbraucht, foltert, mordet, sexuelle Gewalt ausübt. Je erbarmungsloser der Tyrann, desto sehnlicher der Wunsch nach guten Mächten, die rettend eingreifen und den Übeltäter außer Gefecht setzen. Im Kinofilm darf man auf ausgleichende Gerechtigkeit hoffen, die dem bösen Treiben ein Ende bereitet. Im echten Leben hingegen sieht das anders aus. Genau diese Gefühlswelten berührt „King’s Land“, der neue Film des dänischen Regisseurs Nikolaj Arcel, der am 6. Juni in die deutschen Kinos kommt. Packend erzählt, zieht das bildgewaltige Historiendrama, das auf einem Roman der dänischen Autorin Ida Jessen beruht, das Publikum von Anfang bis Ende in seinen Bann.
„King’s Land“ schildert den brutalen Antagonismus zwischen Mächtigen und Untergebenen im Zeitalter des Absolutismus, das Kräfteringen des Menschen angesichts der gewaltigen Natur. Mit seinen eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen und dem Widerstreit zwischen Gut und Böse erinnert der Film an das klassische Westerngenre. So wie die europäischen Siedler, die den amerikanischen Westen besiedelten und urbar machten, in der neuen Welt „The Promised Land“ (so der internationale Verleihtitel des Films) erblickten, das Gott einst Abraham versprochen hatte, so ist für den Protagonisten Ludvig Kahlen die unbesiedelte Jütländer Heide das gelobte Land, von dem er sich eine bessere Zukunft verspricht (ohne dass er dafür eine indigene Bevölkerung ausrotten muss).
Zum starken Eindruck des Films trägt insbesondere die großartige schauspielerische Leistung von Mads Mikkelsen bei. Anders als etwa in „Casino Royale“ verkörpert er hier zur Abwechslung einmal keinen Bösewicht. Seine Rolle, die des ehemaligen Hauptmanns Ludvig Kahlen, ist die eines willensstarken, wortkargen Mannes, der standhaft und entschlossen ist. Redlich ist er, aber nicht fehlerfrei. Kahlen folgt dem Aufruf des dänischen Königs, die wilde Heide Jütlands zu kultivieren und zu besiedeln. Wir schreiben das Jahr 1755. Während das Siedlungsprojekt vonseiten des Königs bevölkerungspolitisch motiviert ist, dem Land Zivilisation und dem dänischen Hof mehr Steuern eintragen soll, sind Kahlens Motive persönlicher Natur. Angetrieben wird er von dem Versprechen des Königs, ihm den Adelstitel zu verleihen, wenn es ihm gelingen sollte, das Gebiet fruchtbar zu machen. Er will damit den Makel seiner Geburt wettmachen. Kahlen wurde als Sohn eines adligen Vaters und einer Dienstmagd geboren, als unehelicher „Bastard“ (der dänische Filmtitel, „Bastarden“, spielt darauf an) vom eigenen Vater verleugnet, sodass ihm mit Ausnahme des Militärs sämtliche Türen sozialer Anerkennung verschlossen blieben.
Den Kampf gegen die Natur und die Zwänge der absolutistischen Gesellschaft hat Kahlen sich zum Ziel gesetzt. Doch sein Unterfangen scheint aussichtslos, denn spröde und unwirtlich ist die Jütländer Heide. Nicht nur die rauen Winter stehen seinem Vorhaben im Wege, auch Wölfe und Räuber machen das Leben in der Ödnis gefährlich. Sein eigentlicher Widersacher aber ist der regionale Landbesitzer Frederik De Schinkel, der glaubt, die Heide gehöre ihm allein. Mit allen Mitteln versucht der gewissenlose Tyrann, Kahlens Vorhaben zum Scheitern zu bringen. Sogar die anderen Landbesitzer der Region kann er auf seine Seite ziehen. Gemeinsam versuchen sie, den lästigen Konkurrenten aus der Heide zu vertreiben und so den regionalen Einfluss des Königs einzudämmen. Denn das Land, das Kahlen kultivieren und besiedeln will, gehört dem König.
Die Säcke mit Kartoffeln, die Kahlen sich aus Deutschland schicken lässt, hütet er wie einen kostbaren Schatz. Er hofft, dass die anspruchslosen Knollengewächse auf dem trockenen Sandboden gedeihen werden. Doch es fehlt ihm an Geld, um die Hilfskräfte bezahlen zu können, auf die er dringend angewiesen ist. Die einzigen Personen, die sich ihm zunächst anschließen, sind der Pfarrer Anton Eklund, der davon träumt, in der Heide die erste Kirche zu errichten. Außerdem die Dienstmagd Ann Barbara und ihr Mann Johannes. Beide sind aus den Diensten De Schinkels geflohen, der berüchtigt dafür ist, wie schlecht er seine Untergebenen behandelt. Werden sie entdeckt, drohen ihnen Strafe und Tod. So muss Kahlen erleben, wie der entlaufene Knecht von De Schinkels Handlangern verhaftet und auf Befehl des skrupellosen Herrschers zur Strafe mit siedend heißem Wasser übergossen wird. Menschlichkeit und Recht sind Fremdwörter für De Schinkel. Er kennt kein Gewissen und glaubt, dass menschliches Handeln vom Prinzip Chaos gesteuert werde, derweil er nur allzu gern der bewusstseinstrübenden Kraft des Alkohols zuspricht.
Zwischen Ann Barbara und Kahlen, der ursprünglich ein Auge auf De Schinkels selbstbewusste Cousine geworfen hatte, entfaltet sich allmählich ein romantisches Verhältnis. Als dann das Roma-Mädchen Anmai Mus zu der kleinen Truppe stößt, ist die modern anmutende Patchworkfamilie komplett. Die Kleine ist es auch, die nach einem eisigen Frost den einzigen grünen Sprössling einer Kartoffel im Sandboden entdeckt, der überlebt hat.
Die aufgegangene Saat führt schließlich dazu, dass Kahlen eine Gruppe Siedler aus Deutschland gesandt wird, die ihn dabei unterstützen sollen, das Land fruchtbar zu machen. Tatkräftig stürzen sie sich in die Arbeit. Das Thema Rassismus taucht auf, als die Siedler sich wegen des Rotwelsch sprechenden Mädchens weigern, bei Kahlen zu bleiben. Abergläubisch beharren sie darauf, dass das Mädchen von Dämonen besessen sei. Sie drohen Kahlen damit, sich aus dem Siedlungsprojekt zu verabschieden, falls er Anmai Mus nicht wegschickt. Unter dem Druck der Siedler muss Kahlen sich zwischen Pest und Cholera entscheiden, denn ohne die Siedler kann er sein Ziel nicht erreichen. Indem er das Mädchen wegschickt, das ihm wie eine Tochter nahesteht, verrät er seine menschlichen Werte. Am Ende des Films weiß Kahlen sich jedoch wieder auf seine Humanität zu besinnen. Zwar gelingt ihm nicht alles, wie es soll, aber er bekommt die Gelegenheit, sein menschliches Versagen zu korrigieren. Doch welche Courage es verlangt, einen grausamen, gewissenlosen Herrscher zu bezwingen, stellen in „King’s Land“ nicht allein der geläuterte männliche Held, sondern in letzter Instanz die Frauen unter Beweis.
Die Evangelische Filmjury hat „King’s Land“ zum Film des Monats Juni gewählt.
Sag doch einfach mal „Ich weiß es nicht“
Überleben in der BANI-Welt
Von Annette Lorenz
im Mai 2024
Genau vor einem Jahr schrieb ich an dieser Stelle über den sperrigen Begriff der Ambiguitätstoleranz. „Dunkel war’s, der Mond schien helle“, so begann der Text. Widersprüche, die in meinem Alltag und auf der großen Weltbühne nur schwer auszuhalten waren, bewegten mich zu meinen Ausführungen. Wie gehen wir mit Widersprüchen um? Warum fällt es uns so schwer, Widersprüche stehen zu lassen, warum versuchen wir so schnell, sie wegzuharmonisieren oder einseitig Position zu beziehen? Welche problematischen Ordnungssysteme, die Menschen in Gruppen sortieren und hierarchisieren, haben sich über Jahrhunderte etabliert, um die Welt versteh- und händelbar zu machen?
Mein Welterleben ist seit dem vergangenen Jahr nicht widerspruchsfreier geworden. Genauso wenig wie Ihres, nehme ich an. Widersprüchliche Anforderungen an meine Rollen als Bürgerin, Demokratin, Konsumentin, Kollegin, Mutter und so weiter fordern mich. Und nicht allein all das Widersprüchliche, sondern die schiere Unüberschaubarkeit der drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen fordert mich an so manchen Tagen heraus.
Der US-amerikanische Zukunftsforscher und Autor Jamais Cascio hat 2020 in seinem Artikel „Facing the Age of Chaos“ als Zustandsbeschreibung unserer Welt das Akronym BANI geprägt. Damit löste er das in den Achtzigerjahren als Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Akronym VUCA ab. Während VUCA die Welt als Volatil, Unsicher, Komplex und Ambivalent beschrieb, will BANI die noch komplexere Gegenwart beschreiben. Der Begriff findet vor allem in der Wirtschaft Anwendung. Wofür stehen die Buchstaben B-A-N-I?
Brittle (dt. brüchig)
Spröde, poröse und morsche Gegenstände ohne Elastizität brechen. Unflexible Systeme halten den Belastungen des schnellen Wandels nicht stand. Sie mögen nach außen noch stark wirken, im Inneren sind sie aber abgenutzt. Eine unvorhergesehene Krise kann zu plötzlichem Versagen führen. Brüchigkeit nicht nur in einem System, sondern in vernetzten Zusammenhängen kann schwere, globale Folgen haben. Brittle steht für eine Stärke, die nur noch in der Illusion existiert und längst der Vergangenheit angehört.
Anxious (dt. ängstlich)
Der innere Sensor Angst zeigt uns, wenn unser Bedürfnis nach Sicherheit verletzt wird. Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass Wandel unvorhersehbar ist und Krisen plötzlich über uns hereinbrechen. Angst senkt unsere Risikobereitschaft und bezieht sich hier insbesondere auf die Sorge vor falschen Entscheidungen – oder auf die Furcht, mit jeder Entscheidung, deren Folgen wir nicht abschätzen können, eine Katastrophe auszulösen. Diese Angst kann in Verzweiflung und Passivität treiben. Die Schnelllebigkeit der von Algorithmen bestimmten Medien und die auf Negativbotschaften fokussierte Medienwelt verstärken dieses Gefühl noch.
Non-linear (dt. nicht linear)
Nonlinearität bedeutet, dass in der enormen Komplexität unserer Welt mit ihren vielfältigen, globalen Wechselbeziehungen einfache Kausalitäten von Ursache und Wirkung nicht mehr identifiziert werden können. Welche Reaktion eine Aktion hervorruft, ist nicht vorhersehbar. Maßnahmen können in keinem erkennbaren oder vorhersehbaren Verhältnis zum Ergebnis stehen. Kleine Aktionen können massive Folgen haben, große Aktionen ins Leere laufen und so weiter.
Incomprehensible (dt. unverständlich)
Verstehbarkeit gibt Orientierung und Klarheit, sie hilft uns, in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels resilient zu bleiben. Doch Ereignisse wie beispielsweise große Unwetterkatastrophen, die auf mannigfaltige Ursachen hinter der Klimaveränderung zurückzuführen sind, sind häufig nicht mehr nachvollziehbar. Ebenso wie viele Entscheidungen in Politik und Wirtschaft. Entweder weil die Ursachen zu weit in der Vergangenheit liegen oder zu komplex sind, um sie zu durchdringen. Verstärkt wird die Unsicherheit durch die Informationsflut, der wir täglich ausgesetzt sind. Die Welt wird zu einem immer unbegreiflicheren Ort.
Zusammenfassend steht BANI dafür, dass heutige Probleme weder einfach sind noch kompliziert oder komplex, sondern chaotisch.
Jamais Cascio gibt uns mit BANI ein Wort für unser Welterleben und hilft, die Herausforderungen der Zeit besser zu verstehen. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung, das wir Menschen teilen – der eine mehr, die andere weniger – wird in dieser BANI-Zeit massiv herausgefordert. Unser Hirn liebt Muster und Strukturen, nun sollen wir im Chaos klarkommen. Zunehmend beobachten wir deswegen in letzter Zeit, dass globale Zusammenhänge vereinfacht werden, die Welt in verstehbare Einzelstücke sortiert wird und der Ruf nach Menschen, die sagen, wo’s langgeht, lauter wird. Populisten und Verschwörungsideologinnen machen sich dieses Bedürfnis zu eigen. Mit einer willkürlichen Einteilung in nationalistische Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit und mit plakativen Antworten auf komplizierte Fragen unserer Zeit versuchen sie Wählerstimmen zu erhaschen und Macht zu gewinnen. Verschwörungserzählungen grassieren, in denen postuliert wird, dass es für komplexe Zusammenhänge vermeintlich einfache Erklärungen gäbe. Sie greifen ausschließende und rassistische Ideologien auf, identifizieren meist schuldige „Eliten“ und befeuern damit antisemitische Narrative.
Unsere Wissensbestände und Wege der Informationsbeschaffung sind unzureichend, um Ursache und Wirkung im überkomplexen Gefüge der Weltzusammenhänge in der Tiefe zu durchdringen. Populistische und ideologisch motivierte Antworten führen in die Irre und drohen unsere Demokratie von innen zu zerstören. Deswegen ist ein Umdenken bitter nötig. Im Umgang mit der Erkenntnis unserer eigenen Unzulänglichkeit liegt der Schlüssel zum (Über-)Leben in der BANI-Welt.
Das Eingeständnis „Ich weiß es nicht“ sollte nicht als Blamage oder Kapitulation gewertet werden. Im Gegenteil. Wer angesichts von Informationsflut, Schnelllebigkeit und Komplexität innehält und das eigene Unvermögen eingesteht, dem öffnen sich Türen. Wer eingesteht, nicht den Durchblick zu haben, muss Kommunikation wagen, statt auf der eigenen Position zu verharren. In meiner idealen Welt sagen Menschen in Entscheidungs- und Machtpositionen öfter mal: „Ich weiß es nicht“ oder „Lass mich erst mal in Ruhe darüber nachdenken“, statt immer so zu tun, die richtige Meinung oder passende Lösung schon parat zu haben, bevor sie überhaupt das Problem durchdrungen haben. Man darf Lösungswege ausprobieren und eingestehen, falls man falsch gelegen hat, ohne dafür Statusverlust zu riskieren. Die Gemengelage, durch die wir uns zu navigieren haben, ist so überkomplex, dass es nicht die eine richtige Antwort gibt – neue Wege müssen erst ausprobiert und vielleicht auch wieder verworfen werden. Diese Flexibilität hilft uns mit der Nonlinearität der Welt und den unvorhersehbaren Folgen unseres eigenen Handelns umzugehen und uns an unerwartete Ereignisse anzupassen. Auf der Suche nach neuen Wegen lernen wir genauer hinzuschauen und zuzuhören. Wir suchen Antworten bei Menschen und an Orten, die nicht nur das bestätigen, was wir immer schon wussten und meinten, sondern die uns infrage stellen und herausfordern. Der Brüchigkeit vermeintlicher Stärke durch Autorität und vor sich hergetragene Kompetenz setzen wir echte Stärke durch Authentizität, Flexibilität und Ehrlichkeit entgegen. Wege der Entscheidungsfindung werden transparent kommuniziert, Überforderung wird mit Lockerheit und Einfühlungsvermögen begegnet.
Gerade in politischen Aushandlungsprozessen hat sich in den vergangenen Jahren eine schnelle Form der Meinungsbildung etabliert: „Ich bin dafür oder dagegen.“ Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der Kommunikationsstil der digitalen Welt. Wir sehen ein Reel, eine Musikfolge, ein Gesicht – und müssen als Konsumenten und Konsumentinnen schnell entscheiden, wie wir uns dazu verhalten. Like oder Dislike? Swipe ich links oder rechts? Gesellschaftspolitische Aushandlungsprozesse brauchen aber unsere Fähigkeit, auf Zwischentöne zu hören. Sie brauchen unsere Fähigkeit, Fakten zusammenzutragen, zu analysieren, verschiedene Standpunkte anzuhören. Dafür brauchen wir Zeit statt schneller Urteile. Kommt es zu Auseinandersetzungen unterschiedlicher Positionen, brauchen wir neben Respekt, Vernunft und faktenbasierter Argumentation klare Spielregeln und Grenzen. So wie sie uns das Grundgesetz mit seiner Orientierung an der Würde jedes Menschen vorgibt. Interessant ist es, sich selber einmal bei der eigenen Meinungsbildung zu beobachten: Wie kommen meine Überzeugungen zustande? Welche Prägungen, medialen Erfahrungen und soziale Einflüsse spielen in meinem Leben eine Rolle?
Eine solche Haltung der Besonnenheit bedeutet harte Arbeit. Wir sind alle dazu aufgefordert, an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen mitzuwirken. Weil mein Wissen nicht ausreicht und ich keine Lösungen parat habe, brauche ich das Zusammendenken, Visionieren und auch Streiten mit anderen Demokratiegetreuen. Diese Auseinandersetzungen sind anstrengend, manchmal müßig, manchmal inspirierend. Mir macht es Hoffnung, den Verunsicherungen und Ängsten gemeinsam zu trotzen.
- Cascio, Jamais: Facing the Age of Chaos. Medium, 29.4.2020.
- Mattenberger, Matthias M.: Was bedeutet BANI? Hochschule für Wirtschaft Zürich, 27.10.2021.
- Mauritz, Sebastian: BANI statt VUCA – Die neue Welt. Resilienz Akademie, 19.2.2021 (aktualisiert 28.12.2023).
- Wolfram, Gernot: Protest und Grenzen des Protests. Wie neue populistische Strategien die Demokratie in Frage stellen. In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenbildung 1/2024. S. 24–31.
Wer hat Angst vor TikTok?
Oder: Was uns die KI über Ostern sagt und umgekehrt
Von Dr. Stina Kjellgren
im April 2024
„Chatbot verbreitete Falschinformationen zu Landtagswahlen“, „TikTok spielt ,toxische‘ frauenfeindliche Videos an männliche Teenager aus“, „TikTok radikalisiert Nutzer Studie zufolge ‚über Nacht‘“ – so lauten Schlagzeilen zu aktuellen Studien, die künstliche Intelligenzdienste und das immer erfolgreichere soziale Netzwerk TikTok unter die Lupe genommen haben. Leben wir wirklich in „the knowledge age“ – dem Wissenszeitalter – oder verkommen wir immer mehr zur „Desinformationsgesellschaft“? Ist es alarmistisch, sich solche Fragen zu stellen? Ein Zeichen dafür, dass man langsam alt wird? Oder beschäftigen diese Überlegungen auch junge Menschen? Machen sich die Digital Natives um ihre Heimat im Netz Sorgen?
Neulich traf sich eine Gruppe junger Leute in der Akademie, um Themen für ein Konferenzformat zu brainstormen, das sich an ihre eigene Altersgruppe richten soll. Als Vorbereitung hatten wir die Jugendlichen darum gebeten, einige Überschriften, Posts, Videofeed-Beiträge oder Fragen aus ihren (sozialen) Medien oder ihrem Alltag mitzubringen. Sachen, die ihnen ins Auge gefallen sind; die sie beschäftigen, stören oder bewegen. Natürlich gab es eine Bandbreite solcher Themen (Klimakrise, Rechtsextremismus, Armut …), erstaunlich oft kamen wir im Gespräch aber auf das Thema TikTok und KI zurück. Darauf, was für eine (Des-)Informationsflut es online gibt. Ob und wann Chatbots eine Hilfe sind. Was das alles für die Gesellschaft, unseren Zusammenhalt und die Demokratie heißt.
Eigentlich wundert es mich kaum. Laut der neuesten JIM-Studie verbringen 12- bis 19-Jährige durchschnittlich 213 Minuten pro Tag vor dem Smartphone-Bildschirm. Das sind ca. 3,5 Stunden. Über das Endgerät wird kommuniziert, konsumiert, recherchiert – kurz gesagt, gelebt. Es geht um Beziehungen, Freunde, Familie, Musik, Selbstdarstellung, Schule, Nachrichten, neue Trends, Politik, Hobbys, Unterhaltung, Information, Freizeitgestaltung, Tagebuch, Tickets, you name it. Gleichzeitig entgeht den Jugendlichen nicht, dass es auch Probleme und Kehrseiten gibt. In der JIM-Studie bewerten sie ihre eigene Onlinepräsenz zum Teil kritisch. Sie merken, dass sie länger am Smartphone hängen, als sie eigentlich möchten. Sie kriegen Beleidigungen mit oder spüren den Druck, ein perfektes Bild von sich abzugeben und unrealistischen Schönheitsstandards zu entsprechen. Auch Hatespeech, Desinformation, extremistische Ansichten und Verschwörungstheorien sind ein Thema. Es beunruhigt sie, was für einen Einfluss Algorithmen auf ihre Meinungsbildung haben; dass versucht wird, auf ihr Verhalten einzuwirken. Und sie wundern sich darüber, was online gerade trendet und viral geht – zum Teil der reinste Schrott.
„Ich bin froh, dass TikTok nicht so populär war, als ich 14/15 war“, sagt jemand im Raum, den ich auf gerade einmal 19 Jahre schätze. Wenn ich mir die eingangs erwähnten Studien anschaue, kann ich seine Position durchaus nachvollziehen. In der New York Post war kürzlich von einer britischen Studie zu lesen, über die in Deutschland kaum berichtet wurde. Die Forschenden kreierten dabei TikTok-Konten, die den Profilen typischer Jungs und junger Männer entsprechen sollten. Sie gaben Interessen wie Training, Aussehen, mentale Gesundheit, Männlichkeit und Dating-Tipps an, bei einigen Profilen auch Themen wie Einsamkeit und Neurodiversität sowie negative Einstellungen zur Gesellschaft und zum Establishment. In der „Für dich“-Sektion, wo TikTok den Nutzern Inhalte präsentiert, die sie laut Algorithmen interessieren könnten, wurde daraufhin in kürzester Zeit frauenfeindlicher Content ausgespielt. Um genauer zu sein: Er vervierfachte sich innerhalb von fünf Tagen. Von anfangs noch empathisch gestimmten Inhalten in den Videos, die den „einsamen“ männlichen Nutzern angezeigt wurden, ging es schnell über zu aggressiven Beiträgen: Wut gegenüber Frauen und Mädchen, die für die Einsamkeit von Männern angeblich verantwortlich sind. Misogynie pur.
In einem ähnlichen Experiment haben Mitarbeiterinnen der Bildungsstätte Anne Frank kürzlich künstliche TikTok-Accounts angelegt, um „Für dich“-Beiträge nach dem Terroranschlag in Israel am 7. Oktober zu beobachten. Sie gaben entsprechende Suchbegriffe ein und analysierten die ersten drei Videos, die ihnen dazu angezeigt wurden. Das Fazit ist schockierend: Junge Menschen bekommen auf TikTok entweder Informationen „von tendenziell antisemitischen Verschwörungstheoretiker*innen oder von einer überwiegend rechtsextremen Partei“ zu sehen. Zum Teil enthielten die Videos Bruchteile echter Informationen zum Gazakrieg, die aber neu – als Bestandteile von Verschwörungstheorien – geframt wurden. Es gab keine Kennzeichnung von „höherwertigen“ Accounts (etwa für Bildungszwecke), keine Warnung vor Fehlinformationen. Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht Deborah Schnabel, eine der Autorinnen der TikTok-Studie, von terrorverharmlosendem Content und einer Radikalisierung der Jugendlichen „über Nacht“.
All diesen Berichten über TikTok zufolge ist die gerade mal sechs Jahre alte App aus China, die der amerikanische Kongress in den USA jetzt sogar verbieten will, nicht zu unterschätzen. Inhalte, die bisher nur auf Incel-Seiten zu finden waren, tauchen unaufgefordert in den Handys von Jugendlichen auf. Beim Gazakrieg wird das Weltgeschehen wie ein beliebiges Handyspiel verhandelt. Zu allen Behauptungen gibt es vermeintliche Bildbeweise. Welche Bilder echt und welche gefälscht sind, sieht man aber nicht. Hochwertig verpackte und unterhaltsame Videos können mehr oder weniger extreme Ansichten beinhalten, ohne dass es den Jugendlichen auffällt. Im Endeffekt werden Misogynie, Rassismus und Antisemitismus normalisiert; sie sind Erklärungsangebote neben anderen. In Deutschland nutzt übrigens keine Partei TikTok intensiver als die AfD. Sie betreibt sechs der zehn erfolgreichsten Politiker-Accounts auf TikTok, Alice Weidel allein hat mehr als dreimal so viele Follower wie alle Abgeordneten der Ampelfraktionen zusammen.
Da fühlt es sich fast harmlos an, wenn man sich mit Chatbots befasst und liest, dass eine KI-Suchmaschine Unsinn über Hubert Aiwanger ausgegeben hat. So what, möchte man fast sagen – denn zur politischen Information taugen Chatbots auch nicht, wie eine Untersuchung von AlgorithmWatch gezeigt hat. Wenigstens entschuldigt sich ChatGPT-3.5 höflich bei mir, wenn ich mich in unserem Austausch darüber beschwere, dass es Nonsens ausspuckt, und gibt zu, dass sein Trainingsdatenset zu alt ist, um über aktuelle Ereignisse Auskunft zu geben. So erfrischend ehrlich! (Klar verflüchtigt sich dieser Eindruck von Harmlosigkeit, wenn man sich näher mit der Materie befasst. Aber diesem Thema widmen wir uns ein andermal.)
Was mir momentan durch den Kopf geht, ist die Diskrepanz zwischen dem, worauf uns diese Untersuchungen hinweisen, und den Anfängen des Internets. Erinnern Sie sich noch an die Hoffnungen und Erwartungen, mit denen das Abenteuer losging? Wie das World Wide Web als Plattform für den freien Austausch von Ideen aus aller Welt imaginiert wurde, mit dem „Potenzial, Wissen und Informationen für jeden zugänglich zu machen und so zur Aufklärung und Bildung beizutragen“ (Tim Berners-Lee). Oder wie es beim Informatiker Vint Cerf hieß: „Das Internet hat das Potenzial, die Kluft zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten zu überbrücken, indem es Bildung und Chancen für alle zugänglich macht. Es kann dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zu verringern und die Teilhabe an der globalen Gemeinschaft zu fördern.“
Viele dachten wirklich, dass das Internet nur eine aufklärende, ausgleichende und demokratisierende Rolle in der Gesellschaft spielen würde. Und das hat es auch getan, nur leider nicht überall und auch nicht ausschließlich. Zum einen gibt es große Unterschiede, wie viele Informationen in welcher Sprache zugänglich sind. Zum anderen sehen wir Herausforderungen, Probleme und Effekte, die wohl kaum intendiert oder vorherzusehen waren. Folgen, die einen auch mal mit Ohnmachts- und Verzweiflungsgefühlen erfüllen können. Und zwar nicht nur ältere Semester, die sich an eine Zeit vor dem Internet erinnern können, sondern auch junge Menschen, die zwar die Freiheiten und Möglichkeiten des Smartphones lieben, aber nicht alles, womit sie darüber in Kontakt kommen.
Welche positiven Aspekte gibt es? Wo sind die Visionen? Was kann uns Mut machen? Das waren Fragen, die bei unserem Brainstorming mit den Jugendlichen neulich nach und nach auf der Ideen-Pinnwand landeten. Wir befanden uns gerade in der Passionszeit, und ich musste daran denken, wofür das Osterfest steht, das danach kommt: für die Hoffnung und den Neuanfang nach der allerdunkelsten Zeit. Irgendwie war die Stimmung im Raum an diesem Tag, dass alles den Bach runtergeht und dass das aber nicht sein darf. Dass es etwas geben muss, was man/wir/die Menschheit dagegensetzen kann. Da war eine Sehnsucht nach Lösungen. Nach Sicherheit. Es wäre im übertragenen Sinne ja auch eine Art Wiederauferstehung, wenn das Internet doch noch das werden könnte, was wir uns früher davon versprochen haben. Aber geht das? Wie? Mich rührte vor allem, dass die jungen Erwachsenen sich Sorgen um die noch Jüngeren machten: ob sie wohl im Internet zurechtkommen, was ihnen guttun könnte, was unser Beitrag sein kann.
Noch wissen wir vielleicht nicht, wie, aber auf jeden Fall soll es bei dem Diskurs- und Bildungsangebot, das wir im Blick haben, um die Hoffnung gehen; um Beispiele, die uns Kraft geben, an einen Neuanfang zu glauben. Darum, dass wir nicht verzweifeln, wenn alles gerade dunkel aussieht. Sondern uns stattdessen erst mal umschauen: Ist alles wirklich so dunkel? Oder werden ein paar Ängste auch geschürt, weil es dann mehr Klicks gibt? Stehe ich wirklich allein da, oder ist jemand an meiner Seite? Gibt es nicht doch noch viel Wahlfreiheit, was ich tun oder lassen kann? Vielleicht werden wir zu unserer Jugendkonferenz ja jemanden einladen, der den weltweit ersten Chatbot gegen Diskriminierung mitentwickelt hat. Oder uns anschauen, wie die EU KI regulieren will. Oder diskutieren, was davon zu halten ist, dass TikTok auf verschwörerische Inhalte reagiert und den Account von AfD-Europawahlkandidat Maximilian Krah eingeschränkt hat. Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nur, dass es nichts hilft, zu verpönen, was junge Menschen online machen. Vielmehr müssen wir sie unterstützen, ihre digitale Welt zu reflektieren, zu verstehen und dann irgendwann selbst zu gestalten und besser zu machen.
Und so schließe ich mit der folgenden Aufforderung: „Möge das Osterfest uns daran erinnern, dass wir die Verantwortung tragen, eine Zukunft zu gestalten, in der KI zum Wohl der gesamten Menschheit eingesetzt wird. Möge es uns dazu inspirieren, die Versprechen der KI zu nutzen, während wir gleichzeitig die Gefahren im Blick behalten und mit Weisheit und Mitgefühl handeln.“ Von wem dieses Zitat ist? Na, von ChatGPT natürlich!
Macht Liebe!
Über eine Kraft, die sich Bahn bricht, und eine Grundhaltung für 2024
Von Dr. Annegreth Schilling
im März 2024
„Alles bei euch geschehe in Liebe!“ Das ist die Jahreslosung, das Motto für dieses noch junge Jahr 2024. Im Januar wurde ich in mein Amt als theologische Studienleiterin eingeführt. Pröpstin Sabine Bertram-Schäfer hat mir die Jahreslosung als Auftrag mitgegeben: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ (1. Korinther 16,14) In Kombination mit dem Halbjahresthema der Evangelischen Akademie „Macht“ entsteht daraus der Imperativ: Macht Liebe! Leicht zu merken, schwer umzusetzen. Denn Liebe lässt sich ja nicht verordnen. „Lieb mich doch mal“ – dieser Satz funktioniert einfach nicht.
Ich kann Liebe wünschen, erhoffen, mich danach sehnen, aber nicht mit Macht oder durch Willen erzwingen. Liebe ereignet sich; sie geschieht immer wieder, mitten in den Krisen und Konflikten dieser Zeit. Mal leise und fast ungesehen, mal lautstark und sichtbar. Sie kann eine Macht werden, die Dinge von Grund auf verändert. Die Macht der Liebe kennt keine Grenzen.
In diesen Tagen bin ich auf der Suche, wo sich die Macht der Liebe in der Arbeit der Evangelischen Akademie Bahn bricht.
Ich klicke in meinem Kalender die vergangenen Wochen durch und bleibe bei der großen Demonstration in Frankfurt am 20. Januar hängen. Ich werde mitgerissen von der Macht der Liebe auf dem Römerberg. 50.000 Menschen sind gekommen und füllen die Innenstadt mit Liebe, vom Eisernen Steg über den Römer bis zum Paulsplatz. Auf der Demo treffe ich Tristan und John wieder. Ich habe die beiden vor drei Jahren getraut. Das war eine sehr romantische Hochzeit, bei der das Schoßhündchen die Ringe zum Altar brachte. Heute auf der Demo hält Tristan ein Schild hoch, die Rückseite eines alten Pizzakartons. Darauf hat er mit Edding geschrieben: „Gegen Hass und Hetze“. Und daneben ein großes Herz. Tristan und John stehen für mich für die Macht der Liebe – vom Standesamt über ihre kirchliche Trauung bis hier zur Demokratie-Demo auf dem Römerberg. Sie stehen für eine offene und tolerante Gesellschaft. Für die Macht der Liebe, die das Leben in Vielfalt feiert.
Ich blättere im Akademiekalender zwei Wochen weiter und bleibe an einem Termin Anfang Februar hängen. Ein Netzwerktreffen von Menschen, die sich im geschützten Raum Gedanken darüber machen, wie wir auf die Folgen des Terrors vom 7. Oktober reagieren können. Jüdische, muslimische, christliche und andersreligiöse Perspektiven treffen hier aufeinander. Und das Motto der Jahreslosung wird in diesem Kontext auf die Probe gestellt. Denn zwar sind sich alle einig über das Ziel, etwas zur Verständigung und zum Frieden im Nahen Osten und hier bei uns beitragen zu wollen, doch ist der Weg zu diesem Ziel undefiniert. Wir gehen tastend voran, stolpern, laufen durch Dickicht, suchen nach Wegweisern für den Dialog in Zeiten des Krieges. Die Macht der Liebe erweist sich nicht darin, einander lautstark von der eigenen Position überzeugen zu wollen. Vielmehr zeigt sie sich darin, verschiedene Stimmen zu Wort kommen zu lassen, innezuhalten, ein paar Schritte zurückzugehen und gemeinsam neue Wege zu suchen.
Ich blättere wieder einige Wochen weiter, und mein Blick fällt auf das Akademie-Analysegespräch anlässlich der Veröffentlichung der Forum-Studie der EKD. Im Namen von Macht und falscher Liebe wurden über Jahrzehnte mindestens 2.225 Menschen innerhalb der evangelischen Kirche und Diakonie missbraucht. Das ist die „Spitze der Spitze des Eisberges“[1]. Die Studie umfasst 870 Seiten, und es wird Jahrzehnte brauchen, die Fälle wirklich aufzuarbeiten. Die Macht der Liebe ist hier klein und demütig: Sie kommt durchs Zuhören, durchs Hinsehen, dadurch, dass wir uns informieren. Die Macht der Liebe entsteht im Mitleiden mit den Geschichten von Menschen, die in der Vergangenheit Opfer sexuellen Missbrauchs und pastoraler Macht wurden. Die Macht der Liebe zeigt sich nicht in Harmonie, sondern in unserer Beharrlichkeit als Kirche, die Hausaufgaben zu erledigen: Personalakten zu durchforsten, Schutzkonzepte umzusetzen und zu kontrollieren und immer wieder die Perspektive der Betroffenen einzubeziehen.
Die Monate Januar und Februar waren in der Evangelischen Akademie voll mit Hinweisen auf die herausfordernde „Macht der Liebe“. Für mich zeigt sich darin eine neue Haltung, Liebe als Grundprinzip meiner Arbeit zu begreifen.
Im Neuen Testament hat Paulus der Gemeinde in Korinth ganz ausführlich beschrieben, wie er Liebe versteht:
„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf.“ (1. Korinther 13,4–8)
Diese biblischen Worte möchte ich nach diesem intensiven Jahresanfang neu ausbuchstabieren. Ich lese darin die Aufforderung, die Macht der Liebe zu aktualisieren. Für mich klingen dann die Worte des Paulus heute so:
Die Liebe ist vielfältig und bunt, sie feiert ihre Macht im Namen von Demokratie und Menschenrechten. Die Liebe ist grenzenlos und sucht den Frieden, sie öffnet Räume für Dialoge und Experimente. Die Liebe ist demütig, sie hört zu, sie klagt an, sie tröstet und spricht Wahrheit. Die Macht der Liebe hört nimmer auf.
- [1] Wazlawik, Martin et al.: Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Forum-Studie, 25.1.2024.
Aus großer Kraft folgt große Verantwortung
Spider-Man, Onkel Ben und die Frage, was Macht mit uns macht
Von Hanna-Lena Neuser
im Januar/Februar 2024
Die Tage rund um den Jahreswechsel sind bei uns zu Hause auch immer die Tage, an denen der eine oder andere Film geschaut wird. Neben Klassikern wie „Sissi“ braucht es dabei auch die etwas zeitgemäßere, „familienkompatible“ Variante. Dazu gehört für mich „Spider-Man“.
Die Geschichte brauche ich wahrscheinlich niemandem zu schildern. Spider-Man begeistert schon seit den Sechzigern Generationen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ein Held, der in jungen Jahren durch einen Spinnenbiss Superkräfte gewinnt. So weit das Fiktionale. Was weniger weit hergeholt ist, ist die in der Geschichte abgebildete Frage, wie der junge Peter Parker sich mit diesen Superkräften arrangiert. Wie er seinen Umgang damit findet und sich dabei nicht immer nur auf „der guten Seite der Macht“ bewegt. Die Geschichte beschreibt einen Lernprozess. Peter Parker muss – teilweise auf schmerzhafte Weise – lernen, wie er mit seiner Superkraft, wie er mit seiner Macht umgeht. Und er muss entscheiden, wie er sie nutzen will. Behilflich sind ihm dabei vor allem seine Tante und sein Onkel, die ihm Werte vermitteln, Vorbilder sind und die richtigen Fragen stellen. Weltberühmt ist der Satz, der zu Onkel Bens Vermächtnis an seinen außergewöhnlichen Neffen wird: „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.“
(Es ist wirklich schwierig, im Urlaub abzuschalten, wenn man in der politischen Bildung arbeitet. Ich kann noch nicht mal „Spider-Man“ schauen, ohne darüber nachzudenken, was sich daraus für den politischen Diskurs, für die Verhältnisse in unserer Gesellschaft ableiten lässt.)
Seitdem Menschen nicht mehr als Einzelgänger durch die Landschaft streifen – also schon ziemlich lange –, ist es notwendig, sich mit der Machtfrage zu befassen. Immer dann, wenn wir miteinander unser Leben gestalten – in der Familie, im Dorf, im Staat, im Büro, im Verein, selbst im Fußballstadion – überall müssen Machtverhältnisse ausgehandelt werden. Manchmal geschieht dies explizit, manchmal scheint die Machtverteilung einfach klar zu sein, ohne dass man sie groß thematisiert hätte.
Und fast genauso lange, wie es die den Menschen als soziales Wesen gibt, treibt ihn das Faszinosum der Macht um: Unzählige Denkerinnen und Dichter, Philosophinnen und Despoten, Musiker und Malerinnen, Wissenschaftlerinnen aus allen möglichen Disziplinen und Publizisten aller Art haben sich mit dem Gegenstand befasst. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Macht vom Philosophen Bertrand Russell als „Fundamentalbegriff in der Gesellschaftswissenschaft“ bezeichnet, so wie Energie für die Physik eine fundamentale Größe darstellt.[1] Gesellschaften ohne Macht sind nach dieser Beschreibung nicht vorstellbar. Und zunächst muss auch nicht entschieden werden, ob Macht „gut“ oder „schlecht“ ist – sie ist einfach da, sobald wir uns in irgendeiner Form von Sozialgefüge bewegen. Einige Personen üben auf ihr Umfeld mehr Einfluss aus, andere weniger.
Die Sozialwissenschaftlerin Melanie Misamer unterscheidet zwischen einer destruktiven und einer konstruktiven Macht.[2] Zu der Frage, ob Macht „gut“ oder „schlecht“ ist, führt sie das Bild eines Messers an, das sowohl Waffe als auch Werkzeug sein kann – es kommt auf die Anwendung an.[3] Macht „an sich“ ist neutral, ihr Gebrauch ist es nie.
Und da komme ich zu einem Punkt, den ich nicht nur für die politische Bildung, sondern auch für die großen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens wichtig finde. Wenn wir zwangsweise Macht brauchen, um unser gemeinsames Leben zu organisieren, welche Macht wollen wir dann? Und wie sollen Menschen ticken, die Macht über andere ausüben?
Von der christlichen Verantwortung für mich und meinen Nächsten her gedacht, kann ich mit Misamers Konzept der konstruktiven Macht viel anfangen: Hier wird Macht als etwas begriffen, das zum Wohle und Vorteil des Gegenübers angewendet wird. Es trägt den karitativen Gedanken in sich. „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ (1 Mose 12,2) Ein Segen für andere zu sein ist der Auftrag, den wir als Christinnen und Christen erhalten haben – und er gilt gerade für diejenigen von uns, die Positionen der Macht innehaben.
Fragen wir uns also zum neuen Jahr doch mal: Welche Macht besitze ich (gegenüber wem)? Und nutze ich meine Macht als Waffe oder als Werkzeug?
Melanie Misamer empfiehlt hierzu eine kritische Art der Selbstbefragung, die fünf Faktoren[4] in den Blick nimmt:
- den eigenen Status,
- mögliche Korrumpierungsmechanismen,
- das Eigenwirkpotenzial von Macht (das heißt, dass Macht schon wirkt, bevor sie überhaupt angewendet wird, Anm. HLN),
- unterschiedliche Wahrnehmungen der Machtanwendung je nach Standpunkt,
- sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung.
Was macht meine Macht? Ich glaube, dass es uns allen guttut, diese Frage ab und an zu stellen, egal ob wir in Kitas, an Schulen, in den Medien, in der Wissenschaft, in Behörden oder wo auch immer arbeiten. Auch Eltern und Großeltern stellen sich diese Fragen. Viel wäre gewonnen, wenn wir unsere Fähigkeiten und sozialen Verantwortlichkeiten gegenüber anderen als konstruktive Macht zum Ausdruck brächten – und unser Umfeld die gleiche konstruktive Macht auf uns ausübte.
Für Peter Parker alias Spider-Man ist genau das der entscheidende Faktor, der ihn zum Helden (und nicht Schurken) werden lässt. Dass er dennoch – über viele Comics und Filme hinweg – nie fertig ist mit der kritischen Reflexion seiner Rolle, dass er mit sich ringt, sein Kostüm oft sogar an den Nagel hängen will und es dann doch wieder anzieht, weil er begreift, dass es falsch wäre, sich seiner Verantwortung zu entziehen – das macht ihn zu einer Person, auf die sein früh gestorbener Onkel Ben mächtig stolz wäre.
Welche Bilder sind dem Menschen zumutbar?
Israel. Der Überfall der Hamas. Die Bilder.
Von Dr. Margrit Frölich
im Dezember 2023
„Fotografien sind Monumente“, schreibt der niederländisch-amerikanische Kriegsfotograf Peter van Agtmael auf seiner Webseitenpräsenz bei der New Yorker Fotoagentur Magnum. Kürzlich fiel mir ein Foto von ihm auf, das am 19. Oktober im „New Yorker“ erschienen ist. Darauf ist eine Kinderschaukel zu sehen, deren aus Plastik geformter Sitz in den drei Primärfarben leuchtet. Die Schaukel baumelt an schweren Tauen verankert von der Decke eines verwüsteten, menschenleeren Raums. Der Boden ist mit Trümmern übersät, ein Stuhl mit orangefarbenem Sitzpolster liegt umgeworfen dazwischen, massive Einschusslöcher haben das Mauerwerk des Raums beschädigt. Das Foto dokumentiert ein verlassenes Schlachtfeld. Die Schaukel ist das einzige bleibende Zeichen dafür, dass hier einmal menschliches Leben blühte.
Das Foto ist der Reportage von Ruth Margalit über die Zerstörung des israelischen Kibbuz Be’eri vorangestellt. Hamas-Terroristen hatten am 7. Oktober die nahe der israelischen Grenze zum Gazastreifen gelegene Siedlung überfallen und viele der Bewohner massakriert, gefoltert und entführt. Tausende Menschen wurden an diesem Tag an mehreren Orten im Süden Israels verwundet, geschlagen, vergewaltigt und ermordet. 239 Geiseln wurden in den Gazastreifen entführt. Die Schilderungen der Überlebenden, mit denen die Autorin der Reportage sprach, vermitteln einen erschütternden Eindruck des grausamen Geschehens. Die Bilder dieses blutrünstigen Gewaltexzesses der Hamas, die im Internet kursieren, habe ich mir nicht angesehen.
Horrorvideos für die Propaganda
Mit Bodycams ausgestattete Hamas-Terroristen haben ihre Gewaltakte und die Erniedrigung ihrer Opfer aufgenommen, die Bilder in den sozialen Medien veröffentlicht und sie manchen Angehörigen der Opfer sogar direkt auf deren Handys geschickt. Furcht und Schrecken sollten damit ausgelöst und der eigene Triumph durch die Bilder besiegelt werden. Wie in etlichen Kommentaren hervorgehoben wird, ist hier ein neues Phänomen erkennbar. Im Unterschied etwa zu den Nazis versuchten die Täter des 7. Oktober nicht, ihr an der israelischen Zivilbevölkerung begangenes Verbrechen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Ganz im Gegenteil. Sie wollten ihre mörderische Gewalt mit den Mitteln der modernen medialen Kommunikation öffentlich zur Schau stellen. Ähnlich wie schon vor einigen Jahren die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats: Mit professionell bearbeiteten Enthauptungsvideos, die im Netz verbreitet wurden, versuchte der Propagandaapparat der Terrororganisation weltweit neue Anhänger zu rekrutieren.
Bei den von den Hamas-Terroristen mit Bodycams aufgenommenen Videos vom 7. Oktober handelt es sich um unbearbeitetes Rohmaterial der eigenen, in Echtzeit dokumentierten mörderischen Gewalt. Der in der Analyse faschistischer Männlichkeits- und Gewaltfantasien ausgewiesene Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit („Männerphantasien“, 1977/78) hat in dem 2015 erschienenen Band „Das Lachen der Täter“ untersucht, warum Menschen Lust am Töten haben. (Den Hinweis auf das Buch verdanke ich Jonathan Horstmann.) Theweleit arbeitet die Grunddisposition bestimmter Tätertypen und die Struktur von Gewalt heraus, wobei für ihn die jeweilige Ideologie und Religion austauschbar sind. Besonders hebt er hervor, welche Bedeutung die Reaktion der Umgebung auf die Veröffentlichung von Bildern ausgeübter mörderischer Gewalt hat. Erst die Reaktion der Umgebung entscheidet darüber, ob die Täter triumphieren können.
Wenn wir Theweleits Analyse folgen, kommt es darauf an, ob die Umgebung, die sich im Zeitalter der sozialen Medien exponentiell erweitert hat, mitmacht oder mitfeiert, so wie es im Falle des Hamas-Terrors vom 7. Oktober etwa auf der Berliner Sonnenallee und anderswo auf dieser Welt geschah. Andersherum formuliert: Die Wirkmächtigkeit des Systems der Hamas-Terroristen, die Zivilisten in Israel ermordeten, weil sie Juden waren, würde dadurch unterbrochen werden, dass die Umgebung die Taten der Hamas nicht mitfeiert oder rechtfertigt.
Bleiben wir einen Moment bei den Bildern der Opfer des Hamas-Terrors, die in den sozialen Netzwerken kursieren, weil sie von den Tätern veröffentlicht wurden. Um diese Bilder ist inzwischen eine öffentliche Kontroverse entstanden. Welche von ihnen darf man zeigen, welche nicht? Ethische Aspekte und der Persönlichkeitsschutz der Opfer, der auch über den Tod hinaus gilt, spielen hier eine zentrale Rolle. Welche Bilder aber muss man vielleicht sogar unbedingt zeigen? Der Journalist Deniz Yücel beispielsweise argumentiert, dass man das Video, in dem die von der Hamas entführte und ermordete junge Deutsch-Israelin Shani Louk auf der Ladefläche eines Lastwagens zu sehen ist – leblos, halb nackt und von den Terroristen bespuckt –, unbedingt zeigen müsse, um der jungen Frau auch über ihren Tod hinaus einen Namen zu geben und um das an ihr begangene Verbrechen zu dokumentieren. Die Bilder sind Beweismittel, die den Schrecken bezeugen. Gilt das jedoch auch, wenn die Urheber dieser Bilder die Täter selbst sind? Es sind die einzigen Bilder, die wir von dem Verbrechen haben.
Ein Film als Zeitdokument
Mit der Absicht, die Erinnerung an das von den Hamas-Terroristen begangene Massaker wachzuhalten und es zu dokumentieren, hat die israelische Armee inzwischen einen 47-minütigen Film hergestellt, der kürzlich auch in Los Angeles und New York gezeigt wurde. „Bearing Witness“, so der Titel. Er enthält verstörendes Bildmaterial von den Hamas-Gewaltexzessen, das weitgehend von den Bodycams der Terroristen stammt. Entsprechend kontrovers wurde der Film diskutiert, anlässlich der beiden Vorführungen kam es zu Protesten sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite. Jetzt wird überlegt, den Film möglicherweise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, auch um ein besseres Verständnis für Israels Reaktion auf das Massaker der Hamas zu wecken. Denn auch in Deutschland ließ sich beobachten, wie in der öffentlichen Wahrnehmung der Überfall der Hamas-Terroristen und die von ihnen verübte Gewalt an der israelischen Zivilbevölkerung rasch in den Hintergrund traten gegenüber anderen Bildern, die das fürchterliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung bezeugen, welche der militärischen Reaktion Israels gegen die Hamas ausgesetzt ist. Bilder, mit denen die Hamas nur allzu gern Politik macht und die öffentliche Meinung gegen Israel zu beeinflussen versucht.
Vor einer Woche, am 24. November, trat in den Morgenstunden eine für zunächst vier Tage vereinbarte Feuerpause im Gazastreifen in Kraft. Für die Menschen vor Ort bedeutet dies eine dringend notwendige und langersehnte Atempause. Am Nachmittag wurden die ersten israelischen Geiseln – vorrangig Frauen und Kinder – freigelassen, seither hat es täglich weitere Freilassungen gegeben. Was die Freigelassenen in den sieben Wochen erlebt haben, in denen sie sich in der Gewalt der Hamas befanden, und welche Bilder sie davon mitnehmen, vielleicht ein Leben lang, wage ich mir nicht vorzustellen.
Postskript
Der 12-jährige Eitan Yahalomi ist eine der Geiseln, die inzwischen von der Hamas freigelassen wurden. Seine Mutter berichtet, dass die Entführer den Jungen während der Geiselhaft dazu gezwungen hätten, sich die Gewaltvideos der Hamas anzuschauen.
Das eingangs beschriebene Foto von Peter van Agtmael zeigt das zerstörte Zuhause von Yarden Roman-Gat im Kibbuz Be’eri. Hamas-Terroristen hatten sie am 7. Oktober mit ihrem Mann Alon und der gemeinsamen dreijährigen Tochter Geffen überfallen und entführt. Während ihrem Mann und der kleinen Tochter die Flucht aus dem Fahrzeug der Entführer gelang, wurde die 36-jährige Israelin, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, in den Gazastreifen verschleppt. Seit dem 29. November ist Yarden Roman-Gat nach 53 Tagen Geiselhaft endlich wieder in Freiheit.
Licht in die Dunkelheit tragen
Gedanken zum Martinstag
Von Dr. Annegreth Schilling
am 11. November 2023
Als ich gestern durch die Straßen lief, kamen mir an allen Ecken Kinder mit Laternen entgegen. Selbst gebastelte mit Sonne, Mond und Sternen, Einhörner mit Pink und Hellblau, Schafe mit Wattefell, Frösche mit gelben Leuchtaugen. Ein wunderbares Bild! Mitten in der Dunkelheit blitzen Leuchtfunken auf, wie Glühwürmchen im Sommer.
Die Laternen der Kinder können nicht eine ganze Straße erleuchten. Aber dort, wo sie laufen, dort machen sie es hell. Meine Kinder treffen ihre Freundinnen und Kumpel. Und wo sie laufen, ist es warm und wohlig.
Heute ist der 11. November – da ist nicht nur der Beginn von Karneval, da feiern wir Sankt Martin. Mittlerweile ist Sankt Martin ein ökumenischer Heiliger. Katholische, orthodoxe, anglikanische und evangelische Christen feiern seinen Namenstag. Ein Lagerfeuer knistert im Kirchhof, drum herum stehen Kinder, Eltern und Großeltern, wärmen ihre Hände am heißen Punsch.
Für mich ist Sankt Martin ein Tag, an dem wir uns an menschliche Grundbedürfnisse erinnern. Wärme, Essen, Gemeinschaft. Und in diesem Jahr ganz besonders. Der Oktober hängt mir in den Knochen, vor allem der 7. Oktober. Heute, einen Monat später, stehe ich am Lagerfeuer von Sankt Martin und frage mich: Was sagt uns sein Fest im Jahr 2023?
Seit bald 1700 Jahren erzählen wir am 11. November die Geschichte von Martin von Tours. Er war ein römischer Soldat, ausgestattet mit Macht: einem Pferd, einem Mantel und einem Schwert. Uns ist überliefert, dass er eines Nachts mit einem Menschen, der hilflos am Wegrand lag, seinen Mantel und Brot teilte.
Martin war ein „Com-paniero“, im wahrsten Sinn des Wortes. Einer, der mit anderen (com) Brot teilt (pan). Ein Companiero, ein Kumpel, ein Kumpane.
Seit dem Massaker an Jüdinnen und Juden in Israel am 7. Oktober steht die Frage im Raum: Auf welcher Seite stehen wir? Mit wem solidarisieren wir uns, mit wem sind wir bereit, Brot und Gemeinschaft zu teilen?
Ein Bild hat sich mir fest eingeprägt: Vizekanzler Robert Habeck wurde am 22. Oktober von der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt zum Frühstück eingeladen. Das Frühstück ist für mich die intimste Mahlzeit des Tages. Da zeigen wir uns am verletzlichsten. Wir haben noch nicht den Blazer an, keinen Lippenstift aufgetragen, da können wir die Schlaf-Falten nicht vertuschen. Beim Frühstück, da sind wir so, wie wir sind.
Und deshalb beeindruckt mich diese Szene: Vertreter der Jüdischen Gemeinde sitzen mit Robert Habeck beim Frühstück im Gemeindehaus im Frankfurter Westend und sprechen darüber, was der 7. Oktober mit ihnen macht. Und der Vizekanzler macht das einzig Richtige in diesem Moment: Er hört zu. Er zeigt seine Solidarität. Beim gemeinsamen Frühstück im Jüdischen Gemeindezentrum wird er zum Com-paniero. Das ist mehr als zu sagen: An der Seite Israels zu stehen gehört zur deutschen Staatsräson. Es bedeutet: mitfühlen, hinhören, sich miteinander stärken.
Auf der Gedenkveranstaltung am 9. November in der Paulskirche hat das Marc Grünbaum aus dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde für mich auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt: „Sie müssen wachsam werden. Wenn wir alle nicht müde werden gegen Antisemitismus aufzustehen, wenn wir nicht hilflos zuschauen, dann können wir es schaffen.“
Ich wünsche mir, dass die Evangelische Akademie Frankfurt ein Ort ist, an dem wir unsere Hilflosigkeit angesichts der Komplexität der Debatte überwinden. Ich wünsche mir, dass hier Christinnen und Christen aller Konfessionen und Kulturen zusammen mit Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslimen, Säkularen, Bahai, Buddhistinnen und Buddhisten und vielen andere zusammenkommen und in den Gesprächen und Begegnungen die Verletzlichkeit des Gegenübers wahr- und ernst nehmen und einander zur Seite stehen.
Der 11. November, Sankt Martin, ist für mich eine Erinnerung daran, dass es auf jeden Einzelnen ankommt. Mit Laternen Licht in die Dunkelheit tragen. Den Verstand und die eigene Macht nutzen. Com-paniero oder Com-paniera sein und solidarisch das Brot teilen.
Ich bin lieber dafür
Über demokratische Strategien gegen rechts
Von Hanna-Lena Neuser
im November 2023
10 – 66 – 18,4. Drei Zahlen, die mich umtreiben seit der Wahl in Hessen vor ein paar Wochen.
Vor nur etwas mehr als 10 Jahren wurde am 6. Februar 2013 in der hessischen Stadt Oberursel im Taunus die AfD gegründet. Aber ihre Geschichte beginnt schon viel früher. Der Politologe Frank Decker beschreibt in seinem Aufsatz „Etappen der Parteigeschichte der AfD“[1] detailliert die Motivation einer Gruppe von Personen, die sich Anfang der 1990er-Jahre erfolglos vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung wehren wollten. Daran beteiligt war der frühere bayerische FDP-Vorsitzende Manfred Brunner, der später den „Bund Freier Bürger“ mitgründete. Er gilt auch als derjenige, der die konservativ-liberalen Motive der „Bewegung“, als die man dieses Phänomen damals vielleicht noch bezeichnen konnte, inhaltlich mit Fragen der Kriminalitätsbekämpfung und der Zuwanderung verknüpfte. Damit war die Basis geschaffen für die weitere Entwicklung, aus der dann 2013 die AfD in Oberursel entstand.
Interessant an der Historie der Partei ist, dass ein ganz konkreter Entstehungsanlass identifiziert werden kann: die Rede zur Eurokrise von Angela Merkel am 25. März 2010 vor dem deutschen Bundestag. Die Bundeskanzlerin schloss in dieser Rede Hilfe für Griechenland aus, um direkt im Anschluss beim EU-Gipfel dem Hilfspaket zuzustimmen.[2]
Nicht unerheblich war für den schnellen Aufstieg der AfD, dass sie von Beginn an mit vielen Ressourcen ausgestattet war. Dafür sorgte die enge Verzahnung mit Teilen des deutschen Mittelstands. Zudem fanden sich recht schnell politikerfahrene Mitstreiter/innen, rhetorisch versierte, intellektuell gut ausgebildete Akteur/innen, die das Projekt anschoben. Nicht zuletzt Parteifunktionär/innen bürgerlicher Parteien wechselten zur AfD und brachten ihr Know-how von politischen Prozessen und Strukturen, die Spielregeln und die Netzwerke mit.
Auch befördert durch die Anfang der 2010er-Jahre aufkommende Migrationsdebatte – wir erinnern uns an Thilo Sarrazin, damals SPD-Mitglied – entwickelte sich die AfD zunehmend von einer wirtschaftsliberalen, monothematischen Gruppierung hin zu einer Partei, die sich in vielfältiger Weise nationalkonservativ positionierte.
Was sich seither in der AfD getan hat und wie sie sich zu den aktuelleren Debatten verhält, das haben wir alle vor Augen und im Ohr. Ebenso wie die verschiedenen Reaktionen innerhalb der Gesellschaft. Und hier breitet sich ein Spektrum aus von der umfassenden Normalisierung der Partei und ihrer Programmatik bis hin zur Forderung nach einem Parteiverbot, wie zum Beispiel in Form der Petition „Prüft ein AfD-Verbot!“ beziehungsweise der Überprüfung der Partei und einzelner Funktionäre durch den Verfassungsschutz.
In Hessen, dem „Herkunftsland“ der AfD, wenn man diesen Begriff hier bemühen möchte, hat sich am 8. Oktober 2023 jeder dritte wahlberechtigte Mensch entschieden, von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch zu machen. 66 Prozent haben zum Glück eine andere Entscheidung getroffen.
Mit 18,4 Prozent hat sich fast jeder fünfte wahlberechtigte Mensch in Hessen entschieden, eine Partei zu wählen, die man heute deutlich als nichtdemokratisch im Sinne einer pluralen und liberalen Demokratie bezeichnen muss. Inwiefern sie auch als rechtsextrem und staatsfeindlich eingestuft werden kann, wird juristisch und politisch derzeit noch unterschiedlich eingeschätzt und untersucht.
Schon im Vorfeld der Wahlen war viel von einer „Brandmauer“ die Rede. Ohne die Debatte im Detail zu beschreiben, möchte ich an dieser Stelle zum Ausdruck bringen, wie sehr mich dieses Bild – aber vor allem die Haltung dahinter – nervt. Denn es suggeriert, dass wir (wer ist wir?) nur eine Mauer (aus was?) bauen müssten, und dann stehen wir auf der richtigen und die AfD auf der falschen Seite und dann ist alles gut. Aber so funktioniert das nicht. Es ist – wie fast immer – komplizierter. Und es ist – wie fast immer – eher die Frage, welche Haltung wir zeigen, wenn wir nicht wollen, dass sich die Geschichte wiederholt.
Für die Moderation verschiedener Formate an der Akademie habe ich mich mit den politikwissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema „Abwehrmechanismen und -methoden“ populistischer Strömungen und Parteien befasst. Ein Blick in die europäische Geschichte und das europäische Ausland zeigt: Es gibt vielfältige Versuche, sich als Demokratie gegen Populist/innen zu wehren. Jedes Land – und die meisten europäischen Länder haben es mit solchen Phänomenen wie der AfD schon länger zu tun als wir hier in Deutschland – hat seine eigenen Erfahrungen gemacht. Und eigentlich nirgendwo hat es wirklich funktioniert.
Welche Versuche es konkret gab? Man hat die Populist/innen bewusst in Regierungen einbezogen, um ihre „Unfähigkeit“ sichtbar zu machen („Entzauberung“ in den Niederlanden). Medien haben sich dazu entschlossen, die Akteur/innen populistischer Parteien explizit mit Missachtung zu behandeln („Cordon sanitaire“ in Belgien). Es gab unter Jacques Chirac die Strategie der transparenten Ausgrenzung (Frankreich), aber es gab eben auch an vielen Stellen die bewusste und strategisch begründete Kooperation oder Koalition mit den Rechtsaußenparteien (Italien, Österreich).
Die Frage, die sicher viele umtreibt – und die auch wissenschaftlich bearbeitet wird – ist die nach einer wirkungsvollen Gegenstrategie zur voranschreitenden Normalisierung rechter Politik und rechten Gedankenguts in der Gesellschaft und damit in Wahlergebnissen und Machtverhältnissen. Eine erst mal triviale Erkenntnis ist dabei, dass es auf „das Verhalten der anderen politischen Parteien, Medienakteure und der Zivilgesellschaft“[3] ankommt, wenn es darum geht, wie leicht oder schwer es Populist/innen haben.
Aus dieser simplen Feststellung ergeben sich drängende Fragen: Was können Parteien tun? Was können die Medien beitragen? Und was liegt in der Zuständigkeit der Zivilgesellschaft? Was muss an den jeweiligen Stellen unternommen werden, um Demokratie widerstandsfähig zu machen?
Diese Fragen werden uns in den kommenden Monaten noch intensiver beschäftigen, als sie es ohnehin schon immer tun. Und je länger ich darüber nachdenke und mit anderen darüber spreche, desto klarer entwickelt sich meine innere Haltung dazu: Ich will mich nicht weiter an der AfD als Gegner abarbeiten. Sie ist am Ende „nur“ ein Symptom einer viel grundlegenderen, gesamtgesellschaftlichen und politischen Entwicklung, die in ihrer Komplexität einen Impulstext wie diesen sprengt, sich aber zum Beispiel in der aktuellen Debatte um den Umgang mit dem Terror der Hamas zeigt. Aber auch in viel „banaleren“ Debatten wie der um das „Heizungsgesetz“ oder die Kindergrundsicherung, das bedingungslose Grundeinkommen oder das Elterngeld. Vor allem auch dort, wo es um Migration und Asyl geht.
Ich will mich nicht mehr gegen die AfD verkämpfen. Ich will für etwas sein. Und zwar für die Demokratie in ihrer liberalen und pluralen Form. Was können wir als zivilgesellschaftlicher Akteur, als Diskursort, als Bildungsort, als Akademie tun, um unsere Demokratie noch besser zu kultivieren? Welchen Beitrag leisten wir, indem wir die Demokratie konstruktiv-kritisch begleiten? Mit wem müssen wir uns zusammentun, um möglichst große Wirkung entfalten? Für eine im positiven Sinn umkämpfte Demokratie. Für eine streitbare Diskurskultur. Für eine wehrhafte demokratische Gesellschaft. „Umkämpft! Demokratie“, das Motto der Jungen Akademie in diesem Jahr, hat viele gute Gedanken angestoßen. Es lohnt sich sicher, an dem Kampfbegriff dranzubleiben und ihn im besten Sinn für die Demokratie wieder ernster zu nehmen.
Für was wollen Sie kämpfen?
- [1] Decker, Frank: Etappen der Parteigeschichte der AfD. Bundeszentrale für politische Bildung, 2.12.2022.
- [2] Diese Kehrtwende beschrieb Merkel als „alternativlos“, was die Grundlage für den Namen der neuen Partei schuf.
- [3] Heinze, Anna-Sophie: Zwischen Etablierung und Mainstreaming. Zum Stand der Forschung zu Populismus und Rechtsradikalismus. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 17.2.2022, S. 166.
Demokratie ist nicht nur ein schönes Wort
Über die Frustration, dass politische Bildung in Deutschland zwar symbolischen Wert hat, die Ressourcen dafür aber gekürzt werden
Von Annette Lorenz
im Oktober 2023
Achtung: Dieser Text wird persönlich!
Meine Arbeit ist persönlich und mir ein Herzensanliegen. Zugleich ist meine Arbeit politisch. Und politisch relevant. Persönlich und politisch – ich kann beide Aspekte nicht ohneeinander denken. Das Politische wird in meinem persönlichen Leben erfahrbar und im Alltag der jungen Menschen, mit denen ich arbeite – in unseren Lebensrealitäten und in konkreten Konflikten, Problemen und Erfolgen, die wir im Miteinander täglich teilen. Meine persönlichen Hintergründe, meine Biografie, meine Netzwerke und so weiter konstituieren meinen Blick auf das Politische, mein Erleben des gesellschaftlichen Miteinanders wie auch meine Möglichkeiten, daran teilzuhaben. Wenn ich also hier über geplante Kürzungen der Bundesregierung an der Kinder- und Jugendbildung schreibe, tue ich dies persönlich und politisch. Ich möchte davon berichten, warum es mich persönlich und emotional trifft, wenn unsere Bundesregierung über drastische Einschnitte in die demokratische Bildung unserer Jugend verhandelt und warum ich dies als ein verheerendes politisches Signal für unseren fragilen gesellschaftlichen Zusammenhalt erachte. (Fakten und Informationen zum Weiterlesen haben wir im Text zu unserer Petition „Spart anders!“ zusammengestellt, den ich Ihnen zur Lektüre empfehle.)
Ich hole ein wenig aus und erzähle von meinem Herzensprojekt des Jahres 2023. Mit dem neuen Qualifizierungsprogramm Team.Bilden an der Evangelischen Akademie Frankfurt haben wir jungen Menschen in diesem Jahr einen weiteren Ort gegeben, an dem sie ihre Stimme für die ihnen wichtigen Anliegen erheben können. Unter dem Motto „Qualifizier dich und gib was weiter!“ haben wir junge Menschen zwischen 18 und 26 Jahren für die politische Jugendbildung ausgebildet und sie im Anschluss eingeladen, als Teil unseres Akademieteams im Rahmen von Honorartätigkeiten unsere Bildungsarbeit mitzugestalten.
Was hat mich dazu bewogen, ein solches neues Programm aufzulegen?
Die heutige Generation Jugendlicher und junger Erwachsener hat in ihren jungen Jahren schon einige globale Krisen wie auch das damit verbundene Gefühl eines Dauerkrisenmodus erlebt. Die langfristigen Auswirkungen der Corona-Pandemie, der Klimakrise und des Kriegs in Europa scheinen voll in ihrem Bewusstsein angekommen zu sein. „Die jungen Leute merken in dieser angespannten Zeit, es ist überhaupt nichts mehr sicher“[1], so Klaus Hurrelmann, einer der Autor/innen der regelmäßig erscheinenden Studie „Jugend in Deutschland“. Die gesellschaftliche Lage macht der jungen Generation Sorgen. Insbesondere der gesellschaftliche Zusammenhalt und die politischen Verhältnisse veranlassen sie zu einem sorgenvollen Blick in die Zukunft. Hinzu kommt eine starke psychische Belastung: Fast jeder zweite (46 Prozent) 14- bis 29-Jährige leidet unter Stress. Etwa ein Drittel der jungen Menschen fühlt sich erschöpft (35 Prozent) und hat häufig Selbstzweifel (33 Prozent). Gleichzeitig – und das mag überraschen – haben viele junge Menschen eine positive Erwartung an ihre persönliche Zukunft. Mit dem für Jugendliche typischen Optimismus gehen sie offenbar davon aus, dass sie alle Herausforderungen schon meistern werden.[2]
Wie mache ich jungen Menschen Mut?
Diese Studienergebnisse decken sich damit, wie wir Jugendbildner/innen junge Menschen in unserer Arbeit erleben. Ich habe mich gefragt: Wie kann ich mit politischer Bildung dieser krisengebeutelten Generation helfen? Mit welchem weiteren Bildungsangebot kann ich jungen Menschen Mut machen, Verantwortung für ihre eigenen Anliegen zu übernehmen? Wie kann ich ihren Optimismus und Tatendrang aufgreifen und sie befähigen, ins selbstbestimmte Handeln zu kommen?
Wir brauchen Bildungsangebote, die junge Menschen in ihren Lebenssituationen ernst nehmen und in denen sie selber mitbestimmen dürfen. Es muss, um es mit Ingrid Burdewick zu sagen, „für Heranwachsende eine politische Kultur der Beteiligung geschaffen werden, die sie als Experten und Expertinnen in eigener Sache anerkennt und es ihnen viel stärker ermöglicht, sich als wertvoll für die Gemeinschaft zu erfahren“[3].
Schon in der Jungen Akademie Frankfurt setzen wir deswegen auf die Kraft von gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten, in denen die jungen Teilnehmenden Selbstwirksamkeit erleben. Unser Blick auf die jungen Menschen hierbei ist entscheidend, denn pädagogisch betrachtet bedeutet Jugendpartizipation die „Entwicklung von Kompetenzen […], ohne etwas pädagogisch vorzubestimmen“[4]. Sie kommt ohne eine „Defizitunterstellung […] als erziehungsbedürftige Objekte“[5] aus. Dem partizipatorischen Anspruch nach geht es darum, junge Menschen nicht als defizitäre Mängelwesen wahrzunehmen, die erst noch zu eigener Meinungsbildung erzogen werden und vor politischer Einflussnahme durch extreme Meinungsmacher geschützt werden müssen, sondern als selbstbewusste Subjekte, die wir bei ihrer individuellen Persönlichkeitsentwicklung begleiten dürfen.
Qualifizier dich und gib was weiter!
Mit den guten Erfahrungen der Jungen Akademie im Hintergrund und dem hohen Anspruch, ein sinnvolles Partizipationsangebot für junge Menschen zu schaffen, habe ich also Team.Bilden auf die Beine gestellt. Junge Menschen zwischen 18 und 26 Jahren können sich in der Evangelischen Akademie für die politische Jugendbildung qualifizieren. Im Anschluss können sie als Teil unseres Teams auf Honorarbasis unsere Bildungsarbeit für junge Menschen zwischen 14 und 18 Jahren mitgestalten. Die Ausbildung umfasst drei intensive, mehrtägige Grundlagenmodule und mindestens zwei frei wählbare Aufbaumodule. Darauf folgt eine Hospitationsphase, in der unter Anleitung erste Praxiserfahrungen gesammelt werden. Neben Theorien politischer Jugendbildung, Methodenwissen und Moderationstechniken geht es in der Ausbildung auch darum, die eigene Rolle und Haltung in der Bildungsarbeit zu reflektieren. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der eigenen Motivation, den Möglichkeiten und Grenzen von professionellem Handeln und den persönlichen Kraftquellen.
Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden bei Team.Bilden, wie sie selbstständig Bildungskonzepte schreiben können. So können sie nicht nur bei Workshops, Planspielen und Projekttagen unterstützen, die von uns hauptamtlichen Jugendbildner/innen konzipiert wurden, sondern auch selber neue Formate und Themen initiieren und zu neuen Bildungskonzepten entwickeln.
Das Besondere an Team.Bilden ist nämlich: Durch die flexiblen Aufbaumodule qualifizieren sich die Teilnehmenden für die Themen, die ihnen unter den Nägeln brennen. Einige Themen der Aufbaumodule wurden von mir vorab als Wahlangebot gesetzt, weitere Themen kamen im Laufe der Ausbildung auf Wunsch der Teilnehmenden hinzu. So führen die künftigen Teamer/innen nicht nur weiter, was in unserem Angebotsspektrum schon immer thematisch festgelegt war, sondern entwickeln ihre eigenen Schwerpunkte. Dafür öffne ich ihnen unser Netzwerk und organisiere Weiterbildungen mit externen Referierenden zu Themen, die ich selber nicht bedienen kann. So wird unser Bildungsangebot nun beispielsweise durch den buchbaren, kapitalismuskritischen Stadtrundgang „Wo ist das Wir in WIRtschaft?“ ergänzt, den drei Teamer/innen für Schulklassen und Jugendgruppen anbieten.
Die Benefits für die Teilnehmenden des Ausbildungskurses liegen auf der Hand: Sie bekommen Raum zum Ausprobieren und für Selbstwirksamkeitserfahrungen, sie werden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleitet und professionalisieren sich für ihre berufliche Zukunft. Sie können ihre eigenen Netzwerke durch Kontakte zu Bildungsorganisationen in der Region und bundesweit vergrößern, sie arbeiten in einem Team mit Gleichaltrigen, die sich gegenseitig unterstützen, sie erhalten Zertifikate für ihre Bewerbungsmappen und können einen sinnstiftenden Nebenjob ausüben. Wir als Akademie profitieren wiederum von einem jungen, optimistischen und initiativen Blick auf unsere Bildungsarbeit sowie von neuen Ideen und mehr Menschen, die wie wir begeistert sind, mit Jugendlichen zu Fragen des demokratischen Zusammenlebens zu arbeiten.
Was bleibt nach dem ersten Jahrgang Team.Bilden?
Die Teilnehmenden sind durch heftige, gruppendynamische Storming-Phasen hindurch als Gruppe zusammengewachsen. Sie haben sich durch Theorien politischer Bildung geackert, haben Methoden über Methoden miteinander ausprobiert und kritisch reflektiert. Sie sind persönlich an herausfordernden Inhalten und Diskussionen gewachsen. Von 20 Teilnehmenden der Grundlagenausbildung haben ein halbes Jahr später acht junge Menschen die zeitlichen Ressourcen, die nötigen persönlichen Voraussetzungen und die Lust, in unserer Bildungsarbeit mitzumachen. Andere haben sich entschieden, beruflich den Weg in die politische Bildung einzuschlagen, oder engagieren sich nun bei anderen Trägern, die wohnortnäher sind.
In persönlichen Gesprächen mit Teilnehmenden wurde mir vielfach erzählt, dass die Ausbildung ihnen geholfen habe, sich selber und das eigene Können besser einzuschätzen. Meine Haltung, die Kursteilnehmenden beständig als Expert/innen ihrer jeweiligen Lebenslage zu adressieren und sie in ihrer Eigenverantwortung für das Gelingen des Lernprozesses zu bestärken, hat Früchte getragen. Die jungen Menschen haben sich darin geübt, selbstkritisch und reflexiv an ihrer eigenen Haltung zu arbeiten und diese kommunikativ in der Gruppe zu vertreten. Durch fortwährende, zum Teil auch anstrengende Moderationsprozesse habe ich ihnen vermittelt, für sich selber, die eigenen Bedürfnisse und die eigenen Grenzen im Gruppenkontext einzustehen – gleichzeitig aber auch sensibel für die Bedürfnisse anderer und die Bedürfnisse der Gruppe als Ganzes zu sein. Mit diesem gestärkten Selbstvertrauen sind einige der Teilnehmenden in die Hospitationsphase mit Stina Kjellgren und mir eingetreten. Sie sehen uns politische Bildnerinnen als Unterstützerinnen und Beraterinnen, auf deren Erfahrung und Hilfe sie gerne zurückgreifen. Doch trauen sie sich selbstbewusst zu, eigene Konzepte zu erstellen und vor Gruppen souverän zu moderieren, Methoden anzuleiten und Inhalte zu vermitteln. So kam eine Teamerin nach einem Workshop irritiert zu mir, nachdem eine Lehrkraft sie nach ihrer Chefin gefragt hatte, und sagte: „Ich habe dich noch nie als meine Chefin gesehen. Wir machen das doch selbstständig hier, und du bist nur da, falls wir mal nicht weiterkommen.“
Für das Bildungsangebot der Evangelischen Akademie Frankfurt sind durch die motivierten Teilnehmenden mittlerweile erste kreative Bildungskonzepte wie zum Beispiel der oben erwähnte kapitalismuskritische Stadtrundgang und Workshops zu Themen wie „Aktuelle Orte der Menschenrechte rund um den Frankfurter Römer“ und „Zwischen berechtigt und bereit. Crashkurs Europawahl“ entstanden. Sie wurden von Teilnehmenden konzipiert und bereits mit Schulklassen durchgeführt. Andere Konzepte und innovative Ideen liegen noch in der Pipeline und warten darauf, in die Praxis umgesetzt zu werden.
Wie es weitergehen sollte und wie es weitergehen wird
Der erste Jahrgang eines neuen Programms übernimmt immer die Rolle eines Lernmodells. So haben wir auch mit dem ersten Jahrgang Team.Bilden viele Feedbackrunden gedreht und jedes Modul intensiv im Team evaluiert. Positives wie auch sehr kritisches Feedback wurde von den Teilnehmenden immer wieder in konstruktiver Weise vorgetragen und in unsere Evaluationen eingebunden. Ein eng beschriebenes, drei Seiten langes Word-Dokument mit dem Titel „Lessons learned“ ist die Folge dieser intensiven Auswertungsrunden. Und mit jeder niedergeschriebenen „gelernten Lektion“ wuchs die Lust, es im nächsten Durchlauf noch besser zu machen und weiteren jungen Menschen viel Know-how und Erfahrungen mitzugeben für ihre Arbeit an unserer Demokratie. Mit den von der Bundesregierung geplanten Fördergeldkürzungen steht nun jedoch das Fortbestehen von Team.Bilden insgesamt auf der Kippe. Bisher sehen wir keine Möglichkeit, die Veranstaltungskosten im nächsten Jahr erneut zu decken. Und nicht nur das, auch die Weiterbeschäftigung der diesjährigen Teamer/innen als Honorarkräfte und die Durchführung der von ihnen entwickelten Bildungsangebote gelingt uns nach aktuellem Stand nur, wenn wir sie kostenpflichtig anbieten. Wie erkläre ich das den jungen Menschen? Sie haben viel Elan und Motivation, viel Zeit und persönliches Engagement in die Ausbildung gesteckt. Sie haben persönlich profitiert, doch eine weitere Zusammenarbeit steht in den Sternen.
„Die jungen Leute merken in dieser angespannten Zeit, es ist überhaupt nichts mehr sicher“[1], habe ich zu Anfang des Textes Klaus Hurrelmann zitiert. Junge Menschen machen sich insbesondere Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die politischen Verhältnisse. Für mich persönlich hat diese junge Generation in diesem Jahr ein Gesicht – das Gesicht von 20 Menschen, die ich ins Herz geschlossen habe und die mich beeindruckt haben. Sie wollen sich gegen den Rechtsruck und die zunehmende Menschenfeindlichkeit in unserem Land einsetzen, sie verstehen sich als europäische Bürger/innen und wollen zum demokratischen Zusammenhalten Europas beitragen. Doch sie werden erneut ausgebremst und erhalten das Signal, dass die Arbeit an unserer Demokratie in Deutschland zwar symbolischen Wert hat, die dafür nötigen Ressourcen aber nicht bereitgestellt werden.
Das trifft mich persönlich, weil die Arbeit eines Jahres abrupt enden muss und die Früchte meiner Arbeit im nächsten Jahr nicht weiterwachsen können. Das trifft mich persönlich, weil ich die schlechten Nachrichten an die Teamer/innen weitergebe und ihre Enttäuschung und ihre Wut auffange. Das trifft mich persönlich, weil ich große Sorgen habe vor der Zukunft in einem Land, in dem es keinen großen Aufschrei gibt, wenn an der Bildung unserer Jugend und an Demokratiebildung gespart werden soll. Und so wird mein persönliches Erleben in einem kleinen Projekt bei einem kleinen Träger in einer Stadt in Deutschland ganz politisch. Es steht exemplarisch für das Erleben vieler kleiner und großer Initiativen und einzelner Menschen, die sich jeden Tag dafür einsetzen, dass die Demokratie in unserem Land eine Zukunft hat.
- [1] Emperle, Sonja: Krisen belasten vor allem junge Menschen. SWR Wissen, 24.5.2023.
- [2] Schnetzer, Simon; Hampel, Kilian; Hurrelmann, Klaus: Trendstudie Jugend in Deutschland. Aktuelle Krisen belasten Jüngere stärker als Ältere – ein Generationenkonflikt bleibt aus. Datajockey, Kempten 2023.
- [3] Burdewick, Ingrid: Politische Partizipation. Jugend, Anerkennung und Pädagogik. In: Hafeneger, Benno; Jansen, Mechthild M.; Niebling, Torsten (Hrsg.): Kinder- und Jugendpartizipation. Im Spannungsfeld von Interessen und Akteuren. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2005, S. 117.
- [4] Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt: Partizipation im Jugendalter. In: Hafeneger, Benno; Jansen, Mechthild M.; Niebling, Torsten (Hrsg.): Kinder- und Jugendpartizipation. Im Spannungsfeld von Interessen und Akteuren. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2005, S. 66.
- [5] Ebd., S. 67.
Bitte unterzeichnen Sie unsere Akademie-Petition „Spart anders! Gegen die drastischen Kürzungen in der Kinder- und Jugendbildung“! Sie helfen uns und unserem Anliegen sehr, wenn Sie den Kurzlink openpetition.de/spartanders auch an Bekannte weiterleiten. Herzlichen Dank!
„Moby-Dick“, das Buch der Stunde
Freiheit, religiöse Toleranz und die Rache der Natur
Von Prof. Dr. Kurt W. Schmidt
im September 2023
Damals – es ist zwar erst einige Monate her, aber es fühlt sich fast schon an wie in einer früheren Epoche – also: damals, als im Zuge der Corona-Pandemie Maskenpflicht und Abstandsgebote galten, Homeoffice und Händeschüttelverbot, Isolation und Quarantäne, da wurde Alberts Camus’ Roman „Die Pest“ aus dem Jahr 1947 wiederentdeckt und galt vielen als Roman der Stunde: Die Stadt Oran an der algerischen Küste riegelt sich ab nach außen, um dem schwarzen Tod, der Pest, Herr zu werden. Und heute im Spätsommer 2023? „Wenn es einen Roman gibt, der mir sofort einfallen würde, wenn es um das Gegenteil von Isolation und Quarantäne, wenn es um Freiheit, um Befreiung, wenn es um einen Ausbruch ins Offene, ums Grenzenlose, aufs Meer hinaus, geht, dann Herman Melvilles ,Moby-Dick‘.“ So der Literaturwissenschaftler Markus Grasser (2020). In der Tat, dieses gewaltige, rätselhafte, philosophische, religiöse Werk ist das Buch der Stunde!
Nun kennt jede und jeder die Geschichte von „Moby-Dick“, oder besser: der erzählerische rote Faden ist jedem bekannt, denn bis zur Veröffentlichung der kompletten Neuübersetzung im Jahr 2001 trugen vor allem stark gekürzte Ausgaben dazu bei, „Moby-Dick“ als reine Abenteuergeschichte für Kinder und Jugendliche misszuverstehen, deren Inhalt man in einem Satz glaubte wiedergeben zu können: Kapitän Ahab jagt in blinder Wut dem weißen Wal Moby-Dick über die Weltmeere hinterher, um sich an ihm zu rächen, weil dieser ihm einstmals ein Bein abgerissen hatte. Doch das ist nicht die ganze Geschichte, und wer das Buch erstmals in die Hand nimmt, wird überrascht sein von den zahlreichen religiösen, philosophischen, medizinischen, naturkundlichen und soziokulturellen Aspekten, die das Werk heute so modern erscheinen lassen. Denn es ist viel, viel mehr als eine bloße „Abenteuergeschichte“. Es ist – im wahrsten Sinne des Wortes – ein gewichtiges Buch, ein gewaltiges Werk von tausend Seiten dünn bedrucktem Papier, das alle Gattungen sprengt: eine „höchst eigenartige Melange“ aus Sachbuch, enzyklopädischer Gelehrsamkeit und gefährlichen Abenteuern, vermengt mit zahlreichen literarischen Anspielungen, gelehrten Abschweifungen, Wortspielen und abgründigem Humor. Es wirft nichts weniger als die großen Fragen der Menschheit auf: Gibt es so etwas wie Schicksal? Gibt es Vorsehung? Wie weit reicht die menschliche Freiheit? Die Erzählung dreht sich um die Maßlosigkeit des Menschen im Hinblick auf die Ausbeutung der Natur beziehungsweise darum, wie die Natur zurückschlägt: um die Rache der Natur. Und es geht in dem vor fast 175 Jahren erschienen Werk mit seinen 135 Kapiteln um die Spannungen in multikulturellen Gesellschaften, die Überwindung der Angst vor dem Fremden, die Folgen von Ausgrenzung, das Einfordern religiöser Toleranz, die Überheblichkeit des weißen Mannes, den kritischen Blick auf die Zivilisation, die Anfälligkeiten der Demokratie. Es geht um die Gefahren, die von charismatischen Führern ausgehen, die Macht der Rhetorik, die Verführbarkeit des Menschen. Es geht um Aberglauben und Wissenschaft, um Krankheit, Sterben und Tod. Was für ein Buch!
Als Herman Melville im Frühsommer 1851 in einem Hotelzimmer in New York noch fieberhaft (es hieß, er hatte wirklich Fieber) an der Fertigstellung seines Romans arbeitete, da liefen die ersten Bögen des Werks bereits durch die Druckerpresse. Doch bei seinem Erscheinen im selben Jahr war das Buch kein großer Erfolg. Dieser sollte sich tragischerweise erst 30 Jahre nach Melvilles Tod einstellen, als „Moby-Dick“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu entdeckt und als bedeutendstes literarisches Werk der amerikanischen Prosa gefeiert wurde. Literaturnobelpreisträger William Faulkner bedauerte, das Buch nicht selbst geschrieben zu haben – es stieg auf in den Kanon der Weltliteratur und gilt vielen bis heute als unerreicht.
Im Roman wird der Erzähler Ismael, auch ein wenig das Alter Ego von Melville, von Fernweh heimgesucht. Er packt seine Sachen, begibt sich nach New Bedford an der amerikanischen Ostküste, das durch den Walfang für einige Zeit zur wohlhabendsten Stadt Amerikas werden wird, um in dem Küstenstädtchen Nantucket auf einem Walfänger anzuheuern, was er rückblickend weniger seiner eigenen freien Entscheidung zuschreibt, sondern darin einen Teil des „grandiosen Spielplans der Vorsehung“ erkennt, der schon vor langer Zeit entworfen ward. Schon sind wichtige Themen des Romans gesetzt: Schicksal, Vorsehung, menschliche Freiheit, göttlicher Wille – alles, was wir aus den großen Dramen der Antike, der Bibel, der Philosophie- und Literaturgeschichte kennen. Und in der Tat, Melville hat die gesamte – vorwiegend europäische – Kulturgeschichte durchstreift, immer wieder auf die Bibel zurückgegriffen, auf das Buch der Könige und das Buch Hiob, auf Shakespeare, Goethe, Cervantes. Viele Passagen konnte er auswendig zitieren. Er hat vieles aufgegriffen, aber die unterschiedlichen Stile und Genres neu zusammengestellt und dadurch ein einzigartiges, turbulentes und kraftvolles Werk geschaffen.
Und wie jede Generation, so lesen wir heute die Geschichte vom weißen Wal noch einmal anders, vor dem Hintergrund der offensichtlichen Folgen des vom Menschen hervorgerufenen Klimawandels, der gestiegenen Sensibilität gegenüber dem Umgang mit Tieren und der Natur, wenn die bedrängte Umwelt in Form des Wals zurückschlägt, seine Verfolger selbst verfolgt, zur Rechenschaft zieht und deren Schiffe versenkt. Heute wissen wir, dass der Walfang im 19. Jahrhundert etwa 200.000 (!) Wale das Leben gekostet hat – aus ihrem Walfett gewannen die Menschen das begehrte Lampenöl, um die Dunkelheit in den Städten, Häusern und Fabriken zu erhellen, wie auch Schmieröl für die Maschinen, um die Industrialisierung zu fördern. Wir haben völlig vergessen, dass der Walfang in dieser Hinsicht zu Beginn des 19. Jahrhundert die industrielle Revolution erst möglich machte und die mehr als 700 Walfangschiffe baulich so weiterentwickelt wurden, dass die gefangenen Wale bereits auf den Schiffen verarbeitet werden konnten. Der Wal wäre fast vollständig ausgerottet worden, hätte man nicht zufällig in den USA billiges Erdöl gefunden und gefördert, das den Walfang schließlich zu einer unrentablen Sache machte.
Zugleich muss man sich davor hüten, „Moby-Dick“ nur in eine Richtung zu lesen. So ist der Roman immer wieder vereinnahmt worden, als Kritik an der Industrialisierung, als Menetekel für die unheilvolle Verführungskraft von Diktatoren und Führerfiguren, die eine Gesellschaft in den Abgrund reißen kann. Als Warnung vor der Rache der Natur, aber auch als Aufruf zu Toleranz und Inklusion, als Loblied auf die lebensrettende Freundschaft. Schauen wir uns im Folgenden drei ausgewählte Aspekte dieses geradezu unfassbaren Werks an: die Angst vor dem Fremden und die religiöse Toleranz, die Medizin und den weißen Wal.
Fortsetzung des Textes im PDF unten
Veranstaltungshinweis: Am 21. September 2023 um 18 Uhr findet in der Evangelischen Akademie Frankfurt im Rahmen der Reihe „Medizin in der Literatur“ eine Veranstaltung zu Herman Melvilles „Moby-Dick“ statt. Die Schauspielerin Mechthild Großmann wird Passagen aus dem Roman vortragen, ergänzt durch Kommentare aus interdisziplinärer Perspektive.
„Die Odyssee“
Ein sensationeller Animationsfilm über die Geschichte einer Flucht
Von Dr. Margrit Frölich
im Juli 2023
Wie kann ein Film, der sich an junge Menschen richtet, von so ernsten Themen wie Flucht, Verfolgung, Gewalt und Angst erzählen? Der renommierten französischen Animationskünstlerin und Filmemacherin Florence Miailhe ist das in ihrem Animationsfilm „Die Odyssee“ auf eindrucksvolle Weise gelungen. Im vergangenen Jahr startete der Film auch in den deutschen Kinos, die Evangelische Filmjury zeichnete ihn damals als Film des Monats aus. Da ahnten wir noch nicht, welche monströse Dimension das Thema Flucht – das große Thema des 21. Jahrhunderts – durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine bekommen würde. Denn seit dem Beginn des Krieges sind nach Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats 22,6 Millionen Menschen aus ihrem Land geflohen. Jetzt hat die Evangelische Filmjury diesen großartigen Animationsfilm in einer Veranstaltung auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg präsentiert, und ich hatte dort Gelegenheit, die Regisseurin kennenzulernen und mit ihr über „Die Odyssee“ zu sprechen.
Zum Inhalt: Die Geschwister Kyona und Adriel leben in einem friedlich anmutenden kleinen Dorf. Doch der Schein trügt. Das Dorf wird eines Nachts überfallen und in Brand gesetzt, die Familie muss vor der unmittelbaren Gewalt fliehen. Die rettende Landesgrenze ist nah, doch ist sie nahezu unüberwindlich. Zu entkommen gelingt nur denjenigen, die über gültige Ausweispapiere verfügen. Die Papiere der Familie sind gefälscht. Im Zug, der die Familie über die Grenze bringen soll, werden Kyona und Adriel von ihren Eltern und den kleineren Geschwistern getrennt. Sie müssen nun ihre Reise ins Ungewisse zu zweit fortsetzen. Der Film begleitet die beiden auf den Stationen ihrer Flucht, über einen ganzen Kontinent hinweg, auf dem das Geschwisterpaar immer wieder neuen Gefahren und Gewalt ausgesetzt ist und einmal sogar in die Fänge von Menschenhändlern gelangt. Auf ihrem langen Fluchtweg, bei dem Bruder und Schwester sich verlieren, begegnen den beiden allerhand zwielichtige Gestalten, die sie verraten oder betrügen wollen, aber auch Menschen, mit denen sie Freundschaften schließen. Auf ihrer schier endlosen Odyssee endet für Kyona und Adriel die Kindheit. Viel zu früh müssen sie erwachsen werden.
Kyona trägt ein Zeichenheft als ständigen Begleiter mit sich. Darin hält sie die Porträts aller Menschen fest, die ihr begegnen, und sie zeichnet Skizzen der Ereignisse, die sie erlebt. Als ein Stück lebendiger Erinnerung ist das Zeichenheft für sie von unschätzbarem Wert. Einmal kommt es ihr beinahe abhanden, als es ihr von rabiaten Lageraufseherinnen aus der Hand geschlagen wird. Doch es gelingt ihr, das Heft zu retten, und so kann sie es immer wieder durchblättern, auch nachdem die Flucht für sie beendet ist. Die Stationen der Odyssee, alles, was Kyona und ihrem Bruder Adriel währenddessen widerfährt, wird in dem Film in eindrucksvollen Bildern erzählt, voller Emotionen und mit einer Lebendigkeit, wie nur die Animation sie zum Ausdruck bringt.
Wenn man den Film anschaut, fragt man sich, wo denn wohl dieses Dorf Novi Varna liegen mag, aus dem die Protagonist/innen stammen. Nach einer Weile versteht man, dass es sich um ein fiktives Dorf handelt, das man auf keiner Landkarte findet, weder in Europa noch in Afrika oder Asien oder auf einem der anderen beiden Kontinente dieser Welt. Die fiktive Geschichte ist jedoch so realitätshaltig, dass sie sich überall abspielen könnte, jenseits von einem konkreten Zeitpunkt oder Ort. Mit märchenhaften Zügen unterlegt, hat die Erzählung einen wahrhaftigen Kern und stellt jede faktengesättigte Reportage in den Schatten.
Für die Regisseurin Florence Miailhe hat das Thema ihres Films einen ganz persönlichen Bezug zur eigenen Familiengeschichte. Ihre Urgroßmutter floh 1905 mit zehn Kindern und Ehemann aus Odessa, nachdem die jüdische Familie Zielscheibe antisemitischer Pogrome geworden war. Ihre Großmutter war eines der zehn Kinder. Zuflucht fand die geflohene Familie in Frankreich. 1940 musste dann Miailhes Mutter als Jüdin vor den deutschen Besatzern aus Paris fliehen. Sie floh in die sogenannte unbesetzte Zone des Vichy-Regimes im Süden Frankreichs. Mireille Miailhe (1921–2010), die Mutter der Regisseurin, war Malerin. Die Zeichnungen, die die Regisseurin im Film verwendet hat, sind Originalzeichnungen ihrer Mutter, denn auf ihrer Flucht hatte diese ein Zeichenheft dabei und zeichnete alles auf, Menschen und Gesichter sowie Begebenheiten, die sie auf ihrer Flucht beobachtete. So wie die Protagonistin des Animationsfilms. Ob es Zufall sei, dass Kyona, das Mädchen im Film, so ähnlich aussehe wie sie, will ein Junge im Publikum auf dem Kirchentag von der Regisseurin wissen. Das habe sie nicht bewusst so gezeichnet, erwidert die Regisseurin verblüfft. Tatsächlich sitzen im Publikum bei der Veranstaltung auf dem Kirchentag nicht nur filminteressierte Erwachsene, sondern auch viele Familien mit Kindern ab sechs Jahren, wie auch Jugendliche, für die Animation ein spannendes Ausdrucksmittel ist.
Zehn Jahre hat Miailhe gebraucht, um diesen Film fertigzustellen. Es ist ihr erster Langanimationsfilm, nach neun Kurzanimationsfilmen, von denen etliche bedeutende Preise gewonnen haben. Das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit der Autorin Marie Desplechin, die Bücher für Kinder und Erwachsene schreibt. Begonnen hat die Regisseurin den Film im Jahr 2006. Ausgangspunkt waren für sie die globalen Themen Migration und Flucht, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts im Fokus der Öffentlichkeit stehen, vielfach verbunden mit dem Wunsch der Flüchtenden, in Europa Zuflucht zu finden. Migration und Flucht sind aber nicht nur Themen der Gegenwart, sondern ein universelles Phänomen, das zu unterschiedlichen Zeiten für viele von Verfolgung bedrohte Menschen eine existenzielle Rolle spielte. Indem sie das Thema zum einem mit den historischen Erfahrungen ihrer Familie in Bezug setzte, aber aus einer konkreten zeitlichen und geografischen Verortung löste und in einen fiktionalen Zusammenhang stellte, wollte die Regisseurin diese universelle Dimension deutlich machen. Oft hat die berührende Geschichte von Kyona und Adriel etwas Märchenhaftes, jedoch ohne dass der Film je die ernsthafte Tiefenschärfe verlieren würde – mal in farbenfroher Pracht, mal in düsteren Schattierungen, in denen sich jeweils Hoffnung auf Rettung, aber auch die Furcht vor drohender Gefahr widerspiegeln.
„Die Odyssee“ wurde nach einem ungewöhnlichen Animationsverfahren hergestellt, unter Verzicht auf jegliche Computeranimationstechnik. Dafür ist neben dem künstlerischen Talent handwerkliches Können wichtig. Miailhe hat für die Ausarbeitung mit einem Team von Animationszeichner/innen aus drei verschiedenen Ländern zusammengearbeitet: Frankreich, Deutschland und Tschechien. Aufwendig war das Animationsverfahren deshalb, weil hier die Bilder direkt unter der Kamera in Öl auf Glas gemalt wurden. Mehr als 120.000 Einzelbilder entstanden dabei. Auf dem Glas wurden die unterschiedlichen Schichten des Bildes geschaffen: Figuren, Set, Effekte und Farben, wobei das ursprünglich verwendete Bild mit jedem neuen Bild ein wenig verändert wurde. Ein langwieriger Prozess, der äußerste Sorgfalt erforderte, denn wenn man beim Malen einen Fehler machte, musste man wieder von vorn anfangen. Die Musik, die die beiden deutschen Musiker Philipp E. Kümpel und Andreas Moisa komponiert haben, ist zudem ein wesentliches Element, das dem Film im Zusammenspiel mit der Geschichte, den Farben und den bewegten Bildern die besondere Emotionalität verleiht. Bleibt noch die ausdrucksstarke Erzählstimme zu erwähnen, die aus der Perspektive der nunmehr erwachsenen Kyona die Geschichte der Flucht aus der Rückschau erzählt und in der deutschen Synchronfassung von der bekannten Schauspielerin Hanna Schygulla stammt.
Der Film „Die Odyssee“ ist als DVD erhältlich und kann bei der Evangelischen Medienzentrale der EKHN digital ausgeliehen werden. Doch nirgendwo wirken Filme so schön wie auf der großen Kinoleinwand. Den Trailer zum Film finden Sie hier, die Begründung zur Auszeichnung der Evangelischen Filmjury hier.
Land der Wunder, wunderbares Land
75 Jahre Israel
Von Jonathan Horstmann
im Juni 2023
Israel hat in diesem Frühjahr zum 75. Mal seinen Unabhängigkeitstag gefeiert. Die Feierlichkeiten begannen im April und zogen sich bis in den Mai, denn auf welchen Monat der Jahrestag der Staatsgründung fällt, hängt davon ab, ob man sich am Datum des jüdischen oder des gregorianischen Kalenders orientiert. Nach letzterer Zeitrechnung war es der 14. Mai 1948, an dem die Vertreter/innen der jüdisch-zionistischen Organisation einst in Tel Aviv vor 250 Zeug/innen die israelische Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten und damit eine historische Chance ergriffen: die Ausrufung einer sicheren Heimat für Jüdinnen und Juden. „Heute, am letzten Tag des britischen Mandats über Palästina, verkünden wir kraft unseres natürlichen und historischen Rechts und aufgrund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Errichtung eines jüdischen Staates im Lande Israel – des Staates Israel“, so der zentrale Satz der Erklärung, die vom neuen Ministerpräsidenten David Ben Gurion verlesen wurde.
Palästinakrieg und Katastrophe
Dass der jüdische Staat lange Bestand haben würde, war keineswegs sicher. Zwar konnten die Gründer/innen mit dem Rückhalt der Uno rechnen, die ein halbes Jahr zuvor beschlossen hatte, Palästina aufzuteilen und sowohl den Juden als auch den Arabern einen eigenen Staat zuzubilligen. Doch seither war das Land in Aufruhr. Milizen der Araber, die die geplante Zweistaatenlösung ablehnten, lieferten sich täglich Kämpfe mit paramilitärischen zionistischen Gruppen; auf beiden Seiten wurden gräuliche Attentate verübt. Mehr noch: Die arabischen Nachbarländer hatten angedroht, einen neuen jüdischen Staat umgehend anzugreifen, was sie nur einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung dann auch taten. Israel befand sich also gleich zu Beginn nicht nur in einem innerstaatlichen Gefecht, sondern zugleich im Krieg mit Ägypten, Syrien, Transjordanien, dem Libanon und dem Irak. Es kam einem Wunder gleich, dass am Ende nicht die Arabische Liga, sondern die wehrhafte israelische Armee siegreich war – der erste Erfolg der jungen Republik.
Auf die Ereignisse rund um die Staatsgründung blicken die beteiligten Parteien fundamental verschieden zurück. Die Araber bezeichnen den Palästinakrieg als Nakba (Katastrophe), in deren Folge etwa 700.000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die meisten Flüchtlinge und ihre Nachkommen leben bis heute im Exil, häufig staatenlos. Umgekehrt erhöhte sich die Zahl der anfangs 650.000 Juden in Israel binnen vier Jahren auf mehr als das Doppelte, bedingt durch die Immigration europäischer Holocaust-Überlebender und die Masseneinwanderung jüdischer Flüchtlinge aus arabischen Staaten. Trotz unterschiedlicher kultureller Prägungen wuchsen sie schnell zu einer selbstbewussten Gemeinschaft zusammen. Städte wie Haifa entwickelten sich zu Metropolen, während auf dem Land die sozialistische Kibbuzbewegung florierte.
Die Aufbaujahre
Anhand der faszinierenden Schwarz-Weiß-Bilder, die der Fotograf Rudi Weissenstein in den 1950er-Jahren an den unterschiedlichsten Orten in Israel aufnahm, kann man die fröhliche Stimmung der Aufbaujahre noch heute nachvollziehen. Zu sehen sind vornehme Society-Events in urbaner Kulisse, aber auch Frauen, die trockene Äcker mit dem Pferdepflug auflockern, oder Jugendliche in der Negev-Wüste. Zusammengenommen eine Gesellschaft, mit der sich die Verheißung der hebräischen Bibel zu verwirklichen schien, das Volk Gottes werde verwüstete Städte wieder aufbauen, Weinberge pflanzen und Gärten anlegen (Amos 9,14). Der kühne Traum des bereits 1904 gestorbenen Zionismus-Vordenkers Theodor Herzl hatte sich erfüllt.
Obwohl viele Hände zupackten, um eine tragfähige Wirtschaft und Infrastruktur zu errichten, war Israel wegen seiner zunächst äußerst knappen Ressourcen auch auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Deshalb suchte die Knesset früh den Kontakt zur Bundesrepublik Deutschland, die nach dem Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden ihrerseits eine „Wiedergutmachung“ anstrebte. 1952 wurde das Luxemburger Abkommen geschlossen: Die Bundesrepublik verpflichtete sich, zum Teil gegen heftigen Widerstand der Konservativen im Bundestag, zwölf Jahre lang Waren im Gesamtwert von drei Milliarden D-Mark an Israel zu liefern. Die DDR hingegen war zu keiner solchen Hilfeleistung bereit. Als erklärtermaßen antifaschistischer Staat sah sie es nicht als ihre Aufgabe an, eine historische Schuld zu begleichen.
Demokratie ohne Verfassung
Eine Frage, die unter den Israelis früh aufkam, war die nach der Identität ihres Landes: Gibt das Judentum die Ausgestaltung des Gemeinwesens vor? Oder sollten Religion und Staat getrennt sein? In der Unabhängigkeitserklärung hatte man betont, Israel werde „all seinen Bürgern, ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen“. Doch eine Verfassung, die es ermöglicht hätte, sich auf entsprechende Grundrechte zu berufen, wurde nie verabschiedet. Der Historiker Meron Mendel erklärt sich dieses Versäumnis einerseits mit dem permanenten Ausnahmezustand der israelischen Politik von Beginn an, andererseits mit der Schwierigkeit, das Spannungsverhältnis zwischen der religiösen und der weltlichen Fundierung des Staatswesens formal zu definieren. „Man hatte gehofft, dass sich die Frage in der gelebten Praxis beantworten würde“, so Mendel. „Die vergangenen 75 Jahre zeigen aber das Gegenteil: wie weit die Vorstellungen diesbezüglich auseinandergehen.“
Deshalb sind im aktuellen Jubiläumsjahr auch nicht alle Israelis in Feierstimmung. Die Historikerin Tamar Amar-Dahl, die seit 1995 in Deutschland lebt, hat 2006 ihren israelischen Pass abgegeben, aus Protest gegen den damaligen Libanonkrieg. Den Rechtskurs der Regierungen unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu betrachtet sie mit Sorge, vor allem das 2018 beschlossene Nationalstaatsgesetz, das Israels Charakter als explizit jüdischer Staat festschreibt – ein Affront gegen die Unabhängigkeitserklärung, wie sie meint. Dieser Tage kommt noch die umstrittene Justizreform hinzu, mit der die Gewaltenteilung ausgehebelt werden soll. „Mein Verständnis von Demokratie ist ein anderes“, so Amar-Dahl. Und damit ist noch nicht einmal die schwerste Hypothek für den Frieden im Nahen Osten benannt: Israels dauerhafte Besetzung der West Bank und des Gazastreifens – seit dem Sechstagekrieg 1967 der Stachel im israelisch-palästinensischen Verhältnis.
Kulturelle Freundschaft
Dem gegenüber steht das der ganzen Welt zugewandte freundliche Gesicht Israels als lebendige Kulturnation. Das Land reüssiert in der modernen Medizin und bringt ständig neue Hightech-Produkte hervor; es leistet Großes in der bildenden Kunst, in der Mode, in der Kulinarik und Musik. Als erfolgreicher Teilnehmer beim Eurovision Song Contest ist es für seine quirlig-queeren Popstars bekannt. Und Schriftsteller/innen und Filmemacher/innen wie Amos Oz, Lizzie Doron, David Grossman, Zeruya Shalev und Assi Dajan machen die Abgründe des Nahostkonflikts an menschlichen Einzelschicksalen erfahrbar, gerade auch für ein deutsches Publikum.
Seit Willy Brandt 1973 als erster deutscher Bundeskanzler nach Jerusalem reiste, gehört es unter Politiker/innen hierzulande zum guten Ton, sich als Freundin oder Freund Israels zu zeigen. Viele versuchen dabei den schwierigen Spagat, sowohl die Sicherheit Israels als „deutsche Staatsräson“ (Angela Merkel) zu betonen wie auch das Recht der Palästinenser auf ein selbstbestimmtes und demokratisches Leben hochzuhalten, das derzeit in weiter Ferne liegt. In Israel werden solche diplomatischen Drahtseilakte genau beobachtet – und gern auch zum Gegenstand von Satire gemacht. Wenn im israelischen Fernsehen die Sketch-Show „Eretz Nehederet“ läuft, in der Politiker/innen und Prominente aus dem In- und Ausland parodiert werden, schaut regelmäßig eine Million Menschen zu, ein Neuntel der Bevölkerung. Der immer gleiche Satz am Ende jeder Sendung ist zum geflügelten Wort geworden: „Und vergesst nicht, wir haben ein wunderbares Land.“
Hinweis: Dieser Text erschien am 1. Juni 2023, vor den Gewaltverbrechen der Hamas an jüdischen Israelis seit dem 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Nahost, weshalb diese einschneidenden Ereignisse im Text weder erwähnt noch reflektiert werden. Einen aktuelleren Stand zur Lage bietet die Aufzeichnung der Veranstaltung „75 Jahre Israel. Eine bleibende Anfrage an die christlichen Kirchen inmitten des aktuellen Krieges“, die am 30. Oktober 2023 in der Evangelischen Akademie Frankfurt stattfand.
Dunkel war’s, der Mond schien helle
Über das Aushalten von Widersprüchen
Von Annette Lorenz
im Mai 2023
Dunkel war’s, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur,
als ein Wagen blitzesschnelle
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschoss’ner Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.
Und ein blondgelockter Jüngling
mit kohlrabenschwarzem Haar
saß auf einer grünen Kiste,
die rot angestrichen war.
Neben ihm ’ne alte Schrulle,
zählte kaum erst sechzehn Jahr,
in der Hand ’ne Butterstulle,
die mit Schmalz bestrichen war.
Als ich dieses Juxgedicht in meiner Schulzeit das erste Mal las, war ich erleichtert. Lyrik kann auch lustig sein, wer hätte das gedacht? Von wem das Gedicht stammt, weiß niemand so genau. Den Ursprung vermutet man im sächsischen Volksmund irgendwann im 19. Jahrhundert. Über die Jahre entstanden unzählige Varianten. Der Witz entsteht durch die Aneinanderreihung zahlreicher Oxymora. Zwei sich widersprechende Begriffe werden als rhetorische Figur miteinander verbunden. Damit kommt das Gedicht charmant-lustig daher.
Was uns in der Lyrik schmunzeln lässt, ist im wahren Leben oft schwer auszuhalten. Widersprüche begegnen uns überall: In unseren Beziehungen, im politischen Weltgeschehen, im eigenen Verhalten, in Erwartungen, die an uns gestellt werden. Wenn es nur die Sprache wäre, die mit absurden Wortkompositionen wie „Wahlpflichtfach“, „Flüssiggas“ oder „Ausnahmeregel“ Widersprüche als Normalität erscheinen lässt, ließe es sich vielleicht noch ertragen. Doch sind es eher die großen Widersprüche unserer Zeit, die dafür sorgen, dass uns das Lachen im Hals stecken bleibt.
Wir wollen Frieden und das Ende jeder Waffengewalt und müssen dennoch diskutieren, ob wir zum Ziele des Friedens schweres Kriegsgerät in die Ukraine liefern sollen. Wir beobachten mit Erschrecken den zunehmenden Klimawandel, der uns sagt: Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern. Wir wettern gegen Produktionsbedingungen von Discounter-Klamotten und wühlen uns dann doch durch den Saison-Sale. Wir sehen parkende SUVs vor Bioläden (oder fahren selber mit einem vor?). Wir wollen weniger Autoverkehr und investieren als Gesellschaft dann doch in neue Autobahnen. Wir wollen keine Massentierhaltung, doch bezahlbar soll das Steak auf dem Grill weiterhin bleiben. Wir wissen, dass wir Kinderarmut bekämpfen müssen, und tun es dennoch seit Jahrzehnten nicht. Wir hören Mütter (ich bin eine von ihnen), die darunter leiden, dass die widersprüchlichen Erwartungen an „die gute Mutter“ sie schier auffressen: Immer präsent, kümmert sie sich hingebungsvoll um ihre Kinder, erfüllt ihnen alle Wünsche, verwöhnt sie aber nicht, macht gleichzeitig eine Wahnsinnskarriere, ist in ihrer Partnerschaft Freundin, Zuhörerin und tolle Liebhaberin, vergisst über ihrem Muttersein aber bitte nicht ihre Freundinnen und ihr soziales Umfeld, nimmt sich Zeit für Selfcare und sieht bei allem auch noch super aus.
Die Liste der Widersprüche, die wir täglich auszuhalten haben, ließe sich über weitere drei Seiten fortführen. Mindestens. Selbst das Wetter in diesem Frühling erscheint als Oxymoron. Es ist warm, wenn es kalt sein sollte, und schneit, wenn es Sonnenschein geben sollte.
Die Fähigkeit, mit den Oxymora des Lebens umzugehen, ist uns Menschen nicht angeboren. Wir sind Wesen, die Klarheit und Eindeutigkeit brauchen. Ist das Gegenüber Freund oder Feind? Ist die Wetterlage bedrohlich oder gut? Diese Fragen sind uns evolutionär in die Gene geschrieben. Sicherheit und klare Orientierung erscheinen wichtig, um selbstbestimmt durch unser Leben navigieren zu können.
Nun sitzen wir im Leben aber ständig auf roten Kisten, die grün angestrichen sind, und essen mit Schmalz bestrichene Butterstullen. Die Welt war nie widerspruchsfrei und wird es nie sein. Mit zunehmender Pluralisierung und freiheitlichen Entfaltungsmöglichkeiten für alle, wird ein ehemals vorherrschender gesellschaftlicher Konsens aufgelöst und unser zwischenmenschliches Miteinander komplexer. Es kommen immer mehr Uneindeutigkeiten und Widersprüche hinzu.
Die Menschheit hat viele Versuche unternommen, die Welt zu ordnen – sie versteh- und handhabbar zu machen. Eines dieser gesellschaftlichen Ordnungssysteme ist der Rassismus, der Menschen in ein Ordnungssystem zwängt. „Erfunden“ in Zeiten der Aufklärung, um die Unterdrückung, Ausbeutung und Entrechtung anderer Menschen moralisch vor dem aufgeklärten Menschenbild des weißen Mannes zu rechtfertigen, und mit Auswirkungen auf unser Wahrnehmen und Denken bis heute. Ständig sortieren und hierarchisieren wir Menschen, indem wir sie Gruppen zuordnen und Differenzen betonen, statt Gemeinsamkeiten zu suchen. Wir tun das alle, häufig unbewusst aufgrund gelernter Kriterien, die wir bei der Beobachtung von Menschen anwenden und mit denen wir andere Menschen automatisch bewerten. Diese Kriterien betreffen meist das Aussehen und zugeschriebene religiöse, kulturelle oder ethnische Merkmale.
Auch unsere seit Jahrhunderten tradierte Geschlechtervorstellung, die lediglich zwei Geschlechter umfasst, denen klare Charaktereigenschaften, Wesensmerkmale und damit verbundene gesellschaftliche Aufgaben zugeschrieben werden, ist ein solches Ordnungssystem. Wer in diese binäre Geschlechterordnung – die nur zwei Geschlechter, männlich und weiblich, anerkennt und Heterosexualität als naturgegeben ansieht – nicht hineinpasst, wird abgewertet. Denn wer nicht der Norm entspricht, ist unnormal, nicht richtig, kann also nicht dazu gehören.
Unsere immer auf Wachstum und Optimierung getrimmte Gesellschaft unterscheidet auch scharf zwischen leistungsfähigen und nicht leistungsfähigen Menschen. Hier werden Gruppen unter dem Gesichtspunkt mangelnder Nützlichkeit für die Gesellschaft herabgestuft oder verächtlich gemacht. Langzeitarbeitslose zum Beispiel. Wohnungslose. Kranke und alte Menschen. Wer nicht der Norm des gesunden, jungen bis mittelalten, fröhlich der Erwerbsarbeit nachgehenden Menschen entspricht, gehört nicht zum Kern der Gesellschaft, rückt an den Rand.
Auch nationalstaatliche Grenzen, ganz besonders die EU-Außengrenzen, fungieren als „Sortiermaschinen“, wie der Soziologe Steffen Mau es in seinem Buchtitel ganz treffend benennt. Sie wehren Menschen ab, die hilfebedürftig sind. Dadurch produzieren sie neue Widersprüche: Wir sichern Menschen humanitäre Hilfe und ein Recht auf Asyl zu (schließlich hält Europa die Menschenrechte hoch), tun aber auf der anderen Seite alles dafür, dass diese Rechte nicht in Anspruch genommen werden können. Um Recht, also Asylrecht, zu bekommen, muss Recht gebrochen werden, also Grenzen illegal überquert werden.
Diese Versuche (und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen), Ordnung inmitten von Widersprüchlichkeit und Komplexität des Lebens herzustellen, sind problematisch. Sie ordnen Menschen in konstruierte Gruppen und bringen diese Gruppen in eine hierarchische Rangfolge. Je höher wir selber in unseren konstruierten Rangfolgen stehen, umso weniger bemerken wir, dass wir andere Menschen sortieren und welche Auswirkungen das hat. Die Politologin Emilia Roig spricht hier von einer „Empathielücke“ bei Menschen in privilegierten Positionen, die ständig (mehr oder weniger explizit) zu anderen sagen: Du gehörst dazu, du nicht. Du darfst mitbestimmen, du darfst nur unsere Büros putzen. Und: Du mit deiner behaupteten Identität, die ich in keine meiner Schubladen einordnen kann, du verunsicherst mich, deswegen darfst du nicht sein, wie du bist.
Wir kommen nicht weiter mit diesen alten, menschenfeindlichen Ordnungssystemen. Doch Versuche, sie aufzubrechen und neue Wege zu wagen, bringen neue Verunsicherung hervor. Es kommt zu Abwehr und Widerstand. Populisten machen sie sich zu eigen und versuchen, mit nationalistischer Einteilung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit und mit plakativen Antworten auf komplizierte Fragen unserer Zeit Wählerstimmen zu erhaschen und Macht zu gewinnen. Verschwörungserzählungen, die postulieren, dass es für komplexe Zusammenhänge vermeintlich einfache Erklärungen gebe, greifen diese ausschließenden Ideologien auf. Sie identifizieren meist schuldige „Eliten“, denen dann häufig antisemitische Stereotype zugeschrieben werden.
Wie halten wir sie also aus, die sitzenden Leute, die stehen und schweigend ins Gespräch vertieft sind? Wie überqueren wir die schneebedeckte, grüne Flur? Was machen wir mit den Menschen und den Ereignissen, die wir nicht in unser vertrautes Weltbild einordnen können? Wie ertragen wir das Nichtverstehen und das Nichtzuordnenkönnen?
Ich glaube, der erste Schritt liegt in der Anerkennung der Tatsache, dass wir – selbst mit schärfstem Intellekt und bester Bildung – nicht alles verstehen können, dass sich Widersprüche nicht in Wohlgefallen auflösen lassen. „Harmonisieren Sie nicht so viel“, sagte mein Dogmatikprofessor häufig zu mir, wenn ich wieder versuchte, Bibelstellen miteinander in Einklang zu bringen, statt sie in ihrer Mehrdeutigkeit stehen zu lassen. Gute Exegese bedeutet, das habe ich gelernt, die Vielfalt der Schrift zu entdecken und herauszuarbeiten – und nicht alles plattzuwalzen, um am Ende die eine widerspruchslose (langweilige) Aussage hochhalten zu können. Die jüdische Tradition des Bibellesens praktiziert diesen Wert schon lange. Im Midrasch, einer alten Sammlung jüdischer Bibelkommentare, heißt es: „Siebzig Facetten hat die Thora“ (Shemot Rabba zu 4. Mose 7,13), was bedeutet, dass eine Bibelstelle viele Bedeutungen haben kann. Eine widerspruchsoffene Schriftauslegung attestiert der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ auch der Kultur des Islams bis zum Beginn der Moderne. Erkennbar wird das in älteren Korankommentaren, die mehrere Interpretationen nebeneinanderstellen, ohne eine davon als die „richtige“ hervorzuheben. Verdrängt wurde diese Auslegungstradition durch die Aufklärung mit ihren Forderungen nach Widerspruchsfreiheit und „Vereindeutigung“ der Welt, die im Zuge des Kolonialismus diese Auslegungskultur verdrängte.
Neben meinem Dogmatikprofessor prägte mich der Migrationspädagoge Paul Mecheril in dieser Erkenntnis. Er spricht, sicher mit Augenzwinkern, von der „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Ein Widerspruchsbegriff, um im Umgang mit Widersprüchen zu helfen. Na wunderbar. Was ich aus seinem Konzept gelernt habe: Ich werde kompetent handlungsfähig (hier im Kontext von pädagogischer Handlungsfähigkeit), wenn ich zuerst meine eigene Inkompetenz, mein Nichtwissen anerkenne. Und damit auch offen und souverän umgehe. Es ist nicht schlimm, etwas nicht zu wissen. Schlimm ist es zu meinen, Wissen über andere Menschen zu haben und ihnen anhand von problematischen Ordnungssystemen Eigenschaften und Rollen in dieser Gesellschaft zuzuschreiben.
Mir persönlich haben Vorbilder und gute Lehrmeister und Lehrmeisterinnen dabei geholfen zu lernen, Uneindeutigkeiten auszuhalten. Mir wurde zugestanden, Fehler zu machen und Dinge nicht zu wissen. Mir wurde zugetraut, kreative Lösungen zu finden. Ganz sicher nicht immer und überall auf meinem Bildungsweg. Aber manchmal zum Glück.
Die gute Nachricht ist nämlich die, dass wir den Oxymora unseres Lebens nicht ohnmächtig ausgeliefert sein müssen. Der Mensch kann lernen, sie zu regulieren. Die Psychologin Else Frenkel-Brunswik hat dafür den Begriff der Ambiguitätstoleranz geprägt. Damit meint sie die Fähigkeit eines Menschen, Mehrdeutiges zu ertragen und mit Widersprüchen und Unsicherheiten souverän umzugehen. Diese Kompetenz lässt sich erlernen und trainieren. Bildung und Erziehung spielen dafür eine bedeutende Rolle. Statt zu polarisieren, sobald wir etwas als uneindeutig oder widersprüchlich wahrnehmen, können wir üben, Situationen aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Wir können üben, immer wieder kommunikativ unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung abzugleichen – Perspektivübernahmen sind ein wichtiger Aspekt emotionaler Intelligenz. Wir können die Bereitschaft entwickeln, uns immer wieder hinterfragen zu lassen. Wir können üben zuzugeben, etwas nicht zu wissen, und Fehler einzugestehen. Wenn wir an uns selbst widersprüchliches Verhalten beobachten, ist es hilfreich zu konkretisieren: Welche Folgen hat mein Handeln für mich und für andere?
Ambiguitätstoleranz ist eine Haltung und ein Wunsch, den wir entwickeln können: Möchte ich die Wirklichkeit in ihren vielzähligen Schattierungen erleben? Möchte ich Menschen mit all ihren Facetten, Unterschiedlichkeiten und Widersprüchen kennenlernen? Sehe ich die Chance, die Widersprüche mir bieten? Natürlich retten wir damit nicht die Welt. Aber wenn wir alle ein klein wenig resilienter werden im Aushalten all der Widersprüchlichkeiten und Konflikte, die uns diese Zeit zumutet, vielleicht können wir dann gemeinsam den Populisten und Verschwörungsideologinnen, den Fundamentalisten und Extremistinnen die Stirn bieten. Das zumindest ist meine Hoffnung.
„Ein Leben ohne Widerspruch gibt es nicht. Wir könnten gar nicht handeln, wenn wir uns nie widersprüchlich verhalten würden.“
Samuli Schielke, Sozialanthropologe
Identität, Moral, Veränderung
… und die Sache mit dem Teller
Von Dr. Stina Kjellgren
im April 2023
In letzter Zeit bin ich mit so vielen neuen Begriffen in Kontakt gekommen, dass mein Kopf schwirrt. Identitätsschützende Denkfehler, Opferolympiade, hierarchiebedingte Empathielücken, moralische Elastizität, Identitätspolitik, die Jahreslosung 2023 – ja, Sie merken, es brummt! Und irgendwie haben sie alle etwas mit der Frage zu tun, die mich seit unserem Jugendbildungsprojekt #Change begleitet: Wie entsteht Veränderung – im Privaten wie gesellschaftlich? Nur: Wie soll ich all diese Schlagwörter in einem Text unterbringen? Wie kann ich das Durcheinander in meinem Kopf so sortieren, dass es einen Sinn ergibt? Fangen wir doch mit dem Salatteller an und schauen dann weiter.
Salatteller? Mit diesem Beispiel hat der Philosoph Philipp Hübl bei unserer Veranstaltung „ichduwir“ im Februar schön dargestellt, wie identitätsschützende Denkfehler funktionieren. Bei einem Experiment wurden die Testpersonen per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe bekam Salat serviert, die andere Fleisch. Dann wurden die Zugehörigen beider Gruppen gefragt, ob sie glaubten, dass Tiere Leid empfinden könnten. Obwohl die Gruppen per Zufallsprinzip eingeteilt worden waren, unterschieden sich ihre mehrheitlich gegebenen Antworten signifikant, was Hübl mit „kognitiver Dissonanz“ erklärt: Wer Steak auf dem Teller hat und ein guter Mensch sein will (wer will das nicht?) kommt in ein moralisches Dilemma, wenn er oder sie über den Hintergrund des Fleisches ins Nachdenken kommt. Diese kognitive Dissonanz ist schwer auszuhalten. Wie lösen die Testpersonen sie also auf? Sie könnten sich natürlich ein Fehlverhalten einstehen und mit dem Fleischkonsum aufhören. Aber das würde eine Verhaltensveränderung bedeuten, die bekanntermaßen keine leichte Sache ist. Viel einfacher ist es, sich kognitiv zu wehren. Sprich die Frage nach dem tierischen Leid gar nicht ernsthaft an sich heranzulassen (was denke ich wirklich?), sondern lieber schnell eine Antwort zu finden, die das moralische Selbstbild nicht so belastet – nämlich, dass Tiere kein Leid empfänden. Und da haben wir ihn, den identitätsschützenden Denkfehler. Ein kleiner Trick, mit dem wir Menschen unser Selbstverständnis schützen. Hübl zieht daraus die Schlussfolgerung, dass unser moralischer Kompass (unsere Werte, Normen und Tugenden) ein wichtiger Bestandteil unserer Identität ist – wenn er herausgefordert wird, wehren wir uns.[1]
Was das mit dem Thema Veränderung zu tun hat? Na, zum Glück sind wir Menschen lernfähig. Wir können (anders als Tiere, so Hübl) mit uns selbst in Verbindung treten, über uns selbst nachdenken und mit uns selbst kommunizieren. Nur weil wir als Kinder gelernt haben, dass etwas gut/richtig/falsch/verwerflich ist, müssen wir an dieser Vorstellung nicht für ewig festhalten. In Hübls Worten ist unsere moralische Identität elastisch, und diese Elastizität ist – jenseits des Experiments mit dem Fleischteller – durchaus nützlich. Denn sie macht es möglich, dass gesellschaftliche Veränderungen stattfinden können. Immer dann, wenn genug Menschen ihre festgefahrenen Einstellungen ändern und ihren moralischen Kompass umschwenken lassen, werden Fortschritte möglich.
Klingt schön. Und gleichzeitig ein wenig so, als ob wir zum Beispiel die Einführung des Frauenwahlrechts 1918 vor allem der damaligen männlichen Population und ihrer tollen moralischen Elastizität zu verdanken hätten. So meint Hübl es sicherlich nicht. Denn es spielt natürlich eine Rolle, warum ein Teil unserer moralischen Identität plötzlich anfängt, sich zu dehnen. Werte sind, wie wir wissen, meist ziemlich stabil; die Kompassnadel fängt nicht einfach so mal an, sich zu drehen. Wieso es dann manchmal doch dazu kommt, hat Hübl in seinem Vortrag nicht erklärt, aber ich stelle mir vor, dass es etwas mit Perspektivwechseln und Empathiefähigkeit zu tun hat. Und mit Kampf. Zum Beispiel – um beim Thema Frauenwahlrecht zu bleiben – mit dem Kampf vieler mutiger Frauen vor mehr als hundert Jahren. Sicherlich hätte es keine Erweiterung des Wahlrechts gegeben, wenn nicht ganz, ganz viele Frauen – zum Teil mit Gefahr für Leib und Leben – sich dafür eingesetzt hätten, die damals geltende gesellschaftliche Macht- und Hierarchiestruktur infrage zu stellen. Wenn sie nicht darauf gepocht hätten, als mündige Bürger (das generische Maskulinum war damals Standard) mit dem gleichen Recht auf demokratische Teilhabe gesehen und anerkannt zu werden. Ähnlich könnte man die Bürgerrechtsbewegung in den USA beschreiben oder den Kampf der LSBTQI*-Bewegung gegen Stigmatisierung und rechtliche Einschränkungen. Der gesellschaftliche Bewusstseinswandel war hier stets ein wichtiger Faktor, aber er kam nicht aus dem Nichts, sondern hing damit zusammen, dass Betroffene und Verbündete sich für einen Perspektivwechsel und ein Umdenken einsetzten. Vorherrschende moralische Vorstellungen wurden dadurch herausgefordert, dass Menschen sich zusammenschlossen und Benachteiligungserfahrungen in die Politik einbrachten, denen ein angeborenes Identitätsmerkmal zugrunde lag.
Jetzt will ich mit diesem Text kein unkritisches Lob auf die Identitätspolitik singen. Es gibt hier kritische Aspekte zu bedenken, und wer sich dafür interessiert, kann hierzu die Videos mit Jörg Scheller und Charlotte Uhlig auf unserem Youtube-Kanal schauen (die sind in manchen Teilen sogar ziemlich witzig.) Worauf ich hinauswill, ist, dass die Antwort auf der Frage, wie es zu Gesellschafts- und Einstellungsveränderungen kommt, auch (mal/gelegentlich/gegebenenfalls) etwas mit der Sichtbarkeit von Lebensrealitäten zu tun haben könnte – zusammen mit dem Vermögen, einander zuzuhören, sich ineinander hineinzuversetzen und von dem Empfinden einer Person, deren Lebensrealität man selbst nicht teilt, bewegt zu werden. Also mit Empathiefähigkeit.
Wenn das so ist, könnte auch das Konzept der Empathielücke relevant werden. Hier geht es um die Frage, wer von wem – mehr oder weniger automatisch – wie viel Empathie bekommt und woran das liegt. Die Politologin Emilia Roig führt dafür in ihrem Buch „Why We Matter“ Hierarchien als Grund an. Als Gesellschaftsmitglieder werden wir eher darin trainiert, uns in Personen hineinzuversetzen, die den unsichtbaren Gesellschaftsnormen (weiß, männlich, hetero, cis und nichtbehindert) entsprechen, als in Personen, die hiervon abweichen. So lernen Mädchen früh, die Welt aus Sicht der Jungen zu betrachten, weil Kinderbücher und Filme überwiegend aus deren Perspektive erzählt werden. Nichtweiße Menschen lernen wiederum, sich in weiße Menschen hineinzuversetzen, arme in wohlhabende und so weiter. „Uns fehlt das Einfühlungsvermögen für diejenigen, die als minderwertig konstruiert wurden“, schreibt Roig und malt das Bild von unsichtbaren Sockeln, von denen aus es schwieriger ist, Empathie zu verspüren.[2]
Und so kommen wir zur aktuellen Jahreslosung (falls Ihnen der gedankliche Sprung ein bisschen zu weit war, einfach weiterlesen): „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Was auf Deutsch wie ein ganzer Satz klingt, ist eigentlich ein Name: El Roi (אֵל רֳאִי ’el rå’î). So nennt Hagar, die Sklavin von Abraham und Sara, Gott, als sie in der Wüste von einem Engel aufgesucht wird. Sie ist geflohen, nachdem sie zuerst zu Abraham geschickt worden ist, damit er ein Kind bekommt, und dann von Sara gedemütigt worden ist, als sie schwanger wird. Was mich an der Geschichte fasziniert: Der Engel sagt Hagar, dass sie zu Abraham und Sara zurückkehren soll. Sie soll in den Haushalt zurück, in dem sie von einer eifersüchtigen Frau gedemütigt wird und offensichtlich nicht selbst entscheiden darf, mit wem sie schläft und ob überhaupt. Und dennoch sagt sie: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Sie wird nicht von ihrem Leid erlöst, aber hat das Gefühl, in ihrer schwierigen Situation gesehen worden zu sein. (Und sie soll ihren Sohn Ismael – „Gott hört“ – nennen und unzählige Nachkommen bekommen, was ihr gegebenenfalls Trost/Kraft/Genugtuung gibt.) Gott hat mit einer marginalisierten, als minderwertig konstruierten Person Mitgefühl. Gott kann (will?) ihr Leid nicht auflösen, aber Gott sieht sie – und eine Sklavin gibt als erste Person in der Bibel Gott einen Namen.
Was wäre passiert, frage ich mich, wenn Gott nicht so göttlich gewesen wäre und stattdessen einen identitätsschützenden Denkfehler gemacht hätte? Wenn Gott sich (angesichts der Sache mit der „Allmächtigkeit“) durch das Leiden Hagars in dem Selbstbild als „gut“ bedroht gefühlt hätte? Was wäre passiert? Vielleicht hätte die Geschichte, wie so oft bei uns Menschen, mit Gottes Teilnahme an der Opferolympiade geendet.
Opferolympiade ist ein Begriff aus dem Buch „Der weiße Fleck“ von Mohamed Amjahid (und übrigens das vorletzte Schlüsselkonzept dieses Textes). Er beschreibt, wie Menschen, die auf einem etwas höheren (gesellschaftlich konstruierten) Sockel stehen, manchmal unsensibel auf Beschreibungen von anderer Leute Leid reagieren, indem sie direkt anfangen, von ihrem eigenen Leid zu erzählen. Wenn zum Beispiel Deutsche in Kairo berichten, wie schlimm es in Deutschland sei, nachdem ihre ägyptischen Bekannten das Leben in einem autoritären Militärregime geschildert haben. Vielleicht ist es gar nicht beabsichtigt, die Erfahrungen gleichwertig erscheinen zu lassen, aber genau dies ist der Eindruck, der beim Gegenüber entsteht. Was dahintersteckt, dass viele von uns sich so verhalten (ich schreibe „uns“, denn ich habe selbst sicherlich auch schon an der Opferolympiade teilgenommen), erklärt Amjahid nicht. Mir scheint es aber plausibel, dass sich auch hier ein identitätsschützender Denkfehler einschleicht. Dass es eine kognitive Dissonanz gibt, wenn wir hören, dass es anderen schlecht geht, und wir dann daran denken müssen, dass wir Teil dieser Welt sind und unser gesamtes Hab und Gut noch keiner Menschenrechtsorganisation gespendet haben. Und so spielen wir unbedacht die Erfahrungen unseres Gegenübers herunter, statt sie an uns heranzulassen – ich kann doch auch nichts dafür, dass die Welt ungerecht ist! Wenn Gott also ein bisschen menschlicher gewesen wäre, hätte der Engel der Sklavin Hagar vielleicht geschildert, dass Gottsein nun wirklich auch keine leichte Aufgabe ist. Woraufhin eine unangenehme Stille eingetreten wäre.
Doch zurück zum Thema. Halten wir fest, dass die anekdotische Evidenz hergibt, dass sich identitätsschützende Denkfehler zwischen uns und unsere Empathie schieben können und dass dies wahrscheinlich/gegebenenfalls/vor allem dann passiert, wenn wir uns ohnmächtig fühlen (und zum Beispiel nicht wissen, wie wir gegen ein autoritäres Regime ankommen sollen). Statt erst mal zuzuhören, sucht unser Unterbewusstsein gleich nach dem erstbesten Weg, die unbehagliche kognitive Dissonanz aufzulösen. Und das war’s dann mit der Empathie.
Mit dem Zuhören (und sich in seiner moralischen Identität bewegen lassen) kann also schon mal einiges schiefgehen, wie es scheint. Und was ist mit dem Kampf für gesellschaftliche Fortschritte? Der hat leider auch so seine Tücken, meint die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown. Und sie macht sogar dieselbe blöde Ohnmacht dafür verantwortlich! Laut Brown bleibt es nämlich nicht folgenlos, einen starken Wunsch nach Veränderung zu verspüren und gleichzeitig aber keine Hoffnung zu haben, dass diese Veränderung möglich ist. Die seelische Konsequenz heißt Moralismus. Statt die eigene Kraft in den Kampf für mehr Gerechtigkeit (oder ein sonstiges Veränderungsziel) zu stecken (aktives Verhalten), rutscht man in ein reaktives Verhalten hinein. Sprich beschäftigt sich damit, die Vorschläge anderer moralisierend zu bewerten oder darüber zu diskutieren, welche Ausdrucksformen, Wörter, Argumente und Protestformen im Kampf denn überhaupt vertretbar seien. – Nicht, dass ich Ausdrucksformen für unwichtig halte. Aber es leuchtet irgendwie ein, dass die meisten Menschen von solchen Debatten vielleicht nicht ganz so emotional berührt oder mitgenommen werden. Und dass es ein bisschen schwierig werden könnte, die Massen hinter sich zu versammeln, wenn der Eindruck entsteht, dass man sich der Bewegung nur anschließen darf, wenn man besonders hohe (moralische) Bedingungen erfüllt.
Und so landen wir bei der (nicht ganz neuen) Einsicht, dass die Sache mit den gesellschaftlichen Veränderungen echt komplex und gar nicht so einfach ist. Sonst wären wir als Menschheit bestimmt auch schon weiter. Kampf, Empathie, Moral und Identität spielen eine Rolle. Ohne die Hoffnung oder Zuversicht, dass Veränderung möglich ist, riskiert der Kampf aber zu verkrampfen.
Ich weiß nicht, was Sie aus diesem Versuch, das Durcheinander in meinem Kopf zu entwirren, mitnehmen. Ich nehme auf jeden Fall Folgendes mit: (a) Dass es völlig normal – und sogar gut – ist, Selbstgespräche zu führen (jetzt muss ich mich dafür nicht länger schämen!). (b) Dass die Jahreslosung uns dazu einlädt, ein bisschen mehr wie Gott zu sein und einander zu sehen und zuzuhören, auch wenn wir eine Situation oder einen Schmerz nicht auflösen können. Und (c) dass das Ziel, dass „alle gesehen, gehört und geachtet werden“, wie Emilia Roig es ausdrückt, sich wahrscheinlich nur erreichen lässt, wenn wir gewillt sind, auf den Sockel zu schauen, auf dem wir stehen – und dabei dem Impuls widerstehen, in identitätsschützende Denkfehler zu verfallen.
- [1] Das merkt man übrigens auch daran, dass wir mit Erklärungen und verbaler Verteidigung reagieren, wenn ein moralisches Fehlverhalten unsererseits angesprochen wird. Statt zuzuhören und zu überlegen, ob an der Kritik etwas dran ist, reagieren wir meist mit Abwehr – wenigstens zunächst.
- [2] Dass man auf einem Sockel steht, ist einem selbst übrigens nicht immer klar. Ein Bekannter, der Angestellte eines Bundesamts fortbildet, hat erzählt, dass er seine Kursteilnehmenden mit Fragen dafür sensibilisiert, dass es verschiedene „Sockel“ gibt. Da geht es zum Beispiel darum, ob sie in neuen Gruppenkonstellationen durchschnittlich gut mit Gleichaltrigen über Filme, Serien und Bücher aus Ihrer Kindheit und Jugend mitreden können, ob sie ohne Bedenken der Person, die sie lieben, in der Öffentlichkeit einen Kuss geben können oder inwieweit sie etwas gegen Treppen haben.
Raubtierzeit
Ein Jahr Krieg in der Ukraine
Von Dr. Eberhard Pausch
im März 2023
„Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. […] Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.“ Eine wunderbare Vision des Propheten Jesaja! Wo sie erklingt, zeichnet sie ein Bild der Hoffnung vor unsere Augen. Wenn der Wolf beim Lamm wohnt, dann ist der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf (Thomas Hobbes), und die „Wolfszeit“ ist vorbei.
Aber leider hat am 24. Februar 2022 mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Saison der Wölfe begonnen! Seitdem herrscht in Europa wieder Krieg, unschuldige Menschen sterben, Bomben fallen, Gräueltaten werden verübt. Diese Welt ist kein Streichelzoo, das steht fest. Es ist der Irrtum radikaler Pazifist/innen, dies zu meinen – sie datieren Jesajas Vision einfach vor. Das kann nicht hinhauen. Gegen einen Hitler, gegen einen Stalin, gegen einen Putin (meistens sind es ja Männer, die Kriege anzetteln!) kommen Lämmer inmitten der Wolfszeit nun einmal nicht an. Aber was hilft dann?
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine wird in unserem Land heftig darüber gestritten, wie dem Gewaltregime Putins begegnet werden kann. Auch die regierende Ampelkoalition streitet sich. Einstmals grüne Pazifist/innen würden am liebsten auf Panzern nach Charkiw reiten. Und ein ganzer „Zoo von Waffen“ wird gefordert und aktiviert, um den Schrecken einzuhegen: Drohnen, also hochtechnisierte Wildbienen mit mörderischen Fähigkeiten, sollen den Luftraum erobern, und auf dem Lande sollen Marder und Leoparden Putin stoppen. Die russische Armee hat umgekehrt sogar „Kampfdelfine“ im Einsatz. Ich stelle sie mir gerade vor, lauter kleine „Flippers“, mit Maschinengewehren bewaffnet. Es ist geradezu beruhigend, dass nicht auch noch an die Lieferung von Löwen, Stinktieren und Dinosauriern gedacht wird. Aber wer politisch auf der Höhe sein will, der muss sich heute in diese „Neue Brehmsche Tierlehre“ einarbeiten. Ist das also die richtige Antwort auf die reale Bedrohung aus dem Osten?
Die evangelische Friedensethik und die Friedensforschung sind sich auch mit Bezug auf die Charta der Vereinten Nationen (Artikel 51: Selbstverteidigungsrecht) weitgehend einig: Der Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland ist der exemplarische Fall einer „ultima ratio“ (Anwendung militärischer Gewalt als äußerste Möglichkeit). Die Lieferung von Waffen an die Ukraine ist friedensethisch daher zumindest zulässig. Insoweit besteht eine breite Übereinstimmung im Blick auf die bedrohliche Weltlage, in der wir uns (erst recht) seit dem vergangenen Februar befinden. Ein weiterer Konsenspunkt lautet: Es darf keine Eskalation dieses Konflikts geben. Der Einsatz von Atomwaffen durch Russland würde zu einer Katastrophe globalen Ausmaßes führen. Daher hat selbst die autoritäre Regierung Chinas vor einem solchen Schritt gewarnt und kürzlich eine eigene Initiative für mögliche Friedensgespräche angedeutet. Die vom Bundeskanzler mit Bedacht gewählte Formel „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren. Und Russland darf ihn nicht gewinnen“ hat vor diesem Hintergrund durchaus Plausibilität. Der Kanzler will den Konflikt eindämmen, und die Chance seiner Beendigung setzt ein breites Fenster politischer Handlungsoptionen voraus. Wer dagegen ausschließlich auf die militärische Niederlage Russlands setzt, der schließt die Möglichkeit einer Verhandlungslösung von vornherein aus. Darauf weist mit Nachdruck der Jahrhundertphilosoph Jürgen Habermas in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ hin. Aber können Kriege in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts überhaupt zu eindeutigen Siegern und Verlierern führen? Beispiele wie Vietnam oder Afghanistan lassen daran zweifeln. Selbst klare militärische Überlegenheit garantiert keinen Sieg für eine der beiden Seiten.
Vielleicht ist die bittere Wahrheit ganz einfach: Kriege im 21. Jahrhundert kennen weder Sieger noch Verlierer. Sie sind vielmehr ökologische und humanitäre Katastrophen. Am Ende verlieren alle dabei. Die Raubtiere toben sich aus, kämpfen um ihre vermeintlichen Reviere und fressen einander erbarmungslos auf. Was bleibt, sind der Tod, die Vernichtung, das Grauen. Schon Carl von Clausewitz wusste: Der Krieg ist „nichts als gegenseitige Vernichtung“. Welche Lehren könnte die evangelische Friedensethik aus dieser Einsicht ziehen? Vielleicht die folgenden:
- Niemand sollte zurückgehen wollen zur Auffassung, es gebe „gerechte Kriege“ – vom Bellizismus ganz zu schweigen. Stattdessen muss die Herstellung eines mit Recht und Gerechtigkeit verbundenen Friedens („gerechter Friede“) die Zielperspektive sein.
- Niemand sollte Kriege „heilig“ nennen. Das gilt auch dann, wenn man sie semantisch als „Spezialoperationen“ tarnt. Hierüber muss mit der russisch-orthodoxen Kirche ernsthaft gestritten werden.
- Niemand sollte die Realität des Bösen und „der“ Bösen unterschätzen. Es war höchst naiv, Putin für einen am Frieden interessierten Politiker zu halten. In der Welt gibt es autoritäre Regime und Politiker/innen – nicht wenige von ihnen gehen über Leichen.
- Niemand sollte die eigene Nation über andere Nationen setzen. Nationalismus ist die Urzelle des Krieges. Stattdessen brauchen wir ein ökumenisches, internationales, globales Verantwortungsbewusstsein.
- Niemand sollte die Dramatik des Klimawandels unterschätzen. Dieser Herausforderung zu begegnen, ist die eigentliche Aufgabe unserer Zeit. Sie stellt sich für alle Staaten und Völker dieser Erde. Und sie kann nur gemeinsam bewältigt werden. Entweder wir werden alle gewinnen oder alle verlieren. Das sollten selbst Tyrannen einsehen können.
Unsere Welt ist weder ein Streichelzoo noch ein Areal frei lebender Raubtiere. Als Christ/innen müssen wir dazu beitragen, die Raubtierzeit zu beenden. Denn die Wahrheit liegt zwischen Pazifismus und Bellizismus. Sie beginnt dort, wo der Egoismus einzelner Staaten endet und ein gerechter Friede für diese Welt am Horizont aufscheint.
Problematische Grenzverschiebung?
Zur aktuellen Debatte um die gesetzliche Neuregelung der Suizidhilfe
Von Prof. Dr. Kurt W. Schmidt
und Prof. Dr. Gabriele Wolfslast
im Februar 2023
Dass jeder Mensch für seine Handlungen grundsätzlich die persönliche Verantwortung zu übernehmen hat, ist gesellschaftlicher Konsens und auch wichtiger Orientierungspunkt in der aktuellen Debatte des Deutschen Bundestages um die rechtliche Neuregelung des assistierten Suizids. Diese Orientierung ist nun aber durch einen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH), der vor gut einem halben Jahr erging,[1] ins Wanken geraten. Denn könnte es auch sein, dass jemand eine Tat für einen anderen begeht, ohne für diese Tat selbst zur Verantwortung gezogen zu werden? Könnte also jemand sagen: „Ich habe nur getan, was Person A gewollt hat, und habe dabei nur als sein verlängerter Arm agiert. Die Verantwortung für die Tat ist deshalb allein der Person A zuzuschreiben. Ich war nur ausführendes Werkzeug!“? Und wenn ja, was würde das für die persönliche Verantwortung des Ausführenden bedeuten? Die Konsequenzen für die rechtliche Bewertung der Suizidhilfe wären jedenfalls beträchtlich. Sie lösen auf ethischer Ebene schon jetzt ein Feuerwerk an Assoziationen aus: Kann ein Mensch als reiner Befehlsempfänger eines anderen verstanden werden? Mit welchen Konsequenzen? Kann sich jemand seiner persönlichen Verantwortung für eine Tat dadurch entziehen, dass er sich nur als „menschliches Werkzeug“ eines Dritten versteht? Aber von Anfang an: Was war geschehen? Dem Beschluss des Gerichts entnehmen wir folgenden Sachverhalt:
Der Fall
Frau S. arbeitete jahrzehntelang als Krankenschwester, bis sie im Jahr 2010 in Rente ging. Seit nahezu 50 Jahren war sie mit ihrem Ehemann verheiratet, der aufgrund einer Lendenwirbelfraktur, die er sich als Jugendlicher zugezogen hatte, und eines Bandscheibenvorfalls unter chronischen Schmerzen litt, was im Jahr 1993 zur Arbeitsunfähigkeit und Berentung führte. Zahlreiche Begleiterkrankungen, darunter ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, verstärkten sein Leiden. Seit 2016 wurde er von seiner Ehefrau zu Hause gepflegt. Eine Heimunterbringung oder ambulante Pflege sowie ärztliche Behandlung lehnte er ab und ließ nur die halbjährlichen Besuche seiner Hausärztin zu, ebenso die Behandlung mit starken Schmerzmitteln und Psychopharmaka. Das Insulin wurde ihm von seiner Ehefrau verabreicht, da es ihm aufgrund seiner Arthrose schwerfiel, die Spritzen selbst aufzuziehen und die Tabletten aus der Verpackung herauszudrücken. Seit Anfang 2019 war er bettlägerig und äußerte vermehrt den Wunsch zu sterben. Mit seiner Ehefrau verabredete er, dass kein Arzt gerufen werden sollte, wenn er seinem Leben ein Ende setzen wollte. Als sich sein gesundheitlicher Zustand weiter verschlechterte, wollte er einen Sterbehilfeverein in Anspruch nehmen, sah sich aber durch die damals geltende Gesetzeslage daran gehindert. So bat er seine Frau, einige Tage wegzufahren, damit er sich zu Hause das Leben nehmen könne, doch sie kam dieser Aufforderung nicht nach.
Einige Wochen später spitzte sich die Situation zu und die Ehefrau ging davon aus, dass der Sterbewunsch ihres Mannes ernst war. Am späten Abend forderte er sie auf, ihm alle vorrätigen Tabletten zu geben. Aus Furcht, dass andere denken könnten, sie habe ihren Mann umgebracht, bat sie ihn, einen Abschiedsbrief zu schreiben; er entsprach dieser Bitte und bekräftigte in dem Schreiben, dass er nicht mehr weiterleben wolle und seiner Frau verboten habe, einen Arzt zu holen. Die Ehefrau handelte daraufhin dem Wunsch ihres Mannes entsprechend; sie trug alle im Haus verfügbaren Medikamente zusammen, löste die Tabletten aus den Verpackungen und gab sie ihm in die Hand. Der Ehemann nahm alle Tabletten selbstständig mithilfe eines in einem Wasserglas aufgelösten Beruhigungsmittels ein. Nun forderte er seine Ehefrau auf, alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen und sie ihm zu verabreichen; dabei war ihr bewusst, dass dies seinen Tod herbeiführen würde. Sie blieb bei ihrem Mann, der bewusstlos wurde und in der Nacht an der Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins verstarb.
Vom Landgericht Stendal wurde die Ehefrau für ihre Tat verurteilt, weil sie nicht nur Beihilfe zum Suizid geleistet (das wäre straflos geblieben), sondern weil sie auch als aktiv Handelnde mit der Gabe des Insulins den Tod ihres Ehemanns herbeigeführt habe.
Zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beihilfe zum Suizid
Unschwer zu erkennen ist hier die Unterscheidung, die auch der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 26. Februar 2020 bekräftigt hat:[2] Die Beihilfe zu einem freiverantwortlichen Suizid einer erwachsenen Person muss dem Einzelnen straffrei möglich sein, um nicht das Recht auf Suizid leerlaufen zu lassen; die aktive Tötung eines Menschen bleibt als Fremdtötung hingegen auch dann strafbar, wenn sie dem ausdrücklichen Wunsch des Sterbewilligen entspricht. An diese Vorgaben hat sich das Landgericht Stendal gehalten und entsprechend geurteilt.
Es muss nun überraschen, dass der 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) die Entscheidung des Landgerichts Stendal später aufgehoben und die Ehefrau freigesprochen hat, da sie sich nach Einschätzung des Gerichts unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht hatte. In seiner Begründung folgt das Gericht zuerst der herrschenden Meinung, wonach die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Suizidbeihilfe nach den Kriterien der sogenannten Tatherrschaftslehre zu ziehen ist: Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterwirft. „Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt“.[3] Dann aber folgt eine Volte: Die Abgrenzung könne „nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden“. Und das bedeutet nach Auffassung des BGH im vorliegenden Fall, dass nicht der isolierte Einzelakt des Setzens der Insulinspritzen maßgeblich ist, sondern dass es entscheidend auf den Gesamtplan des Sterbewilligen ankommt. Zur Verwirklichung dieses Gesamtplans habe die Ehefrau mit ihrem aktiven Tun nur Beihilfe zum Suizid geleistet.
Muss die Trennung von strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beihilfe zum Suizid insofern aufgegeben werden? Kann künftig auch eine Handlung, die auf den ersten Blick als aktive Tötung auf Verlangen angesehen wird, als straflose Beihilfe gewertet werden? Hat der Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung das derzeit geltende Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben und damit den „Damm zur aktiven Sterbehilfe gebrochen“, wie Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz bei der dpa zitiert wird? Manch einem, der im Zuge der „Liberalisierung“ der Suizidhilfe-Gesetzgebung den nächsten Schritt zur Freigabe der Tötung auf Verlangen nur für eine Frage der Zeit gehalten und diesen Schritt vorhergesagt hat, wird darin jetzt eine Bestätigung sehen. Ob hier nun ein Einfallstor vorliegt, um künftig Tötung auf Verlangen straffrei zu stellen, ist angesichts der bevorstehenden parlamentarischen Debatte über die Neuregelung des § 217 Strafgesetzbuch (StGB) von großer Bedeutung, da alle drei vorliegenden parlamentarischen Gesetzentwürfe von dieser strikten Trennung ausgehen.
Eine Neudefinition der Suizidbeihilfe?
Sind durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs künftig Konstellationen denkbar, in denen eine Person durch das Gericht der persönlichen Verantwortung für ihre Tat im Zusammenhang mit einem Suizid enthoben werden kann, weil sie sich darauf beruft, nur den Willen ihres Gegenübers – quasi als dessen verlängerter Arm – umgesetzt zu haben? Wir kennen diese Argumentation aus Strafverfahren gegen NS-Täter und gegen sogenannte Mauerschützen. Immer geht bzw. ging es um die Frage, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen eine Person sich dadurch entlasten kann, dass sie sagt, sie habe ihren Willen zur Tat völlig dem einer anderen Person untergeordnet – nicht sie könne also verantwortlich gemacht werden für das eingetretene Ergebnis, sondern nur der Auftraggeber, dessen Willen die Tat entsprungen sei.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen – notwendigerweise stark vergröberten – Blick auf die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach deutschem Strafrecht zu werfen. Nach der heute mit unterschiedlichen Nuancierungen überwiegend vertretenen Tatherrschaftslehre ist der Täter die Zentralgestalt bei der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung, während der Gehilfe als Teilnehmer eine Randfigur ist, die durch Hilfeleistung zur Tat beiträgt[4]: Nicht mehr gesetzeskonform ist die Bestimmung von Täter und Teilnehmer allein nach dem Interesse am Taterfolg, wie es das Reichsgericht unter anderem im Jahre 1940 im sog. Badewannen-Fall [5] getan hat. Zu beurteilen war die Tötung eines Neugeborenen durch die Schwester der Kindsmutter, die das Kind auf Veranlassung und im Interesse der Kindsmutter eigenhändig in der Badewanne ertränkt hatte. Auch hier ging es, vor dem Hintergrund der zu erwartenden Strafe, um die Frage, welche der Frauen als Täter und welche als Gehilfe anzusehen war. Das Reichsgericht stellte darauf ab, ob die Schwester der Kindesmutter die Tötungshandlung als eigene gewollt oder lediglich die Tat ihrer Schwester habe unterstützen wollen. Maßgebend für die Rechtsprechung wurde das Handeln mit Täterwillen (dem sog. animus auctoris), beziehungsweise mit Teilnehmerwillen (animus socii), freilich ohne dass diese Linie auch nur annähernd konsequent durchgehalten worden wäre: Zum Beispiel stellte der Bundesgerichtshof nur wenige Jahre später im Gegensatz zur Entscheidung im Badewannen-Fall fest, dass grundsätzlich der, der mit eigener Hand tötet[6], auch Täter ist. Wieder einige Jahre später folgte die Rechtsprechung erneut dem Badewannen-Fall, als ein sowjetischer Agent im Auftrag seines Geheimdienstes zwei Exilpolitiker eigenhändig erschoss und dafür nur wegen Beihilfe zum Mord bestraft wurde[7], oder als ein „Messerstecher“ trotz eigener Tatbegehung bloß als Gehilfe verurteilt wurde, weil das „eigene Zustechen in dem Bestreben, nicht als Feigling in den Augen der anderen zu erscheinen“, dafür spreche, dass er sich „deren Willen untergeordnet“ habe.[8] Sichtbar wird an diesen Entscheidungen, wie sehr sich Strafsenate des Bundesgerichtshofs die Freiheit nehmen, ihnen unbillig erscheinende Ergebnisse zu korrigieren.
Das gilt auch für die vorliegende Entscheidung, in der sich der 6. Strafsenat generell gegen eine „naturalistische“ Bewertung bei der Abgrenzung von Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid, einem gleichsam Spezialfall der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, ausspricht. Dabei gelingt es ihm jedoch nicht, wie Kritiker ihm vorgeworfen haben[9], dem angeblich angewandten Tatherrschaftskriterium eine Orientierungswirkung für zukünftige Fälle zu geben. Das aber wäre in Anbetracht der in Kürze zu erwartenden nächsten Lesung der Gesetzentwürfe im Bundestag von großer Bedeutung gewesen. Für die Rechtssicherheit ist somit nichts gewonnen.
Auch in diesem Fall – ähnlich wie im Badewannen-Fall vor gut 80 Jahren – hat das Gericht offenbar ein Korrekturbedürfnis gesehen und es nicht als ausreichend angesehen, die Ehefrau zu einer milden, auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe zu verurteilen, beziehungsweise die entsprechende Entscheidung des Landgerichts Stendal zu akzeptieren. Bedenklich ist dabei die Art und Weise, in der hier einer Täterin gleichsam suggeriert wurde, dass sie für das Geschehen keine Verantwortung trage, sondern nur bloßes Werkzeug ihres körperlich schwer erkrankten, suizidwilligen Mannes gewesen sei. Rufen wir uns dabei in Erinnerung, dass es für den Philosophen Hegel ein zentraler Gedanke war, dass der Mensch als freies Wesen für seine Handlungen als Täter zur Verantwortung zu ziehen ist und dass wir gerade in der Strafe den Täter als vernünftiges Wesen würdigen.
Verantwortung für die Folgen
Nicht nur im Recht hat grundsätzlich der Einzelne für seine Taten einzustehen. Gleich zu Beginn erzählt die Bibel, dieses „Grundbuch der abendländischen Kultur“[10], wie den ersten Menschen Adam und Eva ihre aktiven Handlungen zugerechnet werden, was zur Vertreibung aus dem Paradies führt, und wie Kain die Folgen dafür tragen muss, dass er seinen Bruder Abel getötet hat. Hierbei geht es darum, dass die Handelnden nicht folgenlos davonkommen und für ihre Handlungen haftbar gemacht werden und einzustehen haben.[11] Es ist ein langer Weg in der abendländischen Kultur von der Gerichtsbarkeit auf Grundlage eines religiösen Weltbildes, das z.B. im Mittelalter auch die Bestrafung von Tieren, Gegenständen und Toten vorsah (auch sie wurden irrigerweise „haftbar“ gemacht), bis in die moderne Rechtsprechung, die sich der Legitimation ihrer Bürgerinnen und Bürger verdankt.[12]
Gedacht wird in kausalen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung. Kommt bspw. eine Person durch Gewalt ums Leben, wird der Frage nachgegangen, wer dafür verantwortlich war und ob es bspw. einen Täter gab, der den Tod herbeigeführt hat. Dabei berücksichtigt das moderne Strafrecht eventuell vorliegende Strafmilderungsgründe. Beispielsweise wird, unter Umständen mithilfe von Gutachten, geklärt, ob der Täter zum Zeitpunkt der Tat überhaupt schuldfähig war, zur Tat gezwungen wurde, in Notwehr gehandelt hat, einem Irrtum unterlag o.Ä.[13] Das kann zu einer erheblichen Strafminderung und theoretisch sogar zu Freispruch führen. Die objektive Beschreibung des Ereignisses sagt also noch nichts darüber aus, welche individuelle Verantwortung dem Täter vom Gericht letztendlich zugesprochen wird und welches Strafmaß sich daraus ergibt. Dabei bleibt der Grundsatz bestehen, dass derjenige, der die Tat vollzogen hat, erst einmal als Täter betrachtet wird und dafür mit seiner Person einstehen muss.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Indem der Senat die alleinige Verantwortung für das Geschehen bei dem Suizidwilligen und seinem „Gesamtplan“ sieht, erklärt er die Ehefrau zum bloß ausführenden Objekt seines Plans. Sie verschwindet damit als handelnde Person, denn der Suizidwillige handelt durch sie. Dass es sich um den eindeutigen Willen des Ehemanns handelt, lässt sich die Ehefrau von ihm auch schriftlich bestätigen. In der Umsetzung seines Willens handelt sie selbst natürlich nicht willenlos, und es wird der Ehefrau auch die eigene Entscheidungsfindung nicht abgesprochen (sie könnte ja jederzeit die Handlung abbrechen), wie bspw. in Robert Wienes berühmtem Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (D 1920) dem hypnotisierten Schlafwandler Cesare, der seines eigenen Willens beraubt und fremdgesteuert die kriminellen Taten des Dr. Caligari begeht.
Die Folgen
Bei aller Betonung, manche haben auch kritisch von Überbetonung der Autonomie des entscheidungsfähigen Erwachsenen gesprochen, die das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung vom 26. Februar 2020 zugrunde gelegt hat, wurde auch vom Bundesverfassungsgericht das Überschreiten der Grenze zur Tötung auf Verlangen deutlich untersagt. Wenn nun der BGH die Ehefrau und Krankenschwester, die die tödlich wirkenden Spritzen gesetzt hat, im konkreten Einzelfall freigesprochen und zugleich eine allgemeine begriffliche Neubestimmung von erlaubter Suizidassistenz und strafbarer Tötung auf Verlangen gefordert hat, dann darf dies nicht zu der fälschlichen Annahme führen, als sei damit nun künftig dem Arzt, der Krankenschwester, dem Angehörigen u.a. die Umsetzung des Suizidwillens durch eine aktive Handlung straflos möglich! Vielmehr muss bedacht werden, dass der BGH einen Einzelfall entschieden hat und die Richter in ihrer Entscheidung nicht an Präjudizien gebunden sind. In einem ähnlich gelagerten Fall könnte ein anderes Gericht künftig zu einer anderen Entscheidung kommen und eine aktive Handlung als strafbare Tötung auf Verlangen werten. Es wird sich also auch künftig niemand mit einem Verweis auf die Entscheidung des BGH „sicher“ sein können, in einem ähnlich gelagerten Fall freigesprochen zu werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Gerichte derartige Handlungen weiterhin der Kategorie „strafbare Tötung auf Verlangen“ zuordnen werden.
Wollte man wirklich Rechtssicherheit schaffen für jene Fälle, in denen es, wie der 6. Strafsenat in seinem Insulinbeschluss formuliert hat, „einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffenen Entscheidung selbst umzusetzen“, dann wäre es Sache des Gesetzgebers, und nicht eines Gerichts, eine klare Regelung einschließlich prozeduraler Vorschriften für die Tötung auf Verlangen zu treffen. Das ist aber in der derzeitigen Gesetzesdebatte – gerade vor dem Hintergrund des deutlichen Votums des Bundesverfassungsgerichts – nicht zu erwarten. Wollte man später in diese Richtung gehen, so zeigt der Blick in andere westliche Länder, in denen Tötung auf Verlangen erlaubt ist, dass hier ein einzuhaltendes Prozedere beschrieben wurde.
Berichte aus den Niederlanden, in denen sich über 90 % der entscheidungsfähigen Suizidwilligen für eine Tötung auf Verlangen entscheiden und nicht für einen Tod durch eigene Hand, verweisen – bei aller angebrachten Vorsicht – darauf, dass es auch der „Sicherheitsaspekt“ ist, der sie zu dieser Entscheidung veranlasst: Wird das Mittel vom Arzt appliziert, kann der Suizident davon ausgehen, dass er auch wirklich zu Tode kommen wird. Klar ist aber: Der Arzt ist in den Niederlanden – auch in dem Fall der Tötung auf Verlangen – „Täter“ und muss sich für seine Tat rechtfertigen. Hat er bei der Vorbereitung und Ausführung der Tat ein bestimmtes Prozedere eingehalten, wird von einer Strafverfolgung abgesehen. Aber der Arzt bleibt eine Person, die das eigene Handeln zu verantworten hat und eben nicht straffreier Gehilfe.
Diese „bürokratischen Schritte“, die Transparenz und Offenheit des Ablaufs zwingend vorschreiben, müssen einem keineswegs gefallen, zumal klar sein muss, dass jede Festlegung eines Prozedere einen Schritt zur Normalisierung bedeutet. Doch genau das zu verhindern, dass Suizidhilfe eben nicht zu einem „Normalfall“ wird, ist das Bestreben vieler. Zu wünschen ist deshalb, dass der Suizidprävention weiterhin großer Vorrang eingeräumt wird und auch die Suizidprävention in einer entsprechenden gesetzlichen Regelung bedeutsam gestärkt wird.
Fazit
Die Entscheidung des 6. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ist bemerkenswert, weil sie die aktive Handlung der Angeklagten nicht – wie bisher üblich – der strafbaren „Tötung auf Verlangen“ zuordnet, sondern als straflose „Beihilfe“ wertet. Einerseits darf diese Einzelfallentscheidung nicht zu dem Missverständnis führen, es sei damit die Tür zur aktiven Suizidhilfe weit geöffnet, denn es bleibt völlig unklar, wie ein anderes Gericht in einem ähnlich gelagerten Fall künftig entscheiden würde.
Andererseits wird die Frage aufgeworfen, wie mit Situationen umgegangen werden soll, in denen der Suizidwillige selbst nicht in der Lage ist, seinen Willen eigenhändig in die Tat umzusetzen, wenn das Bundesverfassungsgericht festgehalten hat, dass die praktische Umsetzung jedem freiverantwortlich entscheidenden Suizidwilligen zu ermöglichen ist. Die Debatte um diesen konkreten Einzelfall und die Entscheidung des BGH verdeutlicht erneut, wie schwierig und komplex die Aufgabe für den Gesetzgeber ist, eine gesetzliche Neuregelung des § 217 StGB zur Suizidhilfe zu verabschieden, die durch das Bundesverfassungsgericht nahegelegt wurde. Eine deutliche gesetzliche Stärkung der Suizidprävention sollte dabei unbedingt mit auf den Weg gebracht werden.
Kurt W. Schmidt ist nebenamtlicher Studienleiter für Medizin & Ethik an der Evangelischen Akademie Frankfurt und Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Gabriele Wolfslast ist Professorin i. R. für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Die Evangelische Akademie Frankfurt begleitet seit zwei Jahren die Diskussion um die aktuelle Gesetzgebungsdebatte, unter anderem durch Onlineveranstaltungen, in denen Politiker/innen und Autor/innen ihre parlamentarischen und außerparlamentarischen Gesetzentwürfe vorstellen und diskutieren. Die Aufzeichnungen der bisherigen sechs Veranstaltungen zu diesem Thema sind hier abrufbar.
- [1] Beschluss des 6. Strafsenats des BGH vom 28. Juni 2022 – 6 StR 68/21. https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2022&Seite=41&nr=130875&pos=1231&anz=2846 (zuletzt aufgerufen am 3. Februar 2023).
- [2] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15. https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/rs20200226_2bvr234715.html (zuletzt aufgerufen am 3. Februar 2023).
- [3] Beschluss des 6. Strafsenats des BGH vom 28. Juni 2022 – 6 StR 68/21.
- [4] C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band II, § 25 Rn. 10, München 2003; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., § 12 Rn. 28 f., Köln, Berlin, München 2004.
- [5] RGSt74, 85; 85; dazu unter anderem auch C. Roxin, a.a.O., § 25 Rn, 17 ff.; Stratenwerth/Kuhlen a.a.O., § 12 Rn. 14.
- [6] BGHSt 8, 393; s. auch C. Roxin, a. a. O., Rn. 40.
- [7] BGHSt 18, 87.
- [8] BGH MDR (D) 1974, 547; s. auch C. Roxin, a. a. O., Rn. 40 f.
- [9] Murmann, Tötungshandlungen und Einwilligung bei § 216 StGB. Zugleich Besprechung von BGH, Beschl. v. 28. Juni 2022 – 6 StR 68/21, in: ZfIStw 2022, S. 530–537.
- [10] Claussen, Johann Hinrich, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen. C. H. Beck, München 2018, S. 11.
- [11] Limbeck, Meinrad, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997.
- [12] Vgl. Schild, Wolfgang, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit. Georg D.W. Callwey, München 1980.; Ders. Folter, Pranger, Scheiterhaufen. Rechtsprechung im Mittelalter. Bassermann, München 2010.
- [13] Gegenstand der rechtlichen Beurteilung können also nur freiheitskausale Auswirkungen auf andere sein. Siehe: Kersting, Wolfgang, Kant über Recht. Mentis, Paderborn 2004.
Flamenco tanzen
oder: Vom Für und Wider der Leidenschaft
Von Hanna-Lena Neuser
im Januar 2023
Wofür empfinden Sie Leidenschaft? Wofür können Sie sich so sehr begeistern, dass Sie sogar bereit sind, Leid dafür zu ertragen? Bei mir ist es der Flamenco. Schon als kleines Kind habe ich mich in diese Form des tänzerischen Ausdrucks verliebt und eine frühe Leidenschaft entwickelt. Flamenco ist ein spanischer Tanz, der voll bis obenhin ist mit Gefühl. Mit Liebe und Hass, mit Eifersucht und Neid, mit Trauer und Wut und mit ganz viel Fröhlichkeit und Humor. Alle starken Emotionen, die der Mensch kennt, bringt der Flamenco einem als Tänzerin so nahe, wie es manchmal das echte Leben nicht vermag.
Leidenschaft ist in der Philosophie ein ambivalenter Begriff. Manche beschreiben sie als Quelle des Unfriedens, als Motiv für Machtinteressen – andere als Form der Vernunft, da sie dazu führt, dass der Mensch das will, was ohnehin das Beste für ihn ist.
Eine Leidenschaft zu haben kann also Fluch und Segen zugleich sein. Man zieht das Schöne, die Begeisterung daraus, aber man kann in der Hingabe auch ertrinken. Im Flamenco erscheint das „Schöne“, das „Wunder-volle“, auf rätselhafte Art: Wenn man in diesem Tanz ganz versunken ist, dann nennt man das „el duende“. Aber es ist mehr als das Versunkensein. „El duende“ beschreibt ein kleines Wunder, das nicht planbar ist, das überraschend auftritt, das nicht erzwungen werden kann. Wie es Wunder eben an sich haben. Man kann sie nicht bestellen.
Für die sogenannten „aficionados“, seien es Tänzer, Sängerinnen, Gitarristen oder Zuschauerinnen, ist „el duende“ ein Moment, in dem sie – jede/r für sich und manchmal auch alle gemeinsam – in einen besonderen Gemüts- und Körperzustand verfallen. Um diesen gleichzeitig kollektiven und individuellen Zustand zu erreichen, braucht es Respekt und Konzentration, in gewisser Weise einen Moment der Stille in all dem Trubel, der in einer solchen Situation vorherrscht. Es braucht eine besondere Form der Intimität zwischen den Menschen, ein Gefühl der Gemeinschaft – Gemeinschaft mit den Menschen um mich und mit der Musik, der Kunst, der Interpretation.
Auch der Kampfgeist, den wir in der Evangelischen Akademie Frankfurt als Motto über die erste Jahreshälfte 2023 stellen, steht mit der Leidenschaft in Beziehung. Denn es braucht Leidenschaft, um Kampfgeist zu entwickeln. Eine starke Emotion, die uns dazu bringt, uns aus unserer Komfortzone hinauszukämpfen oder für eine Sache so massiv einzutreten, dass es auch Verletzungen an Körper oder Seele mit sich bringt. Wir erleben es in der Ukraine, im Iran, an vielen Orten der Welt: Menschen, die mit Leidenschaft für eine Sache, für ihre Freiheit kämpfen. Gemeinsam, auch wenn sie sicher nicht alle einer Meinung sind. Es brauchte einen Anlass, es brauchte einen Impuls, vielleicht sogar einen kurzen „el duende“-Moment der Stille, den niemand bewusst beschreiben kann, damit sich dieser Kampfgeist ausbreiten konnte. Und damit meine ich nicht den Angriff Putins. Denn hierauf hätte es viele mögliche Reaktionen gegeben. Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer, die Iranerinnen und Iraner haben sich eben für genau diesen Weg – den des Kampfgeistes – entschieden. Und bei aller Faszination, die wir für diese Haltung aufbringen: Es stehen viele Schicksale, viele zerstörte Leben, viel Leid und viel Schmerz dahinter. Leidenschaft schafft Leiden. Kampfgeist heißt auch, dass im Kampf Verluste erlitten werden.
Die aktuellen Zustände im Iran, in der Ukraine – das sind krasse Beispiele für Kampfgeist und Leidenschaft, die manchmal nah, manchmal fern erscheinen. Anderes fordert ebenfalls Leidenschaft, wenngleich es hierbei weniger gewaltsam zugeht. Zum Beispiel das Projekt Europa, das leidenschaftlich verfolgt werden muss, damit es gelingt. Auch unsere Demokratie erfordert die Bereitschaft zu leidenschaftlichem Kampf – gerade dann, wenn man auf all die Mängel schaut, die in diesem großartigen, aber unvollkommenen Konstrukt angelegt sind. Und ich persönlich kann auch eine unheimlich große Leidenschaft entwickeln, wenn es um unser Bildungssystem geht. Da gibt es ebenfalls noch viel zu erkämpfen, bis alle Menschen – große und kleine – darin ihren Platz finden, um sich so zu entfalten, wie sie es wollen und können.
Wir leben in Zeiten, in denen der Wechsel zwischen Friede und Unfriede, zwischen Liebe und Hass, zwischen Gut und Schlecht, zwischen Freude und Trauer immer schneller stattzufinden scheint. Diese Unruhe des ständigen Umschlagens der Extreme sorgt für Atemlosigkeit in der Gesellschaft, in den Herzen, in der Politik. Sie tut uns und der Welt nicht gut. Denn es handelt sich hier nicht um die Atemlosigkeit, die aufkommt, wenn man von etwas so bewegt ist, dass es einem auf schöne Weise den Atem verschlägt. Wir erleben eher eine Art des Ausgepowert-Seins, die nichts Gutes verheißt. Eine trügerische Ruhe, die am Ende einer zerstörerischen Leidenschaft Vorschub leistet anstatt einer, die uns voranbringt und Gutes schafft.
Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein (2. Mose 14,14). Dieser Satz im Alten Testament fällt mitten in der Geschichte, als die Israeliten gehetzt vor den Ägyptern fliehen und kurz bevor Mose das Meer teilt, um sie zu retten. Still sein, vielleicht auch um Gott zu hören.
An den Weihnachtstagen haben wir – wenn es gut lief – Zeit für Stille gefunden. Für das aufmerksame Hinhören. Und vielleicht auch dazu, unsere Leidenschaften neu zu entdecken. Vielleicht entsteht daraus ja ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Meiner lautet: wieder mehr tanzen! Auch wenn die Gelenke und die Knochen es vermutlich nicht mehr ganz so amüsant finden wie früher. Das drückt dann das Leiden aus, das ich dafür hinzunehmen bereit bin. Aber das Schöne im Flamenco ist, dass man es nicht zu Wettkampfzwecken macht, sondern nur für sich – in der Hoffnung auf einen „duende“-Moment.
Welche Leidenschaft graben Sie wieder aus im neuen Jahr?
Typische Jahresendzeitfiguren
oder: Englisch für Anfänger
Engel sind ein geheimnisvolles Thema. Nicht nur im Christentum spielen sie eine Rolle, auch in anderen Religionen. Als Kind glaubte ich an sie. Als Jugendlicher irgendwann nicht mehr. Als Erwachsener dann irgendwann wieder – aber anders als früher. Was ich dabei gelernt habe, will ich hier in fünf Thesen zusammenfassen, um Ihnen zum Weihnachtsfest ein wenig Stoff zum Nachdenken zu geben.
1. These: Du musst die Engel nicht suchen!
Gott lässt sich finden, wenn man ihn sucht. Nicht immer, aber doch immerhin manchmal. Bei Engeln ist das anders. Maria, das Mädchen aus Nazareth, hat keinen Engel gesucht. So um die 14 oder 15 Jahre muss sie alt gewesen sein, denn ab diesem Alter galten weibliche Wesen als heiratsfähig und wurden deshalb als „parthenos“ bezeichnet. Ein doppeldeutiges Wort, das Luther als „Jungfrau“ übersetzte. Das trifft es nicht ganz und hat zu viel Verwirrung geführt. Die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzt daher zutreffend mit „junge Frau“. Maria, fast noch ein Kind, hat sicher keinen Engel gesucht, als ihr Gabriel begegnete, der für sie in einer ganz bestimmten Situation ihres Lebens zum Boten Gottes wurde. Boten haben eine Botschaft, Messenger eine Message. Selbst in der DDR hatten Engel eine Botschaft, allerdings nur genau eine: Als „Jahresendzeitfiguren“ wiesen sie darauf hin, dass der Jahreswechsel bevorstand. Die biblischen Engel haben andere und mehr Botschaften. Es ist aber zwecklos, nach diesen Engeln zu suchen. Wer an sie glaubt, weiß, dass sie sich nicht finden lassen. Sie sind zwar da, aber gut versteckt. Vielleicht irgendwo aufgewickelt in den elf Dimensionen unseres Universums, von denen wir – wenn die „Cosmic String“-Theorie stimmt – nur drei oder vier wahrnehmen können. Oder aber: Die Engel sind schon da, sind Menschen wie wir, von Geburt an Menschen, aber in bestimmten Situationen werden sie zu Engeln für andere.
2. These: Die Engel finden dich!
Maria sucht nicht, sie wird gefunden. Die Hirten vor Bethlehem suchen ebenfalls nicht, sie werden von den Engeln gefunden. So ist das offenbar, so funktioniert das Engelwesen. Gott schickt die Engel los als seine Boten, und dann sind sie plötzlich da und greifen ins Geschehen ein. So einfach ist das – und so unfassbar für uns, wenn sie uns begegnen.
Das ging mir mindestens einmal so, als ich Teenager war und zutiefst unglücklich, wie man mit 14 oder 15 Jahren (ein männlicher „parthenos“ sozusagen) so sein kann. Es war damals auch in der Adventszeit, es war bitterkalt, und ich lief durch die Rödelheimer Gassen. Hatte ein Freund mich verraten, hatte ich Stress in der Schule, war ich unglücklich verliebt? Wahrscheinlich alles zusammen. Ich weiß es gar nicht mehr. Aber da kam ein mir unbekannter Mann auf mich zu, sah meine Trauer und sprach mich an. Ich schilderte ihm mein Leid. Er sprach mir gut zu. Was er im Einzelnen sagte, weiß ich längst nicht mehr. Nur, dass er mir Mut machte und dass irgendwie Gott vorkam in dem, was er sagte. Und er verwies mich auf die junge Gemeindepfarrerin, die mich konfirmiert hatte. Die sei als Seelsorgerin für mich da. Stimmt ja! Ich ging nach Hause und war irgendwie beruhigt und getröstet. Wer war dieser Mann gewesen? Irgendein Rödelheimer Bürger? Ein Engel mitten in unserem Stadtteil? Wenn er einer war, dann könnten wir alle welche sein. Dann sollten wir auf die Suche gehen, um denen zu begegnen, die uns heute gerade brauchen.
3. These: Engel haben keine Flügel, aber eine Botschaft!
Ein Buch des klugen Theologen Claus Westermann trägt den Titel „Gottes Engel brauchen keine Flügel“. Engel mit Flügeln gibt es in der Kunst zwar reichlich, und auch die Jahresendzeitfiguren trugen oft Flügel. Aber in der Bibel und im wahren Leben ist das kaum bis gar nicht der Fall. Die Engel sehen meistens aus wie Menschen, weil sie nämlich in aller Regel Menschen sind – Menschen mit hellen Botschaften, mit guten Nachrichten für uns. Sie sind keine Nachrichtensprecher mit Katastrophenberichten, keine Angstmacher von Beruf. Deshalb eröffnen sie das Gespräch meistens mit der Formel: „Fürchte dich nicht!“ Gottes Boten wollen Licht in unser Leben bringen, sie sollen und wollen uns Mut machen zu einem Leben mit Gott.
Darum geht es also in den Messages der himmlischen Messenger: um Themen wie Gnade, Liebe, Frieden und Licht. Gabriel spricht Maria als eine „Begnadete“ (griechisch: „ke-charitomene“) an, also als ein Mensch, dem Gott seine Gnade schenkt. Und er begründet diese Anrede mit der Aussage: „Du hast Gnade (griechisch: „charis“) gefunden bei Gott.“ Das Wort „Gnade“ ist eines der wichtigsten Worte in der Bibel überhaupt. Es meint die Art, wie Gott Menschen seine Liebe zuwendet, nämlich so, dass er sie ohne Vorbedingungen annimmt. Gnade ist also eine Gabe, ein Geschenk, eine unverdiente Zuwendung, bei der man nicht fragen kann: Warum? Eine klassische Engelsbotschaft. Und jetzt an Weihnachten steht der Frieden im Mittelpunkt, wenn es vor Bethlehem heißt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Eine Botschaft, die wir uns an diesem Weihnachtsfest sicherlich ganz besonders wünschen. Da hätten wir also zwei Kennzeichen dafür, dass wir es in unserem Leben mit Engeln zu tun haben könnten: Sie bringen Heils-, Gnaden-, Licht- und Friedensbotschaften von Gott, und sie wollen uns Menschen Angst nehmen. Daran kann man sie erkennen. Und nicht an Flügeln.
4. These: Es gibt sie – mitten in unserem Leben!
Die Jahresendzeitfiguren in der DDR waren langweilige Gestalten, kitschig, stereotyp und so leer und inhaltslos wie Gott als alter Mann mit einem weißen Bart. Echte Engel sind anders. Sie sind mitten im Leben dynamisch unterwegs. Deshalb schreibt man Krankenschwestern oft zu, sie seien Engel. Man denke an die legendäre Florence Nightingale oder Elsa Brändström, den „Engel von Sibirien“. Wer anderen Menschen hilft, wer den Hungrigen Brot gibt oder die Kranken pflegt, hat offenbar etwas Engelhaftes an sich. Manche empfinden Pfarrer/innen als Engel. Ich habe einige Pfarrpersonen – bei weitem nicht alle! – so ähnlich erlebt. Wie so oft gibt es natürlich positive und negative Beispiele, und wo Geistliche Missbrauch begangen haben – und das gab es ja auch –, da haben sie eher teuflisch gewirkt. Ich möchte hier gar nicht erst über Politiker/innen sprechen; vielleicht sind Engel in ihrem Berufsfeld noch etwas seltener vertreten. Ein ganz anderes Beispiel war „die Putzfrau Gottes“, die ich einmal kennenlernte: eine Frau, die in ihrer Gemeinde fleißig die Kirche und Gemeinderäume reinigte. Wenn sie in der Kirche allein war, sprach sie mit Gott. Wenn ich sie antraf, sprach sie liebevoll mit mir. Diese Frau könnte ein Engel gewesen sein. Viele Menschen könnten „ein bisschen Engel“ sein.
Kinder fragen sich mitunter, ob wohl auch Tiere Engel sein können. In meiner Kindheit gab es viele Fernsehserien, in denen Tiere die Hauptpersonen waren: Lassie, die schöne Collie-Hündin, Flipper, der kluge Delfin, Skippy, das lustige Känguru. In fast jeder Sendung mussten diese Tiere irgendjemanden aus der Gefahr retten: „Lassie, hol Hilfe!“ – „Flipper, hol Hilfe!“ – „Skippy, hol Hilfe!“ Das klappte auch immer, meistens in letzter Minute. Die Botschaft war dabei klar: Da ist ein Mensch in Not, kommt mit und helft! Aber diese Botschaft blieb in ihrem Umfang und ihrer Deutlichkeit eher beschränkt. Also: Tierische Engel sind nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sehr wahrscheinlich.
Das wichtigste Thema in unserer Zeit ist sicherlich die drohende Klimakatastrophe. Daher liegt die Frage nahe: Ist die junge Schwedin Greta Thunberg ein Engel? In ihren Reden zum Klimaschutz sagt sie von sich selbst: „Ich bin nur eine Botin.“ Bote oder Botin, das ist die deutsche Übersetzung des griechischen „angelos“, auf Deutsch „Engel“. Greta Thunbergs Botschaft ist: „Alles und alle müssen sich ändern. Nur so können wir die Katastrophe verhindern.“ In der Sache hat sie sicher Recht. Andererseits sagt sie auch: „Ich will, dass ihr in Panik geratet.“ Engel sagen eher: „Fürchtet euch nicht!“ – so Gabriel zu Maria oder die Engel vor Bethlehem zu den Hirten. Falls Greta Thunberg ein Engel sein sollte – und ich will das gar nicht ausschließen –, dann wäre sie wohl ein Paradox-Engel. Eine seltene Sorte. Aber warum soll es die nicht geben, wenn sie der Schöpfung und dem Leben dienen?
5. These: Es gibt auch Schutzengel, mitten unter uns!
Unter den verschiedenen Arten von Engeln werden häufig die Schutzengel erwähnt. Sie gelten im Leben der Einzelnen als besonders wichtig. Sie werden das ganze Jahr über benötigt, und sie können einen Menschen auch ein Leben lang begleiten – wenn es sie denn gibt. Dann wären sie den Jahresendzeitfiguren weit überlegen, die ja nur im Dezember ihre Auftritte hatten.
Zwei Schutzengel aus meinem eigenen Leben kann ich sogar namentlich nennen. Es waren meine Urgroßmutter und meine Großmutter, Susanne und Elise. Die beiden tun ja längst im Himmel ihren Dienst, ich will sie aber niemals vergessen. Sie holten mich als Kleinkind aus einem Kinderheim heraus und zogen mich auf. Deutsche Kinderheime in den 1960er-Jahren – ich brauche wohl nichts weiter dazu zu sagen. Bewusste Erinnerungen an die Zeit im Heim habe ich nicht, aber im Unterbewusstsein ist alles gespeichert. Wichtig war die Rettung, das Geschenk einer Heimat für ein Kind, das sich selbst als verstoßen empfand. Wichtig waren die Liebe und die Geborgenheit, die ich erlebte. Wichtig war, dass ich beten lernte von Omi und Oma und dass sie mir Geschichten von Gott und von Jesus erzählten. Besonders die Advents- und Weihnachtszeit habe ich jedes Jahr als bunt und beglückend erlebt. Susanne und Elise brachten mir Gott und den Glauben nahe, sie nahmen mir meine Angst und waren daher echte Boten Gottes. Auch an anderen Menschen, etwa meinen Geschwistern, habe diese beiden Engel sehr viel Gutes getan. Womöglich sind Omas meistens Engel für die Enkel – umgekehrt können auch Enkel Engel für ihre Omas sein (das nennt man auch den „Engel-Trick“).
Robbie Williams hat in seinem Lied „Angels“ ganz sicher einen Schutzengel im Blick. Denn er singt darin: „And through it all / She offers me protection / A lot of love and affection / Whether I’m right or wrong / And down the waterfall / Wherever it may take me / I know that life won′t break me“. Auf Deutsch: „Durch dies alles bietet sie (die Engelin) mir Schutz / reichlich Liebe und Zuneigung / egal ob ich recht habe oder nicht / und wohin der Wasserfall mich auch treiben mag / weiß ich, dass das Leben mich nicht zerbrechen wird“. Ja, das tun die Schutzengel, so sind sie.
Natürlich gibt es erst recht Schutzengel, die unser Leben nur gerade mal streifen. Das ist vielleicht der häufigere Fall. So eine Begegnung hatte ich erst kürzlich, Anfang Oktober, als ich ein unheimliches Erlebnis der „dritten Art“ hatte: Mir kam unter mysteriösen Umständen meine Brieftasche abhanden – mit Geld darin, mit Personalausweis und Bankkarten. Ich war natürlich entsetzt, erstattete bei der Polizei Anzeige, suchte Fundbüros auf und bereitete mich auf höchst komplizierte Wiederbeschaffungsvorgänge vor. Acht Tage später tauchte die Geldbörse unter ebenso merkwürdigen Umständen wieder auf, wie sie verschwunden war. Es war alles darin, vielleicht fehlten ein oder zwei Geldscheine. Meine Frau meinte, da habe jemand wohl ein schlechtes Gewissen bekommen. Das kann so gewesen sein. Oder aber ein Schutzengel kam im Auftrag Gottes plötzlich in mein Leben und gab mir ganz persönlich das Portemonnaie zurück, um mein Leben nicht noch komplizierter zu machen, als es oft ist. Ich bin froh und dankbar, dass es so ausging. Was auch immer da passiert sein mag, Jahresendzeitfiguren kriegen so etwas sicher nicht hin.
Reisen
Eine Einladung zur Rückschau
Dieses Jahr hat mich gefordert. Ich sitze im Zug auf dem Weg zu einem vertrauten Ort, an dem ich Ruhe finden und Kraft tanken kann. Ich schaue in andere erschöpfte Gesichter. Dieses Jahr hat uns alle gefordert. Die Anspannung ist spürbar. Wir sind kollektiv betroffen.
Früher habe ich auf Bahnfahrten gerne das Gespräch gesucht. Die Spontaneität des Austausches war erfrischend, heiter, manchmal gar inspirierend. Doch etwas hat sich verändert – und es sind nicht allein weiße Masken, die Begegnungen erschweren. Der Zug ist voll. Wir reisen zusammen und bleiben doch mit uns allein.
Ich schaue aus dem Fenster. Eigentlich hatte ich einen Sitzplatz in Fahrtrichtung gewählt. Ich reise ungern rückwärts, sehe gerne, was vor mir liegt, was mich erwartet. Die Musik auf meinen Ohren besänftigt mich. Ich lehne mich zurück in meinen Sitz und genieße das geschmeidige Gleiten des Zuges, der sich mit scheinbarer Leichtigkeit seinen Weg durch eine Landschaft bahnt, deren Schönheit mich mit dem Moment versöhnt. Bunt gespickte Flussläufe, taufrische Wiesen und Täler ziehen an mir vorbei, eröffnen immer neue Perspektiven und überraschen mich mit einer farbigen Komposition, die mich staunen und ankommen lässt in der Bewegung des Reisens. Für das, was vor mir liegt, was ich in den kommenden Tagen suche, ist das rückwärtsgewandte Reisen doch eine willkommene Gelegenheit. Eine Einladung zur Rückschau.
(Kein) Getreide für alle
Hunger und Armut in Zeiten von Pandemie und Krieg
Es war endlich mal eine halbwegs gute Nachricht aus der Ukraine: Sieben Schiffe mit insgesamt 124.300 Tonnen Getreide an Bord haben die Häfen von Odessa, Tschornomorsk und Piwdenne in Richtung Europa und Asien verlassen – so meldete es das ukrainische Infrastrukturministerium am 24. Oktober 2022. Darunter befand sich auch ein vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gechartertes Schiff mit 40.000 Tonnen Weizen, die in den Jemen gebracht werden sollen, wo sie dringend benötigt werden.
Im Juli, als die Ukraine und Russland auf Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei ein Abkommen über den Export von Getreide schlossen, hatte UN-Generalsekretär António Guterres insofern von einem „Leuchtfeuer der Hoffnung“ gesprochen. Wie vor dem Krieg sollten wieder Frachtschiffe über das Schwarze Meer und den Bosporus fahren und den Weltmarkt beliefern. Am 29. Oktober 2022 allerdings, nur fünf Tage nach dem Start der besagten Getreide-Schiffe, hat Russland die entsprechende Übereinkunft mit der Ukraine bereits wieder aufgekündigt.
Das Zeitalter des Lebendigen
Eine neue Philosophie der Aufklärung
Von der französischen Philosophie gehen auch im 21. Jahrhundert immer wieder neue, bedeutende Anregungen aus. Die Namen Alain Badiou, Alain Finkielkraut und Jacques Rancière sind seit Langem bei uns bekannt. Nun gilt es, sich auch den Namen von Corine Pelluchon zu merken. Die in Paris wirkende Hochschullehrerin hat in ihrem jüngsten Buch vorgeschlagen, eine „neue Aufklärung“ auf den Weg zu bringen. Da schlägt einem der Aufklärung verpflichteten Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt das Herz gleich höher – nicht nur, weil er von seiner Landeskirche wie viele andere Kirchenmitglieder auch in diesem Herbst wieder eine „Impulspost“ zum Thema „Herzbegegnungen“ erhalten hat.
Das Krankenhaus als mediales Brennglas
Was wir von TV-Serien „lernen“ können
Wir steuern auf ein Jubiläum zu: die eintausendste Folge der ARD-Krankenhausserie „In aller Freundschaft“. Im Jahr 1998 hatte der MDR mit der Ausstrahlung der ersten Folge begonnen und den Zuschauer/innen die Türen der Sachsenklinik in Leipzig geöffnet. Eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, denn diese TV-Serie hat sich nahezu 25 Jahre lang die Gunst des Publikums erhalten und eine Fangemeinde aufgebaut. Doch wie gelingt so etwas? Wie kommt es, dass es gerade Geschichten aus dem Krankenhaus sind, in denen Patient/innen nach Unfällen und mit Erkrankungen eingeliefert werden, von denen der Einzelne selbst doch lieber verschont bleiben möchte? Oder sind es vielmehr die Einblicke in das Gefühlsleben von Ärzt/innen und Pflegekräften, die mit ihren Konflikten sowohl beruflich wie auch privat zu kämpfen haben? Was fasziniert daran? Was unterhält dabei? Wird auch etwas gelernt, oder kann der (zu häufige) Konsum von Krankenhausserien auch schaden?
Von Wahlen und Hausaufgaben
Es ist laut. Die Pause ist gerade vorbei. Der Klassenraum füllt sich. Vorne hängt die Tafel. Hier wird noch mit Kreide geschrieben. Gerade haben wir Assoziationen zum Thema Europa gesammelt. Jede und jeder hat ins eigene Handy getippt, was ihr oder ihm einfiel. Ein Onlineprogramm hat daraus eine bunte Wortwolke gemacht. Der Beamer projiziert sie über die blassen Kreidespuren auf der grünen Tafel: „Frieden“, „Demokratie“, „27 Länder“. Wer nähergeht, kann auch „Macht“, „Krieg“, „Deutschepass“ und „Hashish plantage“ dechiffrieren.
24. Juni 1922
Der Mord an Walter Rathenau und warum er uns heute beschäftigt
Vor 100 Jahren wurde Walter Rathenau, der damalige Außenminister Deutschlands, in Berlin auf offener Straße ermordet. Liberaler Politiker der Deutschen Demokratischen Partei, Industrieller und Schriftsteller, promovierter Ingenieur, der sich auf Elektrochemie spezialisiert hatte, Jude, der nicht zum Reserveoffizier befördert worden war, weil er Jude war, und der sich immer wieder antisemitischen Kampagnen ausgesetzt sah, seit er die politische Bühne betreten hatte. Walter Rathenau war der älteste Sohn des AEG-Firmengründers Emil Rathenau und seiner Ehefrau Mathilde, die aus der jüdischen Frankfurter Bankiersfamilie Nachmann stammte.
Es ist an der Zeit.
Alles scheint gerade gleichzeitig zu passieren. Es ist Krieg. In der Ukraine, aber nicht nur dort. Es ist noch immer Pandemie. Überall auf der Welt. Gleichzeitig befinden wir uns in der kritischen Phase, wenn wir die Klimakatastrophe verhindern wollen. In unserem Land ist immer mehr von Zerrissenheit und Spaltung die Rede. Populisten gewinnen an Zuspruch. Nicht nur bei uns. Wir haben mindestens eine handfeste Diktatur in den Reihen der EU.
Selbst für einen Menschen mit einer ordentlichen Portion Zuversicht und Hoffnung sind das ein paar Dinge zu viel gleichzeitig. Wo fangen wir an? Was ist gerade dran? Was kann warten? Eigentlich nichts. In der Eisenhower-Skala ist alles im Quadrant „dringend und wichtig“. Nichts kann verschoben, nichts delegiert werden.
Ein Impuls von Hanna-Lena Neuser
im Mai 2022
Der Apostel Paulus, Alain Badiou
und sein Lob der Mathematik
Alain Badiou, geboren 1937, ist einer der großen französischen Intellektuellen der Gegenwart. Der Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie in Bonn, Markus Gabriel, hält ihn sogar für den „derzeit wohl einflussreichsten französischen Philosophen“ überhaupt. In gewisser Weise aber ist er ein komischer Kauz: ein unbelehrbarer maoistischer Kommunist, ein Liebhaber der antiken griechischen (Platon) und der klassischen deutschen Philosophie (Kant, Hegel, sogar Heidegger). Außerdem ist er ein atheistischer Fan des Apostels Paulus, mit dessen Denken und Wirken er sich bereits in den 1990er-Jahren intensiv beschäftigte. Vor allem aber ist er ein so großer Fan der Mathematik, dass er ihr ein Loblied geschrieben hat und sogar meint, sie mache Menschen glücklich.
Neue Wege der Erinnerung
Oder: Was hat das mit mir zu tun?
Anfang dieses Jahres, am 6. Januar 2022, starb Trude Simonsohn. Sie hinterlässt eine Lücke. Trude Simonsohn, seit 2016 Ehrenbürgerin der Stadt Frankfurt am Main, hatte das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und gehörte zu den letzten noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Schoa. „Fragt uns, wir sind die Letzten“, forderte sie immer wieder auf, seitdem sie Ende der Siebzigerjahre als Zeitzeugin zu sprechen begann. „Passt auf, dass das nicht wieder geschieht, und sagt rechtzeitig und laut genug Nein“, so ihre Botschaft an die Menschen, zu denen sie sprach. Gerade heute, da weltweit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus wieder bedrohlich erstarken, da antisemitische Verschwörungserzählungen in der Pandemie einen unfassbaren Aufschwung erhalten, brauchen wir eine lebendige Erinnerungskultur. Doch Trude Simonsohn hatte Recht: In nicht allzu ferner Zukunft werden wir in einer „Zeit nach den Zeitzeugen“ leben.
Mann beißt Hund!
Wann ist eine Nachricht eine Nachricht? Wir schlagen bei Wikipedia nach und werden fündig. Ende des 19. Jahrhunderts soll John B. Bogart, Lokalreporter der New Yorker Zeitung „Sun“, die wohl am häufigsten zitierte Definition journalistischen Bestrebens geformt haben: „Wenn ein Hund einen Mann beißt, ist das keine Nachricht, weil es so häufig geschieht. Aber wenn ein Mann einen Hund beißt, ist das eine Nachricht!“ Ein berichtenswertes Ereignis muss also selten vorkommen, darf einen Überraschungseffekt haben und soll auch das Interesse wecken, weiterzulesen. Letzteres lässt sich mit einfachen Fragen erreichen, für deren Beantwortung die „Sun“ ebenfalls berühmt war. So hatte sich im Jahr 1897 eine Achtjährige an die Zeitung gewandt und um die Beantwortung jener Frage gebeten, die ihr Weltbild zu verunsichern drohte: „Gibt es einen Weihnachtsmann?“. Die bewegende Antwort im Leitartikel der Zeitung wird bis heute in der Weihnachtszeit immer wieder abgedruckt.
Jugend, Weltschmerz, Hoffnung
Meine Reise durch den Kaninchenbau
Ein verregnetes Winterwochenende. Ich hänge die Wäsche zum Trocknen auf. Kleine Socken und bunte Pullis. Das große Kind leistet mir Gesellschaft. Offensichtlich aus Langeweile, aber ich genieße es trotzdem. Ausnahmsweise erzählt es von sich und seinen Gedanken. „Mama“, fragt es, „können wir eine Papiertüte mitnehmen, wenn wir später rausgehen?“ „Klar“, sage ich und überlege, was man mit einer Papiertüte Lustiges anstellen kann. „Papiertüten sind nämlich nur besser als Plastiktüten, wenn man sie mehr als einmal benutzt“, kommt die Antwort, und gleich spüre ich zwei Gefühle in meiner Brust. Freude darüber, dass mein Kind so schlau und verantwortungsbewusst ist; dass es etwas für die Umwelt machen will und sich darüber Gedanken macht, was wir als Familie tun können. Und gleichzeitig Sorge. Sorge um die Zukunft dieses Kindes und darüber, wie es ihm gehen wird, wenn es in ein paar Jahren noch besser versteht, was auf unserem Planeten los ist.
Abkehr vom Absoluten
Über den Wunsch nach einer anderen Diskurskultur
Der Advent und die Tage „zwischen den Jahren“ sind oft die Zeit, in der Menschen über das vergangene Jahr nachdenken und sich das neue Jahr vorstellen – und meist kommt man zu dem Schluss, dass es eigentlich nur besser werden kann. Gerade in Zeiten wie diesen. In der Akademie schauen wir auf ein ereignisreiches Jubiläumsjahr zurück. 75 Jahre Akademiearbeit mit dem Auftrag, den gesellschaftlichen Diskurs zu stärken. Doch wie steht es heute um unsere Diskurskultur?
In einem Gastbeitrag in der Sächsischen Zeitung vom 22. November stellt Dr. Roger Hillert, Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie in Görlitz, eine sehr treffende Frage: „Können wir es weiterhin akzeptieren, dass Impfärzte als Mörder tituliert werden und Impfskeptiker als kriminelle Dummköpfe?“ Hillert spricht eine der Konfliktlinien an, an denen sich zeigt, wie polarisiert aktuell Diskurse geführt werden. Es gibt oft nur noch zwei Meinungen, die sich aus der Perspektive der Beteiligten diametral gegenüberstehen: „meine“ Meinung und „die falsche“. Unter diesen Voraussetzungen kann ein Diskurs nicht gelingen. Wenn wir nicht bereit sind, einander zuzuhören, braucht es nämlich gar keinen Diskurs. Dann ist schon vorher alles gesagt.
Wohin schauen wir?
Über Afghanistan (hinweg)
Haben Sie die letzte Folge der „Anstalt“ gesehen? Da die Satireshow die Grundlage für unser Format „Humor ist …“ ist, schaue ich jede Sendung mehrfach. Und es ist wie in einem Wimmelbild: Man entdeckt bei jedem weiteren Schauen immer noch neue Details und Facetten. In der letzten Sendung vom 5. Oktober 2021 ging es um traumatisierende Momente der Geschichte. Nein, ich meine nicht das Ergebnis der Bundestagswahl und auch nicht die Regierungsbildung. Ich meine die Situation in Afghanistan. Vor 20 Jahren begann dort „der längste Krieg“, wie der Autor Emran Feroz ihn in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Der Krieg gegen den Terror. Damals war Feroz, selbst Kind afghanischer Eltern, gerade einmal elf Jahre alt.
Über 170.000 Tote. Es dürften deutlich mehr sein, denn es wurde erst 2009 angefangen, die Zahl der Kriegsopfer zu erheben. Die lange Geschichte des Afghanistankriegs erlangt in diesem Jahr einen neuen, düsteren Höhepunkt, als der Abzug der US-Truppen für ein Chaos sorgt, das seinesgleichen in der Geschichte sucht. Am Ende stehen Afghanistan und alle Menschen, die dort leben – Kinder, Frauen, Männer, Mütter, Großväter, Brüder und Schwestern – vor einem unvorstellbaren Scherbenhaufen. Verzweiflung, Vergewaltigung, Verderben.
Neubesinnung auf den Wert der Nation
31 Jahre Deutsche Einheit werden dieses Jahr am 3. Oktober gefeiert. Diesen Anlass greifen wir einen Tag später mit einer Akademieveranstaltung auf. „Zur Lage der Nation“, so der etwas staatsmännisch anmutende Titel. Er ist angelehnt an die Reden gleichen Titels, die die Bundeskanzler der alten Bundesrepublik Deutschland früher einmal jährlich im Bundestag vortrugen. Drei Jahrzehnte lang, von 1968 bis 1989, gab es diese traditionelle Ansprache, in der es um eine Bestandaufnahme zur Lage der deutschen Teilung ging. Nachdem am 3. Oktober 1990 die Deutsche Einheit vollzogen war, wurde das Ritual aufgegeben. So als ob es mit der überwundenen Teilung Deutschlands obsolet geworden wäre.
Leitung in der Politik
Überlegungen in einem Wahljahr
Wenn am 26. September 2021 ein neuer Bundestag gewählt wird, steht längst fest, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach 16 Jahren ihr Amt abgeben wird. Kandidat/innen für ihre Nachfolge sind: Armin Laschet (geboren 1961) für die CDU/CSU, Annalena Baerbock (geboren 1980) für Bündnis 90/Die Grünen und Olaf Scholz (geboren 1958) für die SPD. Wer am Ende siegen wird, hängt von mehreren Faktoren ab: von der politischen Großwetterlage, von den Grundwerten der zur Wahl stehenden Parteien, von den konkreten Wahlprogrammen, von taktischen Erwägungen der Wähler/innen und vielem mehr. In Teilen aber wohl auch von der persönlichen Integrität und Leistungsfähigkeit der jeweiligen Kandidat/innen – besser gesagt davon, wie die Wähler/innen diese einschätzen.
Schmerzen, Eva und die Zukunft des Händeschüttelns
Angesichts dieses Jubiläums müssten alle auf die Knie fallen: Könige, Bettler, Anwälte, Bäuerinnen, Studenten, Schwangere, Minister, Handwerkerinnen, Junge und Alte. Kaum etwas ist vergleichbar mit dieser Errungenschaft, deren wir in wenigen Wochen am 16. Oktober gedenken: 175 Jahre Anästhesie!
Körperliche Schmerzen waren über Jahrtausende ein Problem der Menschheit. Und auch wenn die Beseitigung von Schmerzzuständen bis heute nicht vollständig gelöst ist, so markieren doch die Ereignisse in den USA im Herbst 1846 einen nicht zu unterschätzenden, epochalen Einschnitt: Der Bostoner Zahnarzt William Thomas Green Morton (1819–1868) ließ im Massachusetts General Hospital einen Patienten Ätherdämpfe einatmen, wodurch ermöglicht wurde, dass der Chefarzt der Chirurgie, John Collins Warren, ihm in einer schmerzfreien Operation einen Tumor am Hals entfernen konnte.
Verhärtete Fronten
Über die Tücken und Folgen der Identitäts- und Rassismusdebatten
Die Brisanz der aktuellen Rassismusdebatten zeigt ein Blick in die Schlagzeilen: Die Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman führt zu hitzigen Diskussionen darüber, wer für wen sprechen darf. Die Debatte um die Rückgabe der als Raubgut geltenden Benin-Bronzen an Nigeria polarisiert. Jens Lehmann verliert nach einer rassistischen Chatnachricht seinen Posten bei Hertha, und die Grünen prüfen nach Rassismusvorwürfen ein Parteiaustrittsverfahren gegen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.
Hadija Haruna-Oelker attestiert Deutschland eine neue Rassismusdebatte. Am 22. Juli 2020 schrieb sie in einem Artikel für die Heinrich-Böll-Stiftung:
„Dass ein weißer Polizist den Schwarzen George Floyd nicht mehr atmen ließ, hat vieles in Bewegung gebracht. Nicht nur auf den Straßen in den USA. Groß erscheint die Entschlossenheit vielerorts, mit Rassismus aufzuräumen. Auch in Deutschland hat die Dekolonialisierungsbewegung einen Schub erhalten. (…) Nach Corona wird in den Redaktionen Rassismus das Top-Thema 2020.“
Politische Bildung für wen?
Von Verzweiflung, Beunruhigung und dem Drang nach Trotzigkeit
Der aktuelle 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt sie in den Fokus: politische Bildung. „Das wichtigste Ziel politischer Bildung ist, jungen Menschen demokratische Prinzipien wie Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit oder den Schutz von Minderheiten zu vermitteln.“ So kommentiert Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Fokussierung auf dieses Thema.
Auf allerhöchster politischer Ebene ist also etwas angekommen, das Praktiker:innen aus dem Bereich der politischen Bildungslandschaft schon seit jeher klar ist: Politische Bildung ist ein wichtiges Element einer gesunden und stabilen Gesellschaft. Viele Menschen setzen sich seit Jahrzehnten mit Herzblut dafür ein, dass politische Bildung stattfindet und viele Menschen erreicht – zum Teil unter immer schwieriger werdenden strukturellen und finanziellen Bedingungen. Gelder werden gekürzt (oder schon seit Jahren nicht angemessen erhöht), es wird in Projektlogik gefördert, langfristige Perspektiven werden dadurch unmöglich gemacht. Politische Bildung wird in Lehrplänen, in der Lehrerausbildung und im Stundenplan minimiert oder ganz gestrichen, Träger politischer Jugendbildung müssen um ihren Status der Gemeinnützigkeit kämpfen.
Zwischen Erinnerungskultur, Antisemitismus und Gegenwartsbewältigung
Der Film „Masel Tov Cocktail“
Wie es sich anfühlt, heute als Jude in Deutschland aufzuwachsen, davon handelt der Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ (Regie: Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch). Am Anfang stand für die beiden Regisseure die Frage, was sie aus einer subjektiv jüdischen Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft mitteilen wollen und wie sie das in 30 Minuten vermitteln können. Entstanden ist ein temporeicher Film, der sich mit Witz und Ironie den unterschiedlichen Facetten des Themas widmet und der filmästhetisch überzeugt.
Es geht um die Wahrnehmungsdifferenz von Juden und Nichtjuden, um die Zuschreibungen, denen Jüdinnen und Juden im heutigen Deutschland immer wieder begegnen, und um das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es ist ein dichter Film, der Spaß macht und zugleich ein ernstes Thema verhandelt. Das sei ihm wichtig gewesen, sagt Regisseur Arkadij Khaet. Denn Lachen entkrampft.
Hauptfigur ist der Abiturient Dimitrij Liebermann, genannt Dima. Er ist Sohn russisch-jüdischer Eltern, die zu Beginn der 1990er-Jahre als Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Aufgewachsen ist Dima im Ruhrpott, in einer Hochhaussiedlung. Weil er es satthat, sich judenfeindliche Provokationen anzuhören, die seine Menschenwürde beleidigen, setzt er sich eines Tages gegenüber einem Mitschüler zu Wehr und schlägt diesem mit der Faust ins Gesicht. Nun soll Dima sich entschuldigen.
Friede für Afrika
Hoffnung ist, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal sagte, „ins Gelingen verliebt“. Wenn Menschen etwas erreichen wollen, dann brauchen sie auf dem Weg zu ihrem Ziel immer auch Erfolgserlebnisse. Wenn schon nicht große Narrative, dann mindestens kleine Beispielgeschichten, die zeigen, dass unser Leben und Wirken gelingen kann, dass nicht alles umsonst ist, was geschieht, dass wenn schon nicht alles, so doch einiges besser werden kann auf der Welt, in der wir leben. Zweifellos bildet die Befreiung Südafrikas von dem Regime der Apartheid zu Beginn der 1990er-Jahre ein positives Beispiel dafür, dass die Geschichte eines Landes in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit verlaufen kann. Die Namen Nelson Mandela (1918–2013) und Desmond Tutu (* 1931) stehen symbolisch für den seinerzeit errungenen Erfolg einer Befreiungsbewegung.
Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Dieser Frau haben wir unendlich viel zu verdanken: zum einen die Erforschung der Ursachen der Krebsentstehung, zum anderen die Tatsache, dass Medikamente gegen Brustkrebs, Leukämie und Parkinson entwickelt werden konnten – ebenso wie ein Polioimpfstoff. Ihre Zellen waren bei den ersten Raumflügen dabei, weil man wissen wollte, wie sie sich unter den Bedingungen der Schwerkraft verhalten. Sie war die erste Frau, die „unsterblich“ wurde, und dennoch blieb sie weitgehend unbekannt. Ihr und ihrer Familie blieb die gebührende Anerkennung lange verwehrt.
Im vergangenen Jahr wäre Henrietta Lacks, die Frau, von der wir hier sprechen, 100 Jahre alt geworden. Nun jährt sich bereits ihr Todestag zum 70. Mal. Doch was genau macht die so jung Verstorbene „unsterblich“? Wie kommt es, dass ihr bis heute viele Patient/innen das Leben verdanken?
No Love
Über verlernte Nächstenliebe und gute Vorsätze
Dezember. Adventszeit. Noch nicht ganz Zeit der Besinnung, aber Zeit des großen Vorbereitens und der Vorfreude. Normalerweise Zeit für Besorgungen und gründliches „Fertigmachen“ vor den Ferien, aber auch für einen Glühwein mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt. Für mich immer die Zeit, wenn ich – mit einem nostalgischen Seufzen – meine schwedischen Rezepte heraushole und mit den Kindern Pfefferkuchen und Safranbrötchen backe. Wir gehen ins Lucia-Konzert und singen die Lieder, die ich aus meiner Kindheit kenne. Die Tickets für das Zusammenkommen unserer internationalen Familie aus drei Ländern sind normalerweise längst gebucht. Vergangenes Jahr traten wir die Reise im Zug an, hatten mit Verspätungen zu kämpfen und verpassten fast den Anschluss. Aber wir kamen an. Das Fest der Liebe konnte beginnen.
Und dieses Jahr: Was traut man sich? Was ist realistisch, was erlaubt, was zu riskant? Die schwedische Gemeinde hier in Frankfurt bietet einen digitalen Weihnachtsmarkt an. Schön. Aber Heiligabend im Digitalformat – bitte nicht! Zum ersten Mal fühle ich mich von meinem Elternhaus und meinen kleinen Nichten unfreiwillig abgetrennt und isoliert. Meine Schwester, die in England lebt, scherzt: Vielleicht feiern wir am 25. Dezember einfach eine Fiesta Mexicana mit Tacos und Sombreros, damit wir nicht dasitzen und trauern müssen, dass ein „richtiges“ Weihnachten nicht möglich war. Ob das die Lösung ist?
Wer ist reif für die Demokratie?
Warum genau jetzt die Zeit sein könnte, das Wahlalter zu senken
2020 ist das Jahr der Jubiläen. Vor 300 Jahren wurde Baron Münchhausen geboren, vor 200 Jahren Friedrich Engels, vor 100 Jahren Johannes Paul II. Richard von Weizsäcker und Marcel Reich-Ranicki wären dieses Jahr beide 100 geworden. Wir feiern das Beethoven-Jubiläum, die Wiedervereinigung, und wir schauen seit 50 Jahren Tatort. Das Vermächtnis von besonderen Menschen und historischen Ereignissen lässt uns jubilieren, gedenken und ihre Wichtigkeit würdigen.
Aber dank Heribert Prantl wurde mir ganz mulmig im Bauch, als ich in seiner Kolumne vom 26. Juli 2020 erfuhr, dass wir ein wirklich wichtiges Ereignis in unserem Jubiläumskalender völlig übersehen hatten: Vor genau 50 Jahren wurde in der Bundesrepublik das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt. Prantl beschreibt sehr lesenswert, in welcher Zeit und unter welchen Bedingungen diese politische Entscheidung getroffen wurde.
Welche Gründe gab es, das Wahlalter anzupassen? Welche Argumente wurden ausgetauscht? Ein wesentlicher Aspekt war damals das ambitionierte Projekt des noch ziemlich „amtsjungen“ Bundeskanzlers Willy Brandt. „Mehr Demokratie wagen“ – vor ziemlich genau 51 Jahren hat er das erstmalig als Credo seiner Politik verkündet. Mehr Demokratie, das geht auf verschiedenen Wegen. Eine Rolle spielt das Ausmaß der Beteiligung, nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ. Je mehr Menschen wählen dürfen, desto mehr Demokratie, so könnte man verkürzt sagen.
„Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen“
Das Leben von Ruth Bader Ginsburg
Dass die Welt amerikanischer Frauen heute eine andere ist als vor fünfzig Jahren, dazu hat Ruth Bader Ginsburg maßgeblich beigetragen. In einem Interview sagte sie einmal: „Obwohl wir nicht im Nirwana angekommen sind, haben wir doch viel erreicht.“ Ihr Leben lang kämpfte die amerikanische Verfassungsrichterin für die Gleichstellung der Geschlechter. Sie setzte sich auch immer wieder für Männer ein, die soziale Benachteiligung erfuhren. Etwa als es darum ging, einem Witwer für die Betreuung seines Sohnes die gleichen Steuervergünstigungen zu verschaffen, die Frauen zustanden, ihm aber von der Finanzbehörde verweigert wurden.
Auf einem Schild an der Tür ihres Büros in Washington, so heißt es, habe der biblische Vers „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen“ aus dem 5. Buch Mose gestanden. Er entsprach ihrem Credo, das sich in ihrem Handeln widerspiegelte. Authentizität, sachliche Strenge und Beharrlichkeit sowie das Eintreten für liberale Werte und soziale Gerechtigkeit, das waren Eigenschaften, die Ruth Bader Ginsburg ausmachten. Sie trugen ihr die Anerkennung quer durch die Generationen ein und verliehen ihr während des vergangenen Jahrzehnts geradezu Kultstatus, vor allem bei jüngeren Menschen. 1993 hatte Bill Clinton sie als Verfassungsrichterin an den obersten amerikanischen Gerichtshof berufen, als erste jüdische Frau und zweite Frau überhaupt in diesem Amt. 27 Jahre lang übte sie dieses Amt aus, bis zuletzt. Am Freitag, 18. September 2020, ist die legendäre Verfassungsrichterin im Alter von 87 Jahren an den Folgen von Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben.
„Jesus ist nicht weiß“
Erinnerung an Martin Stöhr
Im Jahr 1981 war ich als junger Theologiestudent erstmals auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain zu Gast. Dabei lernte ich Martin Stöhr, den damaligen Akademiedirektor, kennen. Drei Jahre später hielt er ein theologisches Seminar an der Philipps-Universität Marburg. Ich schrieb bei ihm eine Seminararbeit über „Paul Tillich in der Weimarer Republik“ und erhielt dafür die Note „sehr gut“, was mir das „Kleine Luther-Stipendium“ der EKHN einbrachte. Immer wieder während meines Berufswegs – als Pfarrer der Frankfurter Kreuzgemeinde, als Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD in Hannover, als Reformationsbeauftragter der EKHN, zuletzt als Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt – kreuzten sich unsere Wege. Wir hatten immer freundliche Begegnungen und fruchtbare Gespräche miteinander. Bis Martin Stöhr vergangenes Jahr im Dezember starb. Mit diesem Text möchte ich an ihn erinnern.
Am 30. August dieses Jahres (2020) wäre er 88 Jahre alt geworden. Sein bewegtes Leben begann im Sommer 1932 in einem evangelischen Pfarrhaus in Singhofen im Taunus. Genau fünf Monate später, am 30. Januar 1933, gelangte Adolf Hitler an die Macht. So war die gesamte Kindheit Stöhrs vom Nationalsozialismus und vom Zweiten Weltkrieg überschattet. Da sein Vater zur Bekennenden Kirche gehörte, nahm der Junge das Dritte Reich in seiner ganzen Unmenschlichkeit wahr. Auch prägte ihn ein Erlebnis, das sich im Jahr 1944 ereignete: Ein englischer Flieger war abgestürzt. Martin Stöhr gehört zu einer Handvoll Kinder, die den toten Piloten entdeckten. Er war ausgezogen, einen Feind zu suchen – und fand einen wehrlosen, toten Menschen, der das Foto seiner Frau und seiner Kinder in den Händen hielt. Diese Szene berührte ihn sehr, wie er mir einmal erzählte.
Des Doktors Dilemma
Ethische Fragen in Zeiten knapper Ressourcen
Der irische Dramatiker George Bernard Shaw hatte im Jahr 1906 ein prägendes Erlebnis im Untersuchungslabor des St. Mary’s Hospital in London. Zu dieser Zeit versuchte der britische Pathologieprofessor Almroth Wright einen Impfstoff gegen die gefürchtete Tuberkulose zu entwickeln, wobei die klinische Methode der Impfung zur damaligen Zeit unter britischen Ärzten heftig umstritten war und nur wenige Forscher darin eine Erfolg versprechende und verantwortbare Zukunft sahen.
Sir Almroth erläutert gerade seinem Freund Bernard Shaw die Methode der Impfung, da wird der angesehene Arzt unterbrochen und gefragt, ob ein bestimmter Patient – nennen wir ihn hier Herr X – auch mit der neuen Methode behandelt werden könnte. Sofort entsteht unter den Anwesenden im Labor eine hitzige Diskussion, und deutlicher Unmut macht sich breit. Von Überlastung des kleinen Forscherteams ist die Rede – und dass Herr X es „nicht wert“ sei, angesichts der knappen Ressourcen behandelt zu werden. Bernard Shaw, zur damaligen Zeit schon ein bekannter Theaterkritiker und erfolgreicher Bühnenautor, wird hellhörig. Er wittert den dramatischen Stoff, der sich ihm in dieser Szene offenbart: Darf der Arzt darüber entscheiden, ob das Leben eines Menschen „erhaltenswert“ ist? Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer behandelt werden soll, wenn die medizinischen Ressourcen nicht für alle ausreichen?
Shaw erkennt, wie er später selbst schreibt, dass man diesen realen Fall nur noch auf einen „sehr interessanten Patienten mit einem moralisch extrem fraglichen Soll-und-Haben-Stand und vielleicht noch einer sehr attraktiven Ehefrau zu übertragen brauchte, um das Dilemma des Arztes praktisch unlösbar und folglich hochdramatisch zu machen“. Innerhalb von nur vier Wochen bringt er das Stück The Doctor’s Dilemma zu Papier, das am 20. November 1906 im Royal Court Theatre in London mit großem Erfolg uraufgeführt wird.
Meckert ruhig!
Alles ist anders als sonst, inzwischen schon seit vielen Wochen. Wie wir arbeiten, wie Kinder betreut und unterrichtet werden, wie das soziale Leben und unsere Freizeit sich gestaltet, was Solidarität heißt und wo sie gezeigt wird, was uns beschäftigt, Sorgen bereitet oder auch freut. Es fasziniert mich, wie stoisch wir als Gesellschaft mit den Lockdown-Maßnahmen umgegangen sind und wie diszipliniert wir uns nun auf das Maskentragen und die Regeln des schrittweisen Lockups einstellen. Sowohl in der öffentlichen Berichterstattung als auch in privaten Gesprächen ging es meinem Eindruck nach wochenlang um das, was man auf Englisch silver lining nennt: den Silberstreif am Himmel, das kleine Glück im Unglück. Natürlich ging es auch um das Virus, die Erkrankten, „flatten the curve“ und die befürchteten Wirtschaftsfolgen. Aber auch um alles, was spontan aus dem Boden gestampft wurde, um einander zu helfen, sich zu unterstützen und in Kontakt zu bleiben: Nachbarschaftshilfe, Einkaufsdienste, Online-Kniffelspiele und digitales Bierchentrinken.
Die fehlende Bildung und Kinderbetreuung allerdings beschreiben manche Eltern mir gegenüber öfter als „nervig“. Oder sie lassen durchscheinen, dass sie mit den Nerven am Ende sind, um sich gleich darauf zu entschuldigen: Das sei ja „Meckern auf hohem Niveau“. Immerhin lebten sie in einer Demokratie, seien (noch) gesund, könnten raus, hätten schönes Wetter … Eine Bekannte im Ausland, die wegen der Krise ihren Job verloren hat, meinte gar, nun müsse sie ja immerhin nicht mehr den Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung hinkriegen. Uff!
Wo kämen wir hin?
Von Corona lernen heißt neue Wege gehen
Sicher kennen viele dieses Zitat von Kurt Marti (1921–2017), einem Schweizer Pfarrer und Schriftsteller:
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.
Angeregt durch eine Andacht, in der wir das Gedicht gemeinsam als Kanon sangen, habe ich eine Weile darüber nachgedacht, was es in konkreten Fällen aussagen könnte. Was wäre, wenn wir uns aufmachen würden, die Klimaziele tatsächlich zu erreichen? Was würde passieren, wenn wir alle vehementer gegen Rassismen, Verschwörungstheorien und Hassparolen Stellung beziehen würden? Was wäre in unserer Gesellschaft los, wenn wir auf Dinge verzichten würden, die nachweislich der Umwelt, dem Gemeinwohl und dem Frieden schaden? Was wäre, wenn?
Und dann, während ich darüber nachdachte, kam Corona. Ich will hier und heute gar nicht über die Gefahren, die gesellschaftlichen Auswirkungen, die berechtigte Sorge, die Hamsterkäufe, die Verschwörungstheorien und all das schreiben. Dazu gibt es genug schlechte und gute Beiträge, die in den Medien zu finden sind.
Was mich bewegt, ist die Beobachtung, dass in der Ausnahmesituation, in der wir uns befinden, gerade auch etwas anderes entsteht. Etwas Neues. Eine zuweilen erstaunliche Parallelität von Stillstand und Dynamik. Offline und online gleichzeitig. Absagen und Ansagen.
Das Mädchen von der Südseite Chicagos
Wenn die Gegenwart unübersichtlich und entmutigend erscheint, hilft mitunter der Blick auf vergangenes Gelingen, um daraus Impulse für Künftiges zu schöpfen. Das Buch von Michelle Obama ist so ein Buch. Es ist klug, und es inspiriert. „Becoming. Meine Geschichte“, so lautet der Titel der deutschen Übersetzung. Die Autorin erzählt, wie sie in einfachen Verhältnissen in Chicago aufwuchs, wie sie an der Seite des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten die erste afroamerikanische First Lady wurde. Zu den wesentlichen Dingen, die sie im Leben gelernt habe, gehöre, wie man die Macht der eigenen, authentischen Stimme benutzt. Sie habe ihr Bestes gegeben, um die Wahrheit auszusprechen und Licht auf die Geschichten von Menschen zu werfen, die oft marginalisiert würden. Das „Werden“ im Titel des Buches lässt sich als Credo der Autorin deuten, dass es nicht nur um die Erinnerung an Vergangenes geht, sondern dass sich in dem Blick zurück stets etwas Zukünftiges andeutet, etwas, das im Werden begriffen ist, auch wenn man es gegenwärtig noch nicht erkennt.
Ist der Gottesdienst tot?
Der katholische Kommunikationsprofi Erik Flügge rät in einer seiner neuesten Veröffentlichungen der evangelischen Kirche, sie solle vor allem drei Dinge tun, um wieder mutiger in die Zukunft gehen zu können: Erstens prominente Personen wie Margot Käßmann an die Spitze ihrer Institution stellen. Zweitens die Bibel fortschreiben – neue Texte müssten her, die alten seien verbraucht! Und schließlich, drittens, den Gottesdienst hinter sich lassen. Oder jedenfalls die Illusion, dieser könne das Zentrum der Gemeinde sein. Flügges Urteil ist vernichtend: „Sie können am Format des Gottesdienstes so viel drehen, wie Sie wollen! Ihre Gottesdienste sind tot. Sie werden nicht mehr lebendig.“
Nun kann man Flügges These, die Kirche brauche Promis an der Spitze, gerne so hinnehmen. Das kann man machen. Es ist aber grundsätzlich Sache der Synoden und Kirchenleitungen, ihr Spitzenpersonal so zu bestimmen, dass es kompetent, glaubwürdig und ausstrahlkräftig ist.
Flügges zweite Aussage, wir müssten die Bibel fortschreiben, ist leicht als eine Variante der urkatholischen Forderung „et scriptura et traditio“ („sowohl die Bibel als auch die Tradition“)zu entziffern. Also das Argument, das sich gegen Luthers Forderung „sola scriptura“ („allein die Schrift“) richtet. Natürlich sagt die Bibel uns nicht, wie wir mit dem Klimawandel umgehen sollten. Sie lehrt uns aber Grundsätze, die wir dann auf die gegebenen Situationen und Kontexte anwenden können. Etwa, dass wir eine Verantwortung für Mitmenschen und Mitgeschöpfe haben.
Problematisch, ja fatal ist meiner Meinung nach aber vor allem Flügges dritte These bezüglich des Gottesdienstes. Und zwar auch deshalb, weil die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in ihrer Studie „Faktoren des Kirchgangs“ scheinbar Flügges Sicht der Dinge stützt. Denn sie empfiehlt den Gemeinden, über den Fortbestand des Sonntagsgottesdienstes offen zu diskutieren. Für viele sei der traditionelle Sonntagsgottesdienst – so das Ergebnis der Studie – nicht (mehr) attraktiv.
So weit, so schlecht, könnte man meinen. Schlägt für den Gottesdienst also die letzte Stunde? Zumindest für den regelmäßigen Sonntagsgottesdienst in jeder Kirchengemeinde?
Aliens im Weltraum Gottes
Plädoyer für eine Theologie mit weitem Horizont
Was ist der Mensch? Das ist nicht nur der Titel eines Anthropologie-Büchleins des Theologen Wolfhart Pannenberg (1928–2014), sondern eine unsere ganze Existenz betreffende Frage. Naturwissenschaftlich gesehen lässt sich grob sagen, dass der Mensch eine funktionstüchtige Einheit vieler Systeme darstellt. Er ist im Besitz eines Stütz- und Bewegungsapparats, im Inneren mit Organen und dem Nervensystem ausgestattet, und seine Sinnesorgane sind Teil eines Steuerungssystems für wichtige Körperfunktionen. Über solches Bildungswissen verfügte der Beter von Psalm 8 noch nicht. Und doch scheinen mir auch seine alten Worte darüber, was der Mensch sei, nach wie vor bedenkenswert. Denn sein betendes Fragen nach dem Menschsein des Menschen hing für ihn (noch) aufs Engste mit der Frage zusammen, wie Gott zu seiner Schöpfung und zum Menschen im Besonderen steht. Ergriffen von den unendlichen Weiten des Weltraums fand er Worte, die einem Gotteslob gleichen:
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast …
Gebrochene Figuren
Über Krisen und Burn-outs in aktuellen Serien
Das Krankenhaus steht im Kino als eine der letzten Institutionen für klare Werte. Dies trägt sicherlich auch zur verbreiteten Beliebtheit der Krankenhausserien im Fernsehen bei („In aller Freundschaft“, „Die jungen Ärzte“, „Der Bergdoktor“ etc.). Neben diesen eher beruhigenden Beispielen sind in der letzten Zeit zahlreiche Filme und Serien entstanden, die beunruhigende Zwischentöne beinhalten und in denen das ethische Handeln der Akteure auf die harte Probe gestellt wird. Dazu zählen auch Kriminalfilme und -serien. Wird beispielsweise jemand Opfer sexueller Gewalt, ermittelt die Polizei, und das Opfer erhält im Krankenhaus ärztliche Versorgung. Wie nun in dieser – für alle Beteiligten emotional belastenden – Situation die Gesprächsführung verläuft, dient dramaturgisch dem Zweck, dem Zuschauer den Charakter, die Feinfühligkeit und Sensibilität des Arztes, der Pflegekraft oder des Kriminalbeamten vor Augen zu führen. Auffallend ist, dass nahezu alle Protagonisten der modernen Serien, die mit belastenden Phänomenen wie Verbrechen, Krankheit, Sterben und Tod zu tun haben, gebrochene Figuren sind. So erfahren wir in einigen Serien wie „Die Toten von Turin“ (I 2015–2018), dass die Akteure entweder bereits einen Burn-out hinter sich haben, oder wir erleben mit, wie sie in den Strudel der Belastungen geraten. Selbst die modernen Kino- und Comic-Helden bleiben davon nicht verschont und haben ihre Krisen, oder sie sind auf Zusammenarbeit und Unterstützung angewiesen.
Steine im Glashaus
Wer fängt an, wenn es ums Klima geht?
Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Nichts stört uns so wie Mitmenschen, die Moralpredigten halten, aber ihre Forderungen selbst nicht befolgen. Ich werde jetzt einen Stein im Glashaus werfen. Und zwar so:
Ich finde, wir sollten uns alle nachhaltiger verhalten und gewissenhafter konsumieren. Das sind wir dem Planeten und kommenden Generationen schuldig. Doch jetzt kommt’s: In den Urlaub flog ich zuletzt mit dem Flugzeug. Als Familie besitzen und nutzen wir ein Auto. Zu Hause haue ich Bratwürste in die Pfanne – manchmal dreimal in der Woche. (Für das Letzte müssen Sie bitte Verständnis aufbringen. Ich habe einfach keinen Nerv mehr für das „Iiih, eklig!“, das ich von den Kindern für meine hausgemachten Gemüsepfannen und Linseneintöpfe ernte. So etwas hält auf Dauer niemand aus.)
Ich tröste mich damit, dass meine Heuchelei immerhin kleiner ist als die von Leuten, die mit dem SUV zum Ökoladen fahren. Wenigstens sind die Bratwürste bio, und ich selbst bleibe beim Linsengericht. Trotzdem fühle ich mich nicht getröstet. Irgendwie bezweifle ich, dass meine sechsjährige Tochter sich mit zwölf oder vierzehn noch daran erinnern wird, wie viel sie früher über das Essen jammern konnte. Was werde ich ihr bloß antworten, wenn sie dann fragt, warum ich nicht mehr für das Klima unternommen habe: „Wo warst du, Mama, als die Jugendlichen auf die Straße gingen, um unsere Zukunft zu retten?“ Ich will nicht, dass meine Antwort „in der Küche beim Bratwurst-Grillen“ lautet.
ICH ODER WIR ODER WAS?
VON RISSEN IN HOSEN UND IN UNSERER GESELLSCHAFT
Es gibt eine Menge Modetrends, die fragwürdig sind. Zum Beispiel zerrissene Jeans. Was lange Zeit als Grund galt, Hosen zu entsorgen oder schlimmer: alberne Aufnäher zu applizieren, ist heute Geld wert. Ja! Es gibt Menschen, die für diese Risse extra Geld ausgeben. Verrückt. Aber wahr. Und nun kann man das bescheuert finden, aber es ist ein Trend, eine Mode, die nicht wenige Menschen gut finden.
Auch in unserer Gesellschaft gibt es Trends. So diagnostiziert beispielsweise Andreas Reckwitz der aktuellen Gesellschaft den Trend der „Singularität“ als prägendes Phänomen der Spätmoderne. Der Kultursoziologe beschreibt in seiner Arbeit einen gesellschaftlichen Trend, der sich bereits seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts abzeichnet und sich stetig manifestiert: der Trend weg vom Wir und hin zum Ich.
UNBEDINGT SEHENSWERT!
WARUM WIR „FILME DES MONATS“ AUSZEICHNEN
Filme verändern unseren Blick auf die Welt und auf uns selbst. In der Bildungsarbeit kommt ihnen eine bedeutende und immer beliebtere Rolle zu. Ergänzend zu der intellektuellen, diskursiven Beschäftigung mit einem Thema vermitteln sie nichtkognitive Zugänge, indem sie unsere sinnliche Wahrnehmung ansprechen. Filme erzählen individuelle Schicksale und Geschichten, seien es fiktionale oder reale, die uns ein Fenster zur Welt öffnen – wie auch zu uns selbst. Sie ermöglichen neue Einsichten in noch nicht bedachte Aspekte eines Themas, machen fremde Perspektiven anschaulich. Das Archiv der „Filme des Monats“ kann als einzigartige Quelle für all diejenigen dienen, die in der Bildungsarbeit oder Gemeindearbeit tätig sind. Wer beispielsweise eine Filmreihe zu einem Thema zusammenstellen möchte oder nach einem inhaltlich passenden Film sucht, wird hier fündig.
EIN „D-DAY“ FÜR DIE AUFKLÄRUNG
GEGEN BARBAREI UND VÖLKISCHE PARANOIA
„… verwunden mein Herz mit eintöniger Mattigkeit“ – als vor 75 Jahren diese Worte aus einem Gedicht des französischen Dichters Paul Verlaine (1844–1896) in der BBC erklangen, begann in der Nacht zum 6. Juni 1944 die Invasion der englischen und amerikanischen Truppen in der Normandie: der D-Day oder „Der längste Tag“. Damit rückte das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und des Zweiten Weltkriegs in greifbare Nähe. Das bedeutete Hoffnung für viele Menschen in Europa und darüber hinaus – darunter zahlreiche aus Deutschland geflüchtete Menschen, nicht zuletzt Menschen jüdischer Herkunft. Unter den in die USA Geflüchteten waren auch die beiden Sozialwissenschaftler und Philosophen Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969), zwei Gründungsväter der sozialphilosophischen „Frankfurter Schule“. Ihre Anstrengung zur Überwindung des Nationalsozialismus war eine groß angelegte philosophische Untersuchung, die in den letzten Maitagen des Jahres 1944 abgeschlossen wurde. Der Name: „Dialektik der Aufklärung“.
Wohnst du noch oder demonstrierst du schon?
Die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, bestimmt im Moment weite Teile des gesellschaftspolitischen Diskurses. Dieser Diskurs – oder besser die entsprechenden Teildiskurse – umfasst Fragen zu explodierenden Mieten in den Ballungsräumen, zur Digitalisierung unserer Lebensbereiche, zur Zukunft von Mobilität und Energie, Inklusion und Zuwanderung. Unter den Vorzeichen globaler Herausforderungen und dem sich immer deutlicher abzeichnenden Klimawandel heißt die Frage heute für viele nicht mehr nur, welchen Lebensstil wir uns leisten wollen, sondern welchen Lebensstil wir uns in Zukunft noch leisten können. Immer mehr Menschen sind bereit, für diese Themen auf die Straße zu gehen.
TEENAGER IM INTERNET
IHRE MEDIEN, UNSERE FRAGEN
Wie wirkt sich die Medialisierung unserer Gesellschaft auf die Mediennutzung von Jugendlichen aus? Welche Veränderungen können wir in den letzten 20 Jahren beobachten, und was bedeuten sie für Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten oder zusammenleben? Wie gut gerüstet sind sie für eine Welt voller Fake News, Propaganda und Hassbotschaften? Wie gut gerüstet sind wir für die Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, mit Reizüberflutung und ständiger Erreichbarkeit umzugehen? Basiswissen für diese Diskussion liefert uns unter anderem die Studie „Jugend, Information, Medien“ (JIM), die seit 20 Jahren das Mediennutzungsverhalten von Zwölf- bis Neunzehnjährigen in Deutschland untersucht.
ETHISCHE FRAGEN ZUR GERECHTEN GESUNDHEITSVERSORGUNG
In den aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten spielt die Frage nach der gerechten Verteilung der Mittel eine entscheidende Rolle. Ob Rente oder Bürgergeld, stets wird die Frage der gerechten Verteilung aufgeworfen. Die Gesundheitspolitik bildet hierbei keine Ausnahme. Welche Leistungen von den Krankenkassen bezahlt werden sollen, welche Zuzahlungen geleistet werden müssen, wer schneller einen Arzttermin bekommt – sofort stellt sich die Frage, ob die Regelung gerecht sei. Wer die Hoffnung hegt, dass Philosophie und Ethik schnell und eindeutig entscheiden könnten, sieht sich enttäuscht. Das liegt nicht darin begründet, dass die Geisteswissenschaften keine Vorstellung von „Gerechtigkeit“ hätten, sondern dass es viele konkurrierende Vorstellungen gibt, die untereinander nicht kompatibel sind. Ein einfaches Beispiel macht dies deutlich.
„DAS WILL ICH SO NICHT!“
GEDANKEN ZUR STREITKULTUR
Während ich mich zurzeit auf das Jahresthema „Streit! – Demokratie“ unserer frisch besetzten Jungen Akademie vorbereite, komme ich an den Begriffen trotzdem, Trotz, Trotzigkeit nicht vorbei. Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn es um den Streit zwischen vorzugsweise jungen Menschen geht? Ich sehe wildes Gestikulieren, abwehrend verschränkte Arme, einen aufstampfenden Fuß. Trotzverhalten eben. Was in der realen Situation – zum Beispiel von Eltern – vielleicht als eher nervige und anstrengende Situation empfunden wird, kann mit anderen Augen ins Positive gewendet werden. Denn nur wer eine feste Meinung entwickelt hat, kann sie auch vertreten. Im Streit. Zur Not sogar körperlich durch einen markanten Tritt auf den Boden.
TROTZDEM!
VON DER GEISTLICHEN KRAFT ZUM WIDERSTAND IN EINER VERRÜCKTEN WELT
Es sind drei Fragen, die mich zurzeit beschäftigen. Drei Fragen, die in besonderer Weise zusammenhängen: 1. Was hilft uns als Gesellschaft, mit „Krisen“ umzugehen, den vermeintlichen wie den wirklichen? 2. Was gibt mir (und anderen Menschen) die innere Kraft zu widerstehen? 3. Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert protestantisch an Gott zu glauben? […] Gerade angesichts der „Krisen“ unserer Zeit und angesichts der offensichtlichen Notwendigkeit, dass ich lebe, denke, handle, ist es notwendig, dass wir Gott und Glauben als letzten Grund des eigenen Widerstands neu ins Spiel bringen. Darum soll es beim Schwerpunktthema der Akademie in diesem Halbjahr gehen: „Trotzdem!“
HALBZEIT
DIE KONGRESSWAHLEN UND DAS „ECHTE AMERIKA“
Die amerikanischen Kongresswahlen vom 6. November 2018 wurden mit Spannung erwartet. Sie gelten als Stimmungsbarometer für die Zustimmung der US-Bevölkerung zur Politik des Präsidenten, da dessen Handlungsfähigkeit maßgeblich von der Sitzverteilung im Senat und im Repräsentantenhaus abhängt. […] Paul Krugman, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Wirtschaftswissenschaftler und Kolumnist der New York Times, hat eine Erklärung dafür, wie das enttäuschende Abschneiden der Demokraten im Senat zu beurteilen ist, wo diesmal nur wenige Sitze neu zu besetzen waren. In einer viel beachteten Kolumne, die am 9. November 2018 in der Zeitung erschien, kommt er zu folgendem Schluss: Die Tatsache, dass die Demokraten im Kongress die Mehrheit errungen hätten, sei ein deutliches Zeichen dafür, dass Donald Trumps Politik von der Mehrheit der Amerikaner nicht gutgeheißen, ja sogar verabscheut werde.
RELIGION ALS OPIUM?
MIT MARX, GEGEN MARX, ÜBER MARX HINAUS
Es gibt ein weit verbreitetes Vorurteil darüber, was Karl Marx (1818–1883) über Religion dachte: Er habe sie als „Opium für das Volk“ verurteilt und energisch bekämpft. Die Regierung der DDR bekämpfte unter Berufung auf ihn die Christinnen, Christen und ihre Kirchen, und schaffte es, ein einstmals christlich – hauptsächlich protestantisch – geprägtes Land in eine religiöse Ruinenlandschaft zu verwandeln, einer der zahlreichen Pyrrhus-Siege des sozialistischen Regimes. Der Befund zu Marx ist allerdings viel differenzierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sein Verhältnis zur Religion war kompliziert und vielschichtig, mindestens ambivalent. Es war einerseits wohlwollender und andererseits kritischer, als dies im öffentlichen Bewusstsein präsent ist.
DAS FLÜSTERN DES STERNENHIMMELS
Bilder vom nächtlichen Sternenhimmel gehören kulturgeschichtlich zu den stärksten, die die Menschheit besitzt: Es sind Bilder, die zutiefst mythisch und religiös aufgeladen sind – und zwar vermutlich in allen Kulturen und epochenübergreifend. Bilder, die eine Ahnung des Unendlichen und Unfassbaren in sich tragen, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Dimension. Bilder, die Fragen nach unserer Existenz, dem Ursprung des Lebens und dem Wohin unseres Daseins aufwerfen und Gedanken über das große Ganze evozieren. Bilder aber auch, die Freiräume für unser Denken ermöglichen.
SCHON VON DER „GENERATION PAY GAP“ GEHÖRT?
Dass es eine „Gender Pay Gap“ gibt – also eine Lohnlücke zwischen Frauen und Männern –, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass eine ähnliche Lücke auch zwischen den Einkommen der älteren und jüngeren Generationen in unserer Gesellschaft klafft. Über diese „Generation Pay Gap“ redet bisher kaum jemand. Warum ist das so? Warum ist es nicht in aller Munde, dass das Lebenseinkommen nicht allein von den eigenen Anstrengungen abhängt, sondern auch davon, wann man geboren wurde? Vielleicht deshalb, weil es uns bislang gar nicht bewusst war? Oder deswegen, weil es vor allem die Jüngeren trifft, die politisch schlechter repräsentiert sind?
FACTFULNESS
WARUM ES SICH LOHNT, FÜR EINE BESSERE WELT ZU STREITEN
Was denken Sie? Ist die Welt in den letzten 20, 50 oder 100 Jahren im Ganzen gesehen besser oder schlechter geworden? Oder blieb alles gleich – „same procedure as every year“? Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten und die Verkünder des Postfaktischen feiern zurzeit auch deshalb in vielen Ländern große Erfolge, weil sie die Weltwirklichkeit in einem äußerst düsteren Licht zeichnen. Und weil sie ihre Energie aus der tiefen, dumpfen Angst vieler Menschen beziehen, nicht nur der „Untergang des Abendlandes“ (Oswald Spengler), sondern die Apokalypse, das Ende der Welt, stehe gleichsam unmittelbar bevor. Fast jede Nachrichtensendung, die wir sehen, bestätigt unser Gefühl, es gebe immer und überall (auch in unserem Land) nur mehr Unglücke, Katastrophen und Verbrechen. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus.
KEINE DEMOKRATIE OHNE WACHSAMKEIT
Wer hätte je gedacht, dass die liberale Demokratie noch einmal so auf dem Prüfstand stehen würde wie heute. Dass wir im 21. Jahrhundert noch einmal derart um sie kämpfen und uns für sie engagieren müssen, damit sie gegen sämtliche aktuellen Anfechtungen attraktiv und zukunftsfähig bleibt. Die rechtsautoritären Bewegungen in Deutschland, Italien, Frankreich und weiteren europäischen Ländern zeigen, dass Demokratie in Europa keineswegs selbstverständlich ist. Sie kann gefährdet sein, wie man an den Entwicklungen in Polen und Ungarn sieht. Im schlimmsten Fall kann sie sogar wieder verschwinden, wie es in den 1920er-Jahren vor allem in Italien und 1933 in Deutschland geschah.
Zum Kern der Sache vordringen
Es ist derzeit wohl die brisanteste ethische Frage. Es geht nicht um selbstfahrende Autos oder Plastik in den Weltmeeren. Es ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen und hätte Auswirkungen auf ewig. Einmal umgesetzt kann es nicht wieder zurückgeholt werden. Ob es das angestrebte Ziel erreicht oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen hervorruft, kann mit letzter Sicherheit nicht ausgeschlossen werden. Den Ärzten und Wissenschaftlern steht eine Technik zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen könnte, schwerste genetische Erkrankungen, für die es bisher keinerlei Heilung gab, kausal so zu behandeln, dass nicht nur der Patient von dieser Erkrankung geheilt wird, sondern er oder sie diese Erkrankungsanlage nicht mehr an seine oder ihre späteren Nachkommen weitergeben werden.
Wertvolle Jugend
Kürzlich habe ich nach einer Definition des Begriffs „Jugend“ gesucht. Genauer gesagt: Ich habe verzweifelt nach einer Definition von „Jugend“ gesucht, in der 37-Jährige noch mitzählen, aber die gibt es leider nicht. Also beim besten Willen: Ich gehöre zu der Altersklasse leider nicht mehr dazu. Allein von Berufswegen bin ich jedoch vielleicht dennoch in der Lage, etwas zur Jugend zu schreiben.
Über „Rubens: Kraft der Verwandlung“
Eine Ausstellung im Städel Museum Frankfurt
Er war ein barocker Superstar in den katholischen Niederlanden. Ein Künstlergenie und ein Malerfürst, wie man ihn sich vorstellt, mit einer großen Werkstatt und entsprechender Anzahl von Assistenten. Er war nicht nur künstlerisch erfolgreich, sondern auch auf dem diplomatischen Parkett. Mehrfach wurde er mit politischen Missionen betreut. So handelte er beispielsweise 1629/30 den Friedensvertrag zwischen England und Spanien aus. Mehrfach und in unterschiedlichen Ländern wurde er zum Ritter geschlagen und geadelt. Weltgewandt und überaus sympathisch, ein ebenso herzlicher wie überschwänglicher Mensch, wie seine Briefe und Zeitgenossen bezeugen. Er war DER Hofmaler der spanischen Habsburger, er hat bedeutende Arbeiten für die Jesuiten geschaffen, und seine Malerei transportiert eben auch stark Ideen der Gegenreformation.
Ein neuer Aufbruch für Europa?
Einige Menschen hat es überrascht, wie viel Platz einer „Erneuerung der EU“ im Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD eingeräumt wurde. Steht – mit Merkel, Macron und Juncker – die alte Machtstruktur aus der Zeit Kohls, Mitterrands und Delors an der Spitze Europas wieder auf? Ist dies der Startschuss für die Konsolidierung der Eurozone, wenn gleich die Form dafür noch ausgehandelt werden muss? Das sehen andere eher skeptisch. Noch sind es nur schöne Wörter. Solche können CDU und CSU sich leisten, solange es genug andere Mitgliedsstaaten gibt, die die großen Pläne noch ausbremsen können. Inwieweit ein neuer Aufschwung für die europäische Integration zu erwarten ist oder nicht, wird sich frühestens in den nächsten Monaten herausstellen.
Christus oder: die Revolution Gottes
Weltverwandlung durch Gottesverwandlung
Wenn man einen Begriff aus einem Sachgebiet in ein anderes überträgt (Abduktion), erschließen sich oftmals kreative, neue Einsichten – sowohl im Blick auf das Sachgebiet, als auch im Blick auf den Begriff. Im Gedenkjahr 2018 wird an Revolutionen aus verschiedenen Jahrhunderte erinnert: 1618, 1848, 1918, 1968. Der Begriff dient aktuell oft dazu, um einen radikalen und rapiden sozialen Wandel zu beschreiben, der mit intensiven, z. T. gewaltsamen Konflikten einhergeht (so eine Revolutionsdefinition von R. Dahrendorf). Klassisches Beispiel ist dafür etwa die Rede von der digitalen Revolution. Theologisch interessant wird es nun, wenn man den historischen, gesellschaftspolitischen Begriff der Revolution auf die Vorstellung von Gott überträgt.
Lernbereitschaft auf allen Seiten
Eine Frage, die wir uns Ende September sicher reflexartig alle gestellt haben: Wie kann es sein, dass eine Partei, die Fakten verdreht und Thesen vertritt, die – wie wir dachten – so weit weg von dem geltenden politischen „Anstand“ sind – in den Bundestag einzieht? Haben wir – die „Guten“ – nicht allen gesagt, wie falsch diese Politik ist? Wie groß die Gefahr des Populismus ist? Haben die AFD-Wähler kein Geschichtsunterricht gehabt? Unfassbar, dass es so viele Menschen gibt, die die einfachen Antworten für die Wahrheit nehmen und deshalb AFD wählen! Und das, wo wir uns so viel Mühe gegeben haben, den Diskurs auf reflektierte Weise zu führen und auf die Fragen der „Wutbürger“ einzugehen.
Wir müssen reden
Die Bundestagswahl ist schon seit Wochen vorbei, aber die Auseinandersetzungen haben gerade erst begonnen. Der Eklat auf der Buchmesse, als Kritik und Proteste gegen Veranstaltungen rechter Verlage mit Gewalt beantwortet wurden, und der Streit um die Deutung der Vorfälle zeigen die Verunsicherung und Uneinigkeit deutlich. Wie können wir mit diesem Aufstieg rechten und rechtsextremen Gedankenguts umgehen?
Ein Impuls von Mirjam Jekel
im November 2017
Neustart Demokratie / Neustart Evangelische Akademie
Eine transatlantische Perspektive
„Wenn Du es leid bist, mit Fremden im Internet zu streiten, dann versuch doch mal, mit einem davon im wirklichen Leben zu sprechen.“ (Barack Obama, Abschiedsrede am 11. Januar 2017)
Selten zuvor traten die Folgen gesellschaflicher Polarisierung so drastisch zutage wie mit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten im November vor einem Jahr.
Was von „Luther“ bleiben sollte
Endspurt in der „Reformationsdekade“: Nur wenige Wochen sind es noch bis zum 31. Oktober 2017, dem einmaligen Feiertag, an dem Staat, Gesellschaft und Kirchen in der Bundesrepublik sich an das Ereignis „Reformation“ erinnern, das sich symbolisch an jenem 31. Oktober 1517 festmachen lässt: dem Tag, an welchem Martin Luther (1483-1546) seine 95 Thesen gegen den Missbrauch des Ablasses veröffentlichte. Dass er sie eigenhändig an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt hätte, mit wuchtigen Hammerschlägen gar, das wird heute bezweifelt. Dass er sie jedoch versandte und sie eine breite Öffentlichkeit erreichten, das ist ebenso unstrittig wie die bekannten historischen Folgen. Zu diesen gehört wesentlich die Entstehung evangelischer Kirchen.
Mehr Kunst im öffentlichen Raum
Ein Plädoyer
Mitte Juni nahm ich an einer Veranstaltung anlässlich des Anne-Frank-Tages in Frankfurt am Main teil, bei der es um die Frage von Kunst im öffentlichen Raum ging, einer Frage, der wir auch in der Akademie immer wieder nachspüren. Der öffentliche Raum wird zunehmend vereinnahmt, Freiräume werden beschnitten. Argumentiert wird dabei zum einen mit Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit gegenüber einer wachsenden Terrorgefahr und damit einhergehend dem Wunsch nach einer stärkeren Überwachung des öffentlichen Raumes. Es sind aber auch handfeste ökonomische Gründe, die den öffentlichen Raum der Stadt einschränken, ihn zunehmend kommerzialisieren und privatisieren lassen, ein Phänomen, das vor allem in den Citys, den absoluten Innenstadtlagen der Großstädte und Ballungsräume zu beobachten ist.
Zellen der Freiheit
„Freiheit“ ist ebenso hohes und wertvolles wie vielschichtiges und schwieriges Gut. Jeder will frei sein, niemand unfrei. Zentrale Freiheitsrechte wie Handlungs-, Gewissens-, Religions-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit u.a. sind als Schutz des Einzelnen auch gegenüber dem Staat bewusst an den Anfang des Grundgesetzes gestellt – als Basis einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung. Auch theologisch steht Freiheit zugleich am Anfang und im Zentrum des Glaubens. Der Exodus, die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, stellt die Urerfahrung des jüdischen Glaubens am Anfang der Geschichte des Volkes Israels dar. Das Kreuz Christi ist das christliche Symbol der Freiheit von Sünde, Tod und Teufel. Anknüpfend vor allem an Paulus hat Luther seine Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) formuliert – mit der paradoxen Doppelpointe: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemanden untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Das erste gilt, da er in Christus im Glauben lebt und „über sich“ in Gott fährt; das zweite, da er in der Liebe im Nächsten lebt und aus Gott „unter sich“ fährt.
Die Entzauberung der Welt
In den aktuellen medizinethischen Debatten ist ein „Unbehagen an der Kultur“ spürbar. Neben sorgenvolle Bedenken treten hier jedoch auch hoffungsvolle Ausblicke und die Wiederbesinnung auf frühere Entdeckungen. So hatte sich kürzlich eine Konferenz in den USA mit dem Verhältnis von „Medizin und Religion“ beschäftigt und dabei in ihrer thematischen Ausrichtung auf den deutschen Soziologen und Ökonom Max Weber zurückgegriffen, der bereits vor knapp 100 Jahren die „Entzauberung der Welt“ prognostiziert hatte. Was Weber damals zuerst 1917 in seinem Vortrag und zwei Jahre später in seiner Veröffentlichung „Wissenschaft als Beruf“ ansprach, hat sich über das letzte Jahrhundert in der westlichen Welt nachdrücklich entfaltet:
Das Postfaktische nicht fürchten
Beiträge zum Projekt einer doppelten Aufklärung
Die Vernunft ist derzeit weltweit in der Defensive. „Postfaktisch“ wurde in Deutschland zum „Wort des Jahres“ 2016 gewählt, so wie kurz zuvor „post-truth“ für den englischen Sprachbereich. Das Wort bezeichnet unter anderem die Verbreitung von gezielten Falschinformationen und Verschwörungstheorien im Internet und in sozialen Medien, die Millionen Menschen das Gehirn vernebeln. Hinzu kommen „alternative Fakten“, ein anderes Wort für wahrheitswidrige Propaganda. Wahrheit und Unwahrheit, Fakten und Fiktionen sind für viele Menschen heute kaum noch unterscheidbar. Daran hat das Internet, haben social media ihren Anteil an Schuld. Politisch bildet sich diese Situation etwa im Sieg des USamerikanischen Milliardärs Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen in den USA mit all seinen problematischen Folgewirkungen ab.
GROSSE WORTE, GROSSE WIRKUNG?
Wir erleben eine Zeit, in der das gesellschaftliche Zusammenleben auf vielen Ebenen vor Herausforderungen steht. Es ist nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass es so ist – und es wird nicht das letzte Mal sein. Nichtsdestoweniger und als Kinder unserer Zeit erfordert es die aktuelle Lage, aktiv zu werden. Ein schlichtes „Weiter so!“ geht nicht.
Metaphysik
Metaphysik lautete der Titel der letzten Ausgabe der Quartalszeitschrift „Kunst und Kirche“ im Dezember 2016. „Metaphysik“, schrieb Hannes Langbein im Editorial zu dieser Ausgabe, „bedeutet Grenzüberschreitung: über die Physis, über die sinnliche Wahrnehmung der materiellen Welt hinaus … – Dennoch oder gerade deshalb haben sich Menschen – zumal Philosophen und Theologen – immer wieder darangemacht, diese Grenzen zu überschreiten, auf der Suche nach einem großen Ganzen, nach ersten Gründen, zeitlosen Prinzipien, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält“.
„Gnade“
Woraus leben wir
„Gnade“ ist ein eigenartiger, etwas verstaubter Begriff, aus den Kellerräumen des kollektiven Sprachgebrauchs. Er kommt meist nur noch in pathetischen Film-Szenen („Gnade!“) oder altertümlichen Wendungen vor: Gnaden-Brot, Gnaden-Gesuch, Gnaden-Frist, … Sein Gegenteil ist da schon eher vertraut, etwa bei Akten gnadenloser Gewalt. Zugleich reden wir aber auch von Gnade, wenn es um Erfahrungen außerordentlichen Glücks geht: etwa die besondere Begabung eines begnadeten Künstlers oder das überwältigende Geschenk, wenn einem ein Kind geboren wird.
„Lutherjahr“ 2017
Ein wenig Melanchthon tut uns allen gut!
Wer in einer evangelischen Akademie arbeitet, steht immer auch in der Tradition des großen Humanisten und Reformators Philipp Melanchthon (1497-1560). Dieser war ohne Zweifel der beste Freund Martin Luthers (1483-1546). Und ihre Freundschaft war eine zwischen ebenbürtigen Personen, die in der Geistesgeschichte einen vorderen Rang einnimmt. In dieser Freundschaft war Luther der Ältere, der Führende, der Prophet und Charismatiker. Melanchthon war der Jüngere, der Geführte, der überragende Wissenschaftler und pedantische Arbeiter. Beide lernten sich kennen, als der junge Gelehrte 1518 an die Wittenberger Universität berufen wurde. Er galt zu diesem Zeitpunkt als Wunderkind, war humanistisch hoch gebildet und unglaublich sprachbegabt. Luther beherrschte zwar das Lateinische recht gut, aber Melanchthon war in allen Sprachen brillant und lehrte Luther auch das Griechische. Im Hebräischen überragte er Luther weit, so dass dieser immer wieder aus dem philologischen Füllhorn des Jüngeren schöpfte. Luther hatte sich 1517 mit seiner Kritik am Ablass weit vorgewagt.
Enhance yourself!
Von der Selbstliebe zum Selbstbild zur Ethik des Friedens
Der Dalai Lama: ein Mann, der ein Geflüchteter ist. Ein Mann, der seine Heimat verließ, vertrieben, bedroht, verfolgt. Er betet für seine Feinde und politischen Gegner. Er lebt Nächstenliebe auf sehr eindrückliche Weise. Und was mich besonders berührt: Er bringt dies mit einer Leichtigkeit zum Ausdruck, er lacht viel, er erscheint so unglaublich unverbittert, dass es kaum zu fassen ist. Wie macht er das? Könnte man lernen, ein bisschen zu sein wie er? Umfragen zeigen, dass er für über 20 Prozent der Deutschen ein geistiges Vorbild ist. Vorbilder: Was machen wir mit ihnen? Wir suchen sie uns manchmal gar nicht aus. Sie sind einfach da. Sie faszinieren uns und mir geht es manchmal so, dass ich zunächst gar nicht genau weiß, warum diese Personen so beeindruckt.
Gärtner – Mörder – Gott
Gott und der Ursprung des Bösen im Krimi
„Ich wälze die Verantwortung ab. Aus dem gleichen Grund greifen die Menschen, die abends beruhigt einschlafen wollen, zu einem Krimi, weil er eine der großen metaphysischen Fragen befriedigt: Whodunit? – „Wer war’s?“ Das betrifft die Bibel ebenso wie den Krimi. In der Bibel ist das Problem hochkomplex, im Krimi ist die Lösung einfach.“
Die eingangs zitierten Worte von Umberto Eco stammen aus einem Interview mit der ZEIT im Herbst letzten Jahres (2015/39). Sie beschreiben die enge Beziehung zwischen Bibel und Krimi im Blick auf die Wirklichkeit des Bösen – und dem Versuch seiner Bewältigung durch Klärung der Schuldfrage.
Die Popularität des Kriminalromans ist augenfällig: Schätzung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zufolge ist jedes vierte Buch, das über den Ladentisch geht, ein Krimi und jeder dritte Euro im Bereich von Belletristik wird mit Mord und Totschlag verdient. Doch wie sieht die Lösung der Krimis eigentlich aus und ist sie tatsächlich so einfach? Wie verhält sie sich zu biblischen Deutungsmustern? Und auf wen zielt die Frage „Wer war’s?“ eigentlich genau: Auf den menschlichen Verbrecher, der so etwas tut, auf den allmächtigen und allgütigen Gott, der so etwas zulässt, oder auf die Strukturen, die Erziehung oder die Gesellschaft, die zu so etwas führen?