200 Jahre Mary Shelleys Frankenstein oder Der moderne Prometheus“


Lesung von Mechthild Großmann, Kommentare & Musik
Für den Bereich „Medizin & Ethik“ war diese Veranstaltung in der Evangelischen Akademie zweifellos der Höhepunkt des Jahres!
„Frankenstein“ gilt als die Symbolfigur für die Hybris menschlichen Forscherdrangs und hat bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren. Es genügt, in einer Debatte um medizinisch-biologische Forschung den Namen „Frankenstein“ zu erwähnen, um die Bedrohung durch Grenzüberschreitung des Forschers aufblitzen und ein (diffuses) Schreckensszenario entstehen zu lassen.
Dass der Roman vor 200 Jahren (zuerst anonym) erschienen ist, haben wir zum Anlass genommen, eine besondere Veranstaltung im Jubiläumsjahr durchzuführen. Dabei spielte es eine Rolle, dass nahezu jeder den Namen „Frankenstein“ kennt, jedoch so gut wie niemand den Roman gelesen hat. Der Roman setzt jedoch – im Vergleich zum Film – andere Schwerpunkte. Deshalb war es Ziel der Veranstaltung, dass der Roman durch ausgewählte Textstellen „entdeckt“ wird, um die aktuelle Bedeutung zu reflektieren.
Die Planung für die Veranstaltung begannen bereits ein Jahr zuvor. Zum einen ist es gelungen, die bekannte Schauspielerin Mechthild Großmann für die Lesung zu gewinnen. Frau Großmann war 40 Jahre Mitglied des Tanztheaters Pina Bausch und spielt u.a. seit 2002 die Rolle der Staatsanwältin Wilhelmine Klemm im Münsteraner „ARD-Tatort“. Mit ihrer beeindruckend tiefen Stimmen erwies sie sich als ideale Besetzung für die Lesung.
Gemeinsam mit Prof. Dr. phil. Kurt Bayertz, Professor für Philosophie an der Universität Münster, wurden - in intensivem Textstudium - die zu lesenden Passagen ausgewählt. (Von Frau Großmann, die als Schauspielerin auch viel Erfahrung mit Bücher-Lesungen hat, wurden wir ausdrücklich für die gelungene Textauswahl gelobt!)
Die Lesung gliederte sich in drei Teile, begleitet von Anmerkungen aus Medizin, Psychologie, Philosophie und Ethik.
- 1. Viktor Frankensteins Weg zur Erschaffung der Kreatur
- 2. Das Leiden der Kreatur und die Auseinandersetzung mit seinem Schöpfer
- 3. Sterben und Tod von Viktor Frankenstein
Das Modern Cello-Piano Duo aus Hamburg begleitete die Veranstaltung musikalisch.
Aspekte der Lesung
Unsere Vorstellung von dem aus Leichenteilen zusammengesetzten Wesen, das zum Leben erweckt wird, ist vor allem geprägt durch die klassische Verfilmung von James Whale aus dem Jahr 1931, in der Boris Karloff als „Monster“ die Rolle seines Lebens spielt und zur bekanntesten Kultfigur des Kinos im 20. Jahrhundert wird, zur wahren Ikone. Dieses Geschöpf hat jedoch nur wenig mit dem Wesen gemeinsam, das Mary Shelley in ihrem Roman beschreibt: Zwar sind beide von großer Statur und besitzen übermenschliche Kräfte, doch während in der Verfilmung von 1931 das Monster nicht sprechen, sondern nur knurren kann und ungelenk in einem viel zu kurzen Anzug und mit schweren Schuhen durch die Welt stapft, ist das Geschöpf in Shelleys Roman weitaus filigraner, extrem flink und gelenkig, geistig hoch entwickelt, äußerst reflektiert und wortgewandt. Seine bewegenden Monologe füllen ganze Buchkapitel. Als Autodidakt hat es sich innerhalb von zwei Jahren enormes Wissen angeeignet, es erzieht sich selbst, lernt lesen, liest Goethes Die Leiden des jungen Werther, John Miltons Das verlorene Paradies und Plutarch - und begreift, dass es, wie Adam, "ohne jede Verbindung zu einer anderen Lebensform" erschaffen wurde, aber anders als Adam „auch ohne jeden Schutz und ohne jede Möglichkeit der Erfüllung. Also beschließt es, auch das Glück seines Schöpfers, dessen Familie, zu zerstören“ (Kaube 2007). Was folgt ist eine gnadenlose Rachegeschichte.
Im Film wissen wir von Anfang an, dass von dem Monster eine Bedrohung ausgeht, da Igor, der bucklige Gehilfe Frankensteins (der im Roman nicht vorkommt), das „unnormale“ Gehirn eines Kriminellen aus dem Anatomischen Institut gestohlen und Frankenstein dieses Gehirn verwendet hat. Diese Idee stammt nicht aus dem Roman und exisitiert auch nicht in den Bühnenfassungen. Sie wurde von einem der beiden Drehbuchautoren in das Filmscript eingefügt. Deutlich wird eine bestimmte (zeitbedingte) psychopathologische Sicht, die Verbrechen und moralisches Fehlverhalten auf „unnormale“ und „abweichende“ geistige Eigenschaften zurückführt.
Das Monster trägt im Frankenstein-Film von 1931 somit von Beginn das Böse in sich und weicht damit fundamental von der Beschreibung im Roman ab, da bei Mary Shelley das Geschöpf unschuldig ist wie ein Kind. Es ist offen gegenüber der Welt, deren Werte und Regeln es (noch) nicht versteht. Tragischerweise muss es vom ersten Augenblick an Zurückweisung und Trennung erleben. Sein Schöpfer, der seine väterliche Bezugsperson hätte werden können, fühlt sich von seiner Häßlichkeit derart abgestoßen, dass er es schutzlos alleine zurück lässt. Diese Reaktion gründet nur im äußerlichen Erscheinungsbild der Kreatur und wird auch später im Kontakt mit anderen Menschen nicht dadurch verändert, dass das Wesen Sprechen und Lesen kann, über literarische Bildung verfügt und gute Taten vollbringt.
Gut von Natur aus?
Prof. Kurt Bayertz wies in seinem Kommentar darauf hin, dass der Roman der Frage nachgeht, wodurch das Böse - in Form von Gewalt und Hass - in die Welt kommt. Es ist dies die Frage der Aufklärung: Ist das menschliche Wesen von Natur aus gut und wird erst durch die Umwelt und die sozialen Einflüsse verdorben? Diese gesellschaftspolitisch umstrittene Frage bewegte auch Mary Shelleys Vater William Godwin, dem sie den Roman gewidmet hat, und sie ist ebenso bei ihrem Ehemann Percy Shelley zu finden: Wie kann aus einem Menschen, der gestern noch unterdrückt und unwürdig behandelt wurde, am nächsten Tag ein feinsinniger, toleranter und unabhängig denkender Mensch werden? Mary Shelley diskutiert diese Frage anhand der Lebensgeschichte des unglücklichen Geschöpfs: Wie kann jemand, der nie Liebe und Zuneigung erfahren hat, der nur abgewiesen wurde und nie am eigenen Leib erfahren durfte, was es heißt eine menschenwürdige Existenz zu führen, auf einmal menschlich handeln? Wie kann ohne Bezugsperson notwendiges Urvertrauen entstehen?
Lässt sich Mary Shelleys Erziehungsroman als bittere Antwort auf den Klassiker dieser Gattung lesen: auf Jean-Jaques Rousseaus Émile aus dem Jahre 1762? In diesem einflussreichen sozialtheoretischen Experiment wird der Waisenjunge Èmile nahezu komplett von den Einflüssen der Gesellschaft ferngehalten und durch einen männlichen Lehrer angeleitet und erzogen. Gezeigt werden sollten die positiven Effekte der privaten Erziehung gegenüber den negativen Einflüssen, die das Kind durch die Gesellschaft und öffentliche Bildungseinrichtungen im 18. Jahrhundert erfährt. Und wie Rousseaus Erzähler an seinem Zögling, so führt Shelley an der Kreatur Frankensteins ein Gedankenexperiment durch: eine Erziehung außerhalb der natürlichen Gemeinschaft.
Frau Dr. Susanne Markwort, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie in Schlüchtern, erläuterte, dass Mitte des 20. Jahrhunderts die Entwicklungspsychologie diese Frage wieder aufnehmen und der Kinderpsychiater John Bowlby die fundamentale Bedeutung der Bindung und dramatischen Auswirkungen der Trennungserfahrung für die frühkindliche Entwicklung u.a. durch die Beobachtung der Auswirkungen der Trennung von Kleinkindern von ihren Müttern bei stationären Aufenthalten im Krankenhaus ins Bewußtsein rücken wird.
Im Roman und im Film erlebt das Geschöpf kaum Zuneigung. Hass und Gewalt erscheint letztlich als verständliche Reaktion auf erfahrenes Unrecht und Misshandlung. Dem Geschöpf wurde alles verwehrt, was es als schutzloses „Neugeborenes“ benötigte: Nahrung, Schutz, Sicherheit, Pflege, Gemeinschaft und Liebe.
Auch wenn derzeit die Geburt eines Menschen ohne weiblichen Körper bzw. Gebärmutter, d.h. nur durch (männliche) Technik, (noch) nicht möglich ist, so liegt die Aktualität der Fragestellungen auf der Hand: zahlreiche technische Eingriffe angefangen von künstlicher Befruchtung, Ei- und Samenspende, über Leihmutterschaft bis hin zu Eingriffen in die Keimbahn, die durch das neue CRISPR/Cas9-Verfahren am Horizont der Möglichkeiten erscheinen, wird deutlich, dass es zu einer Entfremdung in der Eltern-Kind-Beziehung kommen kann (nicht muss) mit möglicherweise fatalen Folgen. Mary Shelleys Frankenstein weist auf den Einschnitt in der Eltern-Kind-Beziehung hin, wenn das Kind mit seinem Aussehen, seinen Fähigkeiten, seine Gesundheits- und Krankheitsanlagen nicht mehr in guter Hoffnung als „Schicksal“ passiv empfangen, sondern als „Produkt geplant und bestellt“ wird. Was ist, wenn das Wunschkind die Erwartungen des „Elternteils“ nicht erfüllt? Darf man ein Lebewesen „zurückgeben“? Darf die Annahme eines von einer Leihmutter ausgetragenen Kindes verweigert werden? Darf ein durch CRISPR/Cas9 genetisch modifiziertes Kind sich selbst überlassen werden? Kann der Eingriff in die Keimbahn zu einer neuen Spezies Mensch führen, die im Laufe der Zeit von den „Unmodifizierten“ diskriminiert und ausgegrenzt wird? Das Bedrückende an Shelleys Geschichte ist, dass das Geschöpf nur in einer Kategorie „versagt“: der äußerlichen Gestalt. Andere Attribute wie Kraft, Sportlichkeit, Ausdauer, Klugheit, Wortgewandtheit, die es im Vergleich zu Anderen von diesen deutlich hervorhebt, können auch zusammengenommen das Geschöpf nicht vor Verfolgung und Mißhandlung schützen.
Gescheiterte Inklusion
Bezeichnend dafür, dass die Kreatur nie von anderen Menschen angenommen wurde, ist, dass es keinen Namen trägt. Nirgends im Roman (auch nicht in den Verfilmungen) wird das Wesen mit Namen angeredet. Es ist die Kreatur, das Monstrum, das Geschöpf, der Unhold, der Namenlose .... So lässt sich diese Erzählung von Mary Shelley auch als tragisches Beispiel einer gescheiterten Inklusion lesen, wobei es nicht an eigenem Bemühen, Bildung oder Spracherwerb mangelt. Es ist ein leidvoller und zugleich warnender Bericht über die Folgen erfahrener Intoleranz und Rassismus, die letztlich in Gewalt und hasserfüllte Rache umschlägt.
Fazit der Veranstaltung: Zeitlose Fragen
Das Frankenstein-Motiv ist zeitlos und kann auf unzählige Arten interpretiert werden. Das ist das Geheimnis des Romanerfolgs. Es geht sowohl um die Grenzen menschlicher Erkenntnis und den beständigen Wunsch, Gott nachzueifern. Es geht um das faustische Bestreben, für kurze Zeit der göttlichen Schöpfungskraft nahe zu sein und um die Tragik, der eigenen Verantwortung nicht gerecht werden zu können. Es geht um die „zwei Wesen in der Brust“, um die guten und schlechten Seiten der menschlichen Psyche; es geht um die Ausgrenzung von allem Fremdartigen, das Angst hervorruft. Die Erzählung ist eine Mischung aus Faszination und Schrecken, aus Traum und Albtraum, Schuld und Verantwortung.
Frankenstein ist zugleich ein Familien- und Bildungsroman, der schief läuft. Ein heimat- und staatenloses Waisenkind, verstossen von der eigenen „Familie“, misshandelt von der Gesellschaft, ausgestossen aus der Gemeinschaft, ignoriert von Recht und Gesetz. Ein namenloses Wesen, dass sich nach menschlicher Wärme und Zuwendung sehnt und Opfer der Ausgrenzung wird, aus Rache tödliche Vergeltung übt und selbst dem Untergang geweiht ist.
Anmerkungen
Im Vorfeld war von langer Hand geplant, dass ein Artikel zu „Frankenstein“ als Doppelseite in der Evangelischen Sonntagszeitung erscheinen wird (am Sonntag vor der Veranstaltung) und wenige Tage vor der Veranstaltung ein ganzseitiger Bericht zum Thema mit Interview und Hinweis auf die Veranstalötung im deutschlandteil der Frankfurter Rundschau (beide Beiträge sind im Anhang oder erhältlich).
Die Veranstaltung war ausgebucht.