Impulse
Texte zum Weiterdenken
Auch außerhalb unserer Veranstaltungen möchten wir zum Nachdenken anregen und Debatten anstoßen. Deshalb verfassen unsere Studienleiterinnen und Studienleiter Impulstexte. Prägnant, pointiert, diskussionsoffen. Auf dieser Seite sind alle Beiträge archiviert. Schreiben Sie uns, was Sie denken!
Raubtierzeit
Ein Jahr Krieg in der Ukraine
„Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. […] Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.“ Eine wunderbare Vision des Propheten Jesaja! Wo sie erklingt, zeichnet sie ein Bild der Hoffnung vor unsere Augen. Wenn der Wolf beim Lamm wohnt, dann ist der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf (Thomas Hobbes), und die „Wolfszeit“ ist vorbei.
Aber leider hat am 24. Februar 2022 mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine eine neue Saison der Wölfe begonnen! Seitdem herrscht in Europa wieder Krieg, unschuldige Menschen sterben, Bomben fallen, Gräueltaten werden verübt. Diese Welt ist kein Streichelzoo, das steht fest. Es ist der Irrtum radikaler Pazifist/innen, dies zu meinen – sie datieren Jesajas Vision einfach vor. Das kann nicht hinhauen. Gegen einen Hitler, gegen einen Stalin, gegen einen Putin (meistens sind es ja Männer, die Kriege anzetteln!) kommen Lämmer inmitten der Wolfszeit nun einmal nicht an. Aber was hilft dann?
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine wird in unserem Land heftig darüber gestritten, wie dem Gewaltregime Putins begegnet werden kann. Auch die regierende Ampelkoalition streitet sich. Einstmals grüne Pazifist/innen würden am liebsten auf Panzern nach Charkiw reiten. Und ein ganzer „Zoo von Waffen“ wird gefordert und aktiviert, um den Schrecken einzuhegen: Drohnen, also hochtechnisierte Wildbienen mit mörderischen Fähigkeiten, sollen den Luftraum erobern, und auf dem Lande sollen Marder und Leoparden Putin stoppen. Die russische Armee hat umgekehrt sogar „Kampfdelfine“ im Einsatz. Ich stelle sie mir gerade vor, lauter kleine „Flippers“, mit Maschinengewehren bewaffnet. Es ist geradezu beruhigend, dass nicht auch noch an die Lieferung von Löwen, Stinktieren und Dinosauriern gedacht wird. Aber wer politisch auf der Höhe sein will, der muss sich heute in diese „Neue Brehmsche Tierlehre“ einarbeiten. Ist das also die richtige Antwort auf die reale Bedrohung aus dem Osten?
Die evangelische Friedensethik und die Friedensforschung sind sich auch mit Bezug auf die Charta der Vereinten Nationen (Artikel 51: Selbstverteidigungsrecht) weitgehend einig: Der Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland ist der exemplarische Fall einer „ultima ratio“ (Anwendung militärischer Gewalt als äußerste Möglichkeit). Die Lieferung von Waffen an die Ukraine ist friedensethisch daher zumindest zulässig. Insoweit besteht eine breite Übereinstimmung im Blick auf die bedrohliche Weltlage, in der wir uns (erst recht) seit dem vergangenen Februar befinden. Ein weiterer Konsenspunkt lautet: Es darf keine Eskalation dieses Konflikts geben. Der Einsatz von Atomwaffen durch Russland würde zu einer Katastrophe globalen Ausmaßes führen. Daher hat selbst die autoritäre Regierung Chinas vor einem solchen Schritt gewarnt und kürzlich eine eigene Initiative für mögliche Friedensgespräche angedeutet. Die vom Bundeskanzler mit Bedacht gewählte Formel „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren. Und Russland darf ihn nicht gewinnen“ hat vor diesem Hintergrund durchaus Plausibilität. Der Kanzler will den Konflikt eindämmen, und die Chance seiner Beendigung setzt ein breites Fenster politischer Handlungsoptionen voraus. Wer dagegen ausschließlich auf die militärische Niederlage Russlands setzt, der schließt die Möglichkeit einer Verhandlungslösung von vornherein aus. Darauf weist mit Nachdruck der Jahrhundertphilosoph Jürgen Habermas in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ hin. Aber können Kriege in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts überhaupt zu eindeutigen Siegern und Verlierern führen? Beispiele wie Vietnam oder Afghanistan lassen daran zweifeln. Selbst klare militärische Überlegenheit garantiert keinen Sieg für eine der beiden Seiten.
Vielleicht ist die bittere Wahrheit ganz einfach: Kriege im 21. Jahrhundert kennen weder Sieger noch Verlierer. Sie sind vielmehr ökologische und humanitäre Katastrophen. Am Ende verlieren alle dabei. Die Raubtiere toben sich aus, kämpfen um ihre vermeintlichen Reviere und fressen einander erbarmungslos auf. Was bleibt, sind der Tod, die Vernichtung, das Grauen. Schon Carl von Clausewitz wusste: Der Krieg ist „nichts als gegenseitige Vernichtung“. Welche Lehren könnte die evangelische Friedensethik aus dieser Einsicht ziehen? Vielleicht die folgenden:
- Niemand sollte zurückgehen wollen zur Auffassung, es gebe „gerechte Kriege“ – vom Bellizismus ganz zu schweigen. Stattdessen muss die Herstellung eines mit Recht und Gerechtigkeit verbundenen Friedens („gerechter Friede“) die Zielperspektive sein.
- Niemand sollte Kriege „heilig“ nennen. Das gilt auch dann, wenn man sie semantisch als „Spezialoperationen“ tarnt. Hierüber muss mit der russisch-orthodoxen Kirche ernsthaft gestritten werden.
- Niemand sollte die Realität des Bösen und „der“ Bösen unterschätzen. Es war höchst naiv, Putin für einen am Frieden interessierten Politiker zu halten. In der Welt gibt es autoritäre Regime und Politiker/innen – nicht wenige von ihnen gehen über Leichen.
- Niemand sollte die eigene Nation über andere Nationen setzen. Nationalismus ist die Urzelle des Krieges. Stattdessen brauchen wir ein ökumenisches, internationales, globales Verantwortungsbewusstsein.
- Niemand sollte die Dramatik des Klimawandels unterschätzen. Dieser Herausforderung zu begegnen, ist die eigentliche Aufgabe unserer Zeit. Sie stellt sich für alle Staaten und Völker dieser Erde. Und sie kann nur gemeinsam bewältigt werden. Entweder wir werden alle gewinnen oder alle verlieren. Das sollten selbst Tyrannen einsehen können.
Unsere Welt ist weder ein Streichelzoo noch ein Areal frei lebender Raubtiere. Als Christ/innen müssen wir dazu beitragen, die Raubtierzeit zu beenden. Denn die Wahrheit liegt zwischen Pazifismus und Bellizismus. Sie beginnt dort, wo der Egoismus einzelner Staaten endet und ein gerechter Friede für diese Welt am Horizont aufscheint.
Problematische Grenzverschiebung?
Zur aktuellen Debatte um die gesetzliche Neuregelung der Suizidhilfe
Von Prof. Dr. Kurt W. Schmidt und
Prof. Dr. Gabriele Wolfslast
Dass jeder Mensch für seine Handlungen grundsätzlich die persönliche Verantwortung zu übernehmen hat, ist gesellschaftlicher Konsens und auch wichtiger Orientierungspunkt in der aktuellen Debatte des Deutschen Bundestages um die rechtliche Neuregelung des assistierten Suizids. Diese Orientierung ist nun aber durch einen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH), der vor gut einem halben Jahr erging,[1] ins Wanken geraten. Denn könnte es auch sein, dass jemand eine Tat für einen anderen begeht, ohne für diese Tat selbst zur Verantwortung gezogen zu werden? Könnte also jemand sagen: „Ich habe nur getan, was Person A gewollt hat, und habe dabei nur als sein verlängerter Arm agiert. Die Verantwortung für die Tat ist deshalb allein der Person A zuzuschreiben. Ich war nur ausführendes Werkzeug!“? Und wenn ja, was würde das für die persönliche Verantwortung des Ausführenden bedeuten? Die Konsequenzen für die rechtliche Bewertung der Suizidhilfe wären jedenfalls beträchtlich. Sie lösen auf ethischer Ebene schon jetzt ein Feuerwerk an Assoziationen aus: Kann ein Mensch als reiner Befehlsempfänger eines anderen verstanden werden? Mit welchen Konsequenzen? Kann sich jemand seiner persönlichen Verantwortung für eine Tat dadurch entziehen, dass er sich nur als „menschliches Werkzeug“ eines Dritten versteht? Aber von Anfang an: Was war geschehen? Dem Beschluss des Gerichts entnehmen wir folgenden Sachverhalt:
Der Fall
Frau S. arbeitete jahrzehntelang als Krankenschwester, bis sie im Jahr 2010 in Rente ging. Seit nahezu 50 Jahren war sie mit ihrem Ehemann verheiratet, der aufgrund einer Lendenwirbelfraktur, die er sich als Jugendlicher zugezogen hatte, und eines Bandscheibenvorfalls unter chronischen Schmerzen litt, was im Jahr 1993 zur Arbeitsunfähigkeit und Berentung führte. Zahlreiche Begleiterkrankungen, darunter ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, verstärkten sein Leiden. Seit 2016 wurde er von seiner Ehefrau zu Hause gepflegt. Eine Heimunterbringung oder ambulante Pflege sowie ärztliche Behandlung lehnte er ab und ließ nur die halbjährlichen Besuche seiner Hausärztin zu, ebenso die Behandlung mit starken Schmerzmitteln und Psychopharmaka. Das Insulin wurde ihm von seiner Ehefrau verabreicht, da es ihm aufgrund seiner Arthrose schwerfiel, die Spritzen selbst aufzuziehen und die Tabletten aus der Verpackung herauszudrücken. Seit Anfang 2019 war er bettlägerig und äußerte vermehrt den Wunsch zu sterben. Mit seiner Ehefrau verabredete er, dass kein Arzt gerufen werden sollte, wenn er seinem Leben ein Ende setzen wollte. Als sich sein gesundheitlicher Zustand weiter verschlechterte, wollte er einen Sterbehilfeverein in Anspruch nehmen, sah sich aber durch die damals geltende Gesetzeslage daran gehindert. So bat er seine Frau, einige Tage wegzufahren, damit er sich zu Hause das Leben nehmen könne, doch sie kam dieser Aufforderung nicht nach.
Einige Wochen später spitzte sich die Situation zu und die Ehefrau ging davon aus, dass der Sterbewunsch ihres Mannes ernst war. Am späten Abend forderte er sie auf, ihm alle vorrätigen Tabletten zu geben. Aus Furcht, dass andere denken könnten, sie habe ihren Mann umgebracht, bat sie ihn, einen Abschiedsbrief zu schreiben; er entsprach dieser Bitte und bekräftigte in dem Schreiben, dass er nicht mehr weiterleben wolle und seiner Frau verboten habe, einen Arzt zu holen. Die Ehefrau handelte daraufhin dem Wunsch ihres Mannes entsprechend; sie trug alle im Haus verfügbaren Medikamente zusammen, löste die Tabletten aus den Verpackungen und gab sie ihm in die Hand. Der Ehemann nahm alle Tabletten selbstständig mithilfe eines in einem Wasserglas aufgelösten Beruhigungsmittels ein. Nun forderte er seine Ehefrau auf, alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen und sie ihm zu verabreichen; dabei war ihr bewusst, dass dies seinen Tod herbeiführen würde. Sie blieb bei ihrem Mann, der bewusstlos wurde und in der Nacht an der Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins verstarb.
Vom Landgericht Stendal wurde die Ehefrau für ihre Tat verurteilt, weil sie nicht nur Beihilfe zum Suizid geleistet (das wäre straflos geblieben), sondern weil sie auch als aktiv Handelnde mit der Gabe des Insulins den Tod ihres Ehemanns herbeigeführt habe.
Zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beihilfe zum Suizid
Unschwer zu erkennen ist hier die Unterscheidung, die auch der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 26. Februar 2020 bekräftigt hat:[2] Die Beihilfe zu einem freiverantwortlichen Suizid einer erwachsenen Person muss dem Einzelnen straffrei möglich sein, um nicht das Recht auf Suizid leerlaufen zu lassen; die aktive Tötung eines Menschen bleibt als Fremdtötung hingegen auch dann strafbar, wenn sie dem ausdrücklichen Wunsch des Sterbewilligen entspricht. An diese Vorgaben hat sich das Landgericht Stendal gehalten und entsprechend geurteilt.
Es muss nun überraschen, dass der 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) die Entscheidung des Landgerichts Stendal später aufgehoben und die Ehefrau freigesprochen hat, da sie sich nach Einschätzung des Gerichts unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht hatte. In seiner Begründung folgt das Gericht zuerst der herrschenden Meinung, wonach die Grenze zwischen strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Suizidbeihilfe nach den Kriterien der sogenannten Tatherrschaftslehre zu ziehen ist: Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterwirft. „Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt“.[3] Dann aber folgt eine Volte: Die Abgrenzung könne „nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden“. Und das bedeutet nach Auffassung des BGH im vorliegenden Fall, dass nicht der isolierte Einzelakt des Setzens der Insulinspritzen maßgeblich ist, sondern dass es entscheidend auf den Gesamtplan des Sterbewilligen ankommt. Zur Verwirklichung dieses Gesamtplans habe die Ehefrau mit ihrem aktiven Tun nur Beihilfe zum Suizid geleistet.
Muss die Trennung von strafbarer Tötung auf Verlangen und strafloser Beihilfe zum Suizid insofern aufgegeben werden? Kann künftig auch eine Handlung, die auf den ersten Blick als aktive Tötung auf Verlangen angesehen wird, als straflose Beihilfe gewertet werden? Hat der Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung das derzeit geltende Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben und damit den „Damm zur aktiven Sterbehilfe gebrochen“, wie Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz bei der dpa zitiert wird? Manch einem, der im Zuge der „Liberalisierung“ der Suizidhilfe-Gesetzgebung den nächsten Schritt zur Freigabe der Tötung auf Verlangen nur für eine Frage der Zeit gehalten und diesen Schritt vorhergesagt hat, wird darin jetzt eine Bestätigung sehen. Ob hier nun ein Einfallstor vorliegt, um künftig Tötung auf Verlangen straffrei zu stellen, ist angesichts der bevorstehenden parlamentarischen Debatte über die Neuregelung des § 217 Strafgesetzbuch (StGB) von großer Bedeutung, da alle drei vorliegenden parlamentarischen Gesetzentwürfe von dieser strikten Trennung ausgehen.
Eine Neudefinition der Suizidbeihilfe?
Sind durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs künftig Konstellationen denkbar, in denen eine Person durch das Gericht der persönlichen Verantwortung für ihre Tat im Zusammenhang mit einem Suizid enthoben werden kann, weil sie sich darauf beruft, nur den Willen ihres Gegenübers – quasi als dessen verlängerter Arm – umgesetzt zu haben? Wir kennen diese Argumentation aus Strafverfahren gegen NS-Täter und gegen sogenannte Mauerschützen. Immer geht bzw. ging es um die Frage, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen eine Person sich dadurch entlasten kann, dass sie sagt, sie habe ihren Willen zur Tat völlig dem einer anderen Person untergeordnet – nicht sie könne also verantwortlich gemacht werden für das eingetretene Ergebnis, sondern nur der Auftraggeber, dessen Willen die Tat entsprungen sei.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen – notwendigerweise stark vergröberten – Blick auf die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nach deutschem Strafrecht zu werfen. Nach der heute mit unterschiedlichen Nuancierungen überwiegend vertretenen Tatherrschaftslehre ist der Täter die Zentralgestalt bei der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung, während der Gehilfe als Teilnehmer eine Randfigur ist, die durch Hilfeleistung zur Tat beiträgt[4]: Nicht mehr gesetzeskonform ist die Bestimmung von Täter und Teilnehmer allein nach dem Interesse am Taterfolg, wie es das Reichsgericht unter anderem im Jahre 1940 im sog. Badewannen-Fall [5] getan hat. Zu beurteilen war die Tötung eines Neugeborenen durch die Schwester der Kindsmutter, die das Kind auf Veranlassung und im Interesse der Kindsmutter eigenhändig in der Badewanne ertränkt hatte. Auch hier ging es, vor dem Hintergrund der zu erwartenden Strafe, um die Frage, welche der Frauen als Täter und welche als Gehilfe anzusehen war. Das Reichsgericht stellte darauf ab, ob die Schwester der Kindesmutter die Tötungshandlung als eigene gewollt oder lediglich die Tat ihrer Schwester habe unterstützen wollen. Maßgebend für die Rechtsprechung wurde das Handeln mit Täterwillen (dem sog. animus auctoris), beziehungsweise mit Teilnehmerwillen (animus socii), freilich ohne dass diese Linie auch nur annähernd konsequent durchgehalten worden wäre: Zum Beispiel stellte der Bundesgerichtshof nur wenige Jahre später im Gegensatz zur Entscheidung im Badewannen-Fall fest, dass grundsätzlich der, der mit eigener Hand tötet[6], auch Täter ist. Wieder einige Jahre später folgte die Rechtsprechung erneut dem Badewannen-Fall, als ein sowjetischer Agent im Auftrag seines Geheimdienstes zwei Exilpolitiker eigenhändig erschoss und dafür nur wegen Beihilfe zum Mord bestraft wurde[7], oder als ein „Messerstecher“ trotz eigener Tatbegehung bloß als Gehilfe verurteilt wurde, weil das „eigene Zustechen in dem Bestreben, nicht als Feigling in den Augen der anderen zu erscheinen“, dafür spreche, dass er sich „deren Willen untergeordnet“ habe.[8] Sichtbar wird an diesen Entscheidungen, wie sehr sich Strafsenate des Bundesgerichtshofs die Freiheit nehmen, ihnen unbillig erscheinende Ergebnisse zu korrigieren.
Das gilt auch für die vorliegende Entscheidung, in der sich der 6. Strafsenat generell gegen eine „naturalistische“ Bewertung bei der Abgrenzung von Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid, einem gleichsam Spezialfall der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, ausspricht. Dabei gelingt es ihm jedoch nicht, wie Kritiker ihm vorgeworfen haben[9], dem angeblich angewandten Tatherrschaftskriterium eine Orientierungswirkung für zukünftige Fälle zu geben. Das aber wäre in Anbetracht der in Kürze zu erwartenden nächsten Lesung der Gesetzentwürfe im Bundestag von großer Bedeutung gewesen. Für die Rechtssicherheit ist somit nichts gewonnen.
Auch in diesem Fall – ähnlich wie im Badewannen-Fall vor gut 80 Jahren – hat das Gericht offenbar ein Korrekturbedürfnis gesehen und es nicht als ausreichend angesehen, die Ehefrau zu einer milden, auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe zu verurteilen, beziehungsweise die entsprechende Entscheidung des Landgerichts Stendal zu akzeptieren. Bedenklich ist dabei die Art und Weise, in der hier einer Täterin gleichsam suggeriert wurde, dass sie für das Geschehen keine Verantwortung trage, sondern nur bloßes Werkzeug ihres körperlich schwer erkrankten, suizidwilligen Mannes gewesen sei. Rufen wir uns dabei in Erinnerung, dass es für den Philosophen Hegel ein zentraler Gedanke war, dass der Mensch als freies Wesen für seine Handlungen als Täter zur Verantwortung zu ziehen ist und dass wir gerade in der Strafe den Täter als vernünftiges Wesen würdigen.
Verantwortung für die Folgen
Nicht nur im Recht hat grundsätzlich der Einzelne für seine Taten einzustehen. Gleich zu Beginn erzählt die Bibel, dieses „Grundbuch der abendländischen Kultur“[10], wie den ersten Menschen Adam und Eva ihre aktiven Handlungen zugerechnet werden, was zur Vertreibung aus dem Paradies führt, und wie Kain die Folgen dafür tragen muss, dass er seinen Bruder Abel getötet hat. Hierbei geht es darum, dass die Handelnden nicht folgenlos davonkommen und für ihre Handlungen haftbar gemacht werden und einzustehen haben.[11] Es ist ein langer Weg in der abendländischen Kultur von der Gerichtsbarkeit auf Grundlage eines religiösen Weltbildes, das z.B. im Mittelalter auch die Bestrafung von Tieren, Gegenständen und Toten vorsah (auch sie wurden irrigerweise „haftbar“ gemacht), bis in die moderne Rechtsprechung, die sich der Legitimation ihrer Bürgerinnen und Bürger verdankt.[12]
Gedacht wird in kausalen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung. Kommt bspw. eine Person durch Gewalt ums Leben, wird der Frage nachgegangen, wer dafür verantwortlich war und ob es bspw. einen Täter gab, der den Tod herbeigeführt hat. Dabei berücksichtigt das moderne Strafrecht eventuell vorliegende Strafmilderungsgründe. Beispielsweise wird, unter Umständen mithilfe von Gutachten, geklärt, ob der Täter zum Zeitpunkt der Tat überhaupt schuldfähig war, zur Tat gezwungen wurde, in Notwehr gehandelt hat, einem Irrtum unterlag o.Ä.[13] Das kann zu einer erheblichen Strafminderung und theoretisch sogar zu Freispruch führen. Die objektive Beschreibung des Ereignisses sagt also noch nichts darüber aus, welche individuelle Verantwortung dem Täter vom Gericht letztendlich zugesprochen wird und welches Strafmaß sich daraus ergibt. Dabei bleibt der Grundsatz bestehen, dass derjenige, der die Tat vollzogen hat, erst einmal als Täter betrachtet wird und dafür mit seiner Person einstehen muss.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Indem der Senat die alleinige Verantwortung für das Geschehen bei dem Suizidwilligen und seinem „Gesamtplan“ sieht, erklärt er die Ehefrau zum bloß ausführenden Objekt seines Plans. Sie verschwindet damit als handelnde Person, denn der Suizidwillige handelt durch sie. Dass es sich um den eindeutigen Willen des Ehemanns handelt, lässt sich die Ehefrau von ihm auch schriftlich bestätigen. In der Umsetzung seines Willens handelt sie selbst natürlich nicht willenlos, und es wird der Ehefrau auch die eigene Entscheidungsfindung nicht abgesprochen (sie könnte ja jederzeit die Handlung abbrechen), wie bspw. in Robert Wienes berühmtem Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (D 1920) dem hypnotisierten Schlafwandler Cesare, der seines eigenen Willens beraubt und fremdgesteuert die kriminellen Taten des Dr. Caligari begeht.
Die Folgen
Bei aller Betonung, manche haben auch kritisch von Überbetonung der Autonomie des entscheidungsfähigen Erwachsenen gesprochen, die das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung vom 26. Februar 2020 zugrunde gelegt hat, wurde auch vom Bundesverfassungsgericht das Überschreiten der Grenze zur Tötung auf Verlangen deutlich untersagt. Wenn nun der BGH die Ehefrau und Krankenschwester, die die tödlich wirkenden Spritzen gesetzt hat, im konkreten Einzelfall freigesprochen und zugleich eine allgemeine begriffliche Neubestimmung von erlaubter Suizidassistenz und strafbarer Tötung auf Verlangen gefordert hat, dann darf dies nicht zu der fälschlichen Annahme führen, als sei damit nun künftig dem Arzt, der Krankenschwester, dem Angehörigen u.a. die Umsetzung des Suizidwillens durch eine aktive Handlung straflos möglich! Vielmehr muss bedacht werden, dass der BGH einen Einzelfall entschieden hat und die Richter in ihrer Entscheidung nicht an Präjudizien gebunden sind. In einem ähnlich gelagerten Fall könnte ein anderes Gericht künftig zu einer anderen Entscheidung kommen und eine aktive Handlung als strafbare Tötung auf Verlangen werten. Es wird sich also auch künftig niemand mit einem Verweis auf die Entscheidung des BGH „sicher“ sein können, in einem ähnlich gelagerten Fall freigesprochen zu werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Gerichte derartige Handlungen weiterhin der Kategorie „strafbare Tötung auf Verlangen“ zuordnen werden.
Wollte man wirklich Rechtssicherheit schaffen für jene Fälle, in denen es, wie der 6. Strafsenat in seinem Insulinbeschluss formuliert hat, „einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffenen Entscheidung selbst umzusetzen“, dann wäre es Sache des Gesetzgebers, und nicht eines Gerichts, eine klare Regelung einschließlich prozeduraler Vorschriften für die Tötung auf Verlangen zu treffen. Das ist aber in der derzeitigen Gesetzesdebatte – gerade vor dem Hintergrund des deutlichen Votums des Bundesverfassungsgerichts – nicht zu erwarten. Wollte man später in diese Richtung gehen, so zeigt der Blick in andere westliche Länder, in denen Tötung auf Verlangen erlaubt ist, dass hier ein einzuhaltendes Prozedere beschrieben wurde.
Berichte aus den Niederlanden, in denen sich über 90 % der entscheidungsfähigen Suizidwilligen für eine Tötung auf Verlangen entscheiden und nicht für einen Tod durch eigene Hand, verweisen – bei aller angebrachten Vorsicht – darauf, dass es auch der „Sicherheitsaspekt“ ist, der sie zu dieser Entscheidung veranlasst: Wird das Mittel vom Arzt appliziert, kann der Suizident davon ausgehen, dass er auch wirklich zu Tode kommen wird. Klar ist aber: Der Arzt ist in den Niederlanden – auch in dem Fall der Tötung auf Verlangen – „Täter“ und muss sich für seine Tat rechtfertigen. Hat er bei der Vorbereitung und Ausführung der Tat ein bestimmtes Prozedere eingehalten, wird von einer Strafverfolgung abgesehen. Aber der Arzt bleibt eine Person, die das eigene Handeln zu verantworten hat und eben nicht straffreier Gehilfe.
Diese „bürokratischen Schritte“, die Transparenz und Offenheit des Ablaufs zwingend vorschreiben, müssen einem keineswegs gefallen, zumal klar sein muss, dass jede Festlegung eines Prozedere einen Schritt zur Normalisierung bedeutet. Doch genau das zu verhindern, dass Suizidhilfe eben nicht zu einem „Normalfall“ wird, ist das Bestreben vieler. Zu wünschen ist deshalb, dass der Suizidprävention weiterhin großer Vorrang eingeräumt wird und auch die Suizidprävention in einer entsprechenden gesetzlichen Regelung bedeutsam gestärkt wird.
Fazit
Die Entscheidung des 6. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ist bemerkenswert, weil sie die aktive Handlung der Angeklagten nicht – wie bisher üblich – der strafbaren „Tötung auf Verlangen“ zuordnet, sondern als straflose „Beihilfe“ wertet. Einerseits darf diese Einzelfallentscheidung nicht zu dem Missverständnis führen, es sei damit die Tür zur aktiven Suizidhilfe weit geöffnet, denn es bleibt völlig unklar, wie ein anderes Gericht in einem ähnlich gelagerten Fall künftig entscheiden würde.
Andererseits wird die Frage aufgeworfen, wie mit Situationen umgegangen werden soll, in denen der Suizidwillige selbst nicht in der Lage ist, seinen Willen eigenhändig in die Tat umzusetzen, wenn das Bundesverfassungsgericht festgehalten hat, dass die praktische Umsetzung jedem freiverantwortlich entscheidenden Suizidwilligen zu ermöglichen ist. Die Debatte um diesen konkreten Einzelfall und die Entscheidung des BGH verdeutlicht erneut, wie schwierig und komplex die Aufgabe für den Gesetzgeber ist, eine gesetzliche Neuregelung des § 217 StGB zur Suizidhilfe zu verabschieden, die durch das Bundesverfassungsgericht nahegelegt wurde. Eine deutliche gesetzliche Stärkung der Suizidprävention sollte dabei unbedingt mit auf den Weg gebracht werden.
Prof. Dr. Kurt W. Schmidt ist nebenamtlicher Studienleiter für Medizin & Ethik an der Evangelischen Akademie Frankfurt und Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Prof. Dr. Gabriele Wolfslast ist Professorin i. R. für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Die Evangelische Akademie Frankfurt begleitet seit zwei Jahren die Diskussion um die aktuelle Gesetzgebungsdebatte, unter anderem durch Onlineveranstaltungen, in denen Politiker/innen und Autor/innen ihre parlamentarischen und außerparlamentarischen Gesetzentwürfe vorstellen und diskutieren. Die Aufzeichnungen der bisherigen sechs Veranstaltungen zu diesem Thema sind hier abrufbar.
- [1] Beschluss des 6. Strafsenats des BGH vom 28. Juni 2022 – 6 StR 68/21. https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2022&Seite=41&nr=130875&pos=1231&anz=2846 (zuletzt aufgerufen am 3. Februar 2023).
- [2] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15. https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/rs20200226_2bvr234715.html (zuletzt aufgerufen am 3. Februar 2023).
- [3] Beschluss des 6. Strafsenats des BGH vom 28. Juni 2022 – 6 StR 68/21.
- [4] C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band II, § 25 Rn. 10, München 2003; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., § 12 Rn. 28 f., Köln, Berlin, München 2004.
- [5] RGSt74, 85; 85; dazu unter anderem auch C. Roxin, a.a.O., § 25 Rn, 17 ff.; Stratenwerth/Kuhlen a.a.O., § 12 Rn. 14.
- [6] BGHSt 8, 393; s. auch C. Roxin, a. a. O., Rn. 40.
- [7] BGHSt 18, 87.
- [8] BGH MDR (D) 1974, 547; s. auch C. Roxin, a. a. O., Rn. 40 f.
- [9] Murmann, Tötungshandlungen und Einwilligung bei § 216 StGB. Zugleich Besprechung von BGH, Beschl. v. 28. Juni 2022 – 6 StR 68/21, in: ZfIStw 2022, S. 530–537.
- [10] Claussen, Johann Hinrich, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen. C. H. Beck, München 2018, S. 11.
- [11] Limbeck, Meinrad, Das Gesetz im Alten und Neuen Testament. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997.
- [12] Vgl. Schild, Wolfgang, Die Geschichte der Gerichtsbarkeit. Georg D.W. Callwey, München 1980.; Ders. Folter, Pranger, Scheiterhaufen. Rechtsprechung im Mittelalter. Bassermann, München 2010.
- [13] Gegenstand der rechtlichen Beurteilung können also nur freiheitskausale Auswirkungen auf andere sein. Siehe: Kersting, Wolfgang, Kant über Recht. Mentis, Paderborn 2004.
Flamenco tanzen
oder: Vom Für und Wider der Leidenschaft
Wofür empfinden Sie Leidenschaft? Wofür können Sie sich so sehr begeistern, dass Sie sogar bereit sind, Leid dafür zu ertragen? Bei mir ist es der Flamenco. Schon als kleines Kind habe ich mich in diese Form des tänzerischen Ausdrucks verliebt und eine frühe Leidenschaft entwickelt. Flamenco ist ein spanischer Tanz, der voll bis obenhin ist mit Gefühl. Mit Liebe und Hass, mit Eifersucht und Neid, mit Trauer und Wut und mit ganz viel Fröhlichkeit und Humor. Alle starken Emotionen, die der Mensch kennt, bringt der Flamenco einem als Tänzerin so nahe, wie es manchmal das echte Leben nicht vermag.
Leidenschaft ist in der Philosophie ein ambivalenter Begriff. Manche beschreiben sie als Quelle des Unfriedens, als Motiv für Machtinteressen – andere als Form der Vernunft, da sie dazu führt, dass der Mensch das will, was ohnehin das Beste für ihn ist.
Eine Leidenschaft zu haben kann also Fluch und Segen zugleich sein. Man zieht das Schöne, die Begeisterung daraus, aber man kann in der Hingabe auch ertrinken. Im Flamenco erscheint das „Schöne“, das „Wunder-volle“, auf rätselhafte Art: Wenn man in diesem Tanz ganz versunken ist, dann nennt man das „el duende“. Aber es ist mehr als das Versunkensein. „El duende“ beschreibt ein kleines Wunder, das nicht planbar ist, das überraschend auftritt, das nicht erzwungen werden kann. Wie es Wunder eben an sich haben. Man kann sie nicht bestellen.
Für die sogenannten „aficionados“, seien es Tänzer, Sängerinnen, Gitarristen oder Zuschauerinnen, ist „el duende“ ein Moment, in dem sie – jede/r für sich und manchmal auch alle gemeinsam – in einen besonderen Gemüts- und Körperzustand verfallen. Um diesen gleichzeitig kollektiven und individuellen Zustand zu erreichen, braucht es Respekt und Konzentration, in gewisser Weise einen Moment der Stille in all dem Trubel, der in einer solchen Situation vorherrscht. Es braucht eine besondere Form der Intimität zwischen den Menschen, ein Gefühl der Gemeinschaft – Gemeinschaft mit den Menschen um mich und mit der Musik, der Kunst, der Interpretation.
Auch der Kampfgeist, den wir in der Evangelischen Akademie Frankfurt als Motto über die erste Jahreshälfte 2023 stellen, steht mit der Leidenschaft in Beziehung. Denn es braucht Leidenschaft, um Kampfgeist zu entwickeln. Eine starke Emotion, die uns dazu bringt, uns aus unserer Komfortzone hinauszukämpfen oder für eine Sache so massiv einzutreten, dass es auch Verletzungen an Körper oder Seele mit sich bringt. Wir erleben es in der Ukraine, im Iran, an vielen Orten der Welt: Menschen, die mit Leidenschaft für eine Sache, für ihre Freiheit kämpfen. Gemeinsam, auch wenn sie sicher nicht alle einer Meinung sind. Es brauchte einen Anlass, es brauchte einen Impuls, vielleicht sogar einen kurzen „el duende“-Moment der Stille, den niemand bewusst beschreiben kann, damit sich dieser Kampfgeist ausbreiten konnte. Und damit meine ich nicht den Angriff Putins. Denn hierauf hätte es viele mögliche Reaktionen gegeben. Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer, die Iranerinnen und Iraner haben sich eben für genau diesen Weg – den des Kampfgeistes – entschieden. Und bei aller Faszination, die wir für diese Haltung aufbringen: Es stehen viele Schicksale, viele zerstörte Leben, viel Leid und viel Schmerz dahinter. Leidenschaft schafft Leiden. Kampfgeist heißt auch, dass im Kampf Verluste erlitten werden.
Die aktuellen Zustände im Iran, in der Ukraine – das sind krasse Beispiele für Kampfgeist und Leidenschaft, die manchmal nah, manchmal fern erscheinen. Anderes fordert ebenfalls Leidenschaft, wenngleich es hierbei weniger gewaltsam zugeht. Zum Beispiel das Projekt Europa, das leidenschaftlich verfolgt werden muss, damit es gelingt. Auch unsere Demokratie erfordert die Bereitschaft zu leidenschaftlichem Kampf – gerade dann, wenn man auf all die Mängel schaut, die in diesem großartigen, aber unvollkommenen Konstrukt angelegt sind. Und ich persönlich kann auch eine unheimlich große Leidenschaft entwickeln, wenn es um unser Bildungssystem geht. Da gibt es ebenfalls noch viel zu erkämpfen, bis alle Menschen – große und kleine – darin ihren Platz finden, um sich so zu entfalten, wie sie es wollen und können.
Wir leben in Zeiten, in denen der Wechsel zwischen Friede und Unfriede, zwischen Liebe und Hass, zwischen Gut und Schlecht, zwischen Freude und Trauer immer schneller stattzufinden scheint. Diese Unruhe des ständigen Umschlagens der Extreme sorgt für Atemlosigkeit in der Gesellschaft, in den Herzen, in der Politik. Sie tut uns und der Welt nicht gut. Denn es handelt sich hier nicht um die Atemlosigkeit, die aufkommt, wenn man von etwas so bewegt ist, dass es einem auf schöne Weise den Atem verschlägt. Wir erleben eher eine Art des Ausgepowert-Seins, die nichts Gutes verheißt. Eine trügerische Ruhe, die am Ende einer zerstörerischen Leidenschaft Vorschub leistet anstatt einer, die uns voranbringt und Gutes schafft.
Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein (2. Mose 14,14). Dieser Satz im Alten Testament fällt mitten in der Geschichte, als die Israeliten gehetzt vor den Ägyptern fliehen und kurz bevor Mose das Meer teilt, um sie zu retten. Still sein, vielleicht auch um Gott zu hören.
An den Weihnachtstagen haben wir – wenn es gut lief – Zeit für Stille gefunden. Für das aufmerksame Hinhören. Und vielleicht auch dazu, unsere Leidenschaften neu zu entdecken. Vielleicht entsteht daraus ja ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Meiner lautet: wieder mehr tanzen! Auch wenn die Gelenke und die Knochen es vermutlich nicht mehr ganz so amüsant finden wie früher. Das drückt dann das Leiden aus, das ich dafür hinzunehmen bereit bin. Aber das Schöne im Flamenco ist, dass man es nicht zu Wettkampfzwecken macht, sondern nur für sich – in der Hoffnung auf einen „duende“-Moment.
Welche Leidenschaft graben Sie wieder aus im neuen Jahr?
Typische Jahresendzeitfiguren
oder: Englisch für Anfänger
Engel sind ein geheimnisvolles Thema. Nicht nur im Christentum spielen sie eine Rolle, auch in anderen Religionen. Als Kind glaubte ich an sie. Als Jugendlicher irgendwann nicht mehr. Als Erwachsener dann irgendwann wieder – aber anders als früher. Was ich dabei gelernt habe, will ich hier in fünf Thesen zusammenfassen, um Ihnen zum Weihnachtsfest ein wenig Stoff zum Nachdenken zu geben.
1. These: Du musst die Engel nicht suchen!
Gott lässt sich finden, wenn man ihn sucht. Nicht immer, aber doch immerhin manchmal. Bei Engeln ist das anders. Maria, das Mädchen aus Nazareth, hat keinen Engel gesucht. So um die 14 oder 15 Jahre muss sie alt gewesen sein, denn ab diesem Alter galten weibliche Wesen als heiratsfähig und wurden deshalb als „parthenos“ bezeichnet. Ein doppeldeutiges Wort, das Luther als „Jungfrau“ übersetzte. Das trifft es nicht ganz und hat zu viel Verwirrung geführt. Die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzt daher zutreffend mit „junge Frau“. Maria, fast noch ein Kind, hat sicher keinen Engel gesucht, als ihr Gabriel begegnete, der für sie in einer ganz bestimmten Situation ihres Lebens zum Boten Gottes wurde. Boten haben eine Botschaft, Messenger eine Message. Selbst in der DDR hatten Engel eine Botschaft, allerdings nur genau eine: Als „Jahresendzeitfiguren“ wiesen sie darauf hin, dass der Jahreswechsel bevorstand. Die biblischen Engel haben andere und mehr Botschaften. Es ist aber zwecklos, nach diesen Engeln zu suchen. Wer an sie glaubt, weiß, dass sie sich nicht finden lassen. Sie sind zwar da, aber gut versteckt. Vielleicht irgendwo aufgewickelt in den elf Dimensionen unseres Universums, von denen wir – wenn die „Cosmic String“-Theorie stimmt – nur drei oder vier wahrnehmen können. Oder aber: Die Engel sind schon da, sind Menschen wie wir, von Geburt an Menschen, aber in bestimmten Situationen werden sie zu Engeln für andere.
2. These: Die Engel finden dich!
Maria sucht nicht, sie wird gefunden. Die Hirten vor Bethlehem suchen ebenfalls nicht, sie werden von den Engeln gefunden. So ist das offenbar, so funktioniert das Engelwesen. Gott schickt die Engel los als seine Boten, und dann sind sie plötzlich da und greifen ins Geschehen ein. So einfach ist das – und so unfassbar für uns, wenn sie uns begegnen.
Das ging mir mindestens einmal so, als ich Teenager war und zutiefst unglücklich, wie man mit 14 oder 15 Jahren (ein männlicher „parthenos“ sozusagen) so sein kann. Es war damals auch in der Adventszeit, es war bitterkalt, und ich lief durch die Rödelheimer Gassen. Hatte ein Freund mich verraten, hatte ich Stress in der Schule, war ich unglücklich verliebt? Wahrscheinlich alles zusammen. Ich weiß es gar nicht mehr. Aber da kam ein mir unbekannter Mann auf mich zu, sah meine Trauer und sprach mich an. Ich schilderte ihm mein Leid. Er sprach mir gut zu. Was er im Einzelnen sagte, weiß ich längst nicht mehr. Nur, dass er mir Mut machte und dass irgendwie Gott vorkam in dem, was er sagte. Und er verwies mich auf die junge Gemeindepfarrerin, die mich konfirmiert hatte. Die sei als Seelsorgerin für mich da. Stimmt ja! Ich ging nach Hause und war irgendwie beruhigt und getröstet. Wer war dieser Mann gewesen? Irgendein Rödelheimer Bürger? Ein Engel mitten in unserem Stadtteil? Wenn er einer war, dann könnten wir alle welche sein. Dann sollten wir auf die Suche gehen, um denen zu begegnen, die uns heute gerade brauchen.
3. These: Engel haben keine Flügel, aber eine Botschaft!
Ein Buch des klugen Theologen Claus Westermann trägt den Titel „Gottes Engel brauchen keine Flügel“. Engel mit Flügeln gibt es in der Kunst zwar reichlich, und auch die Jahresendzeitfiguren trugen oft Flügel. Aber in der Bibel und im wahren Leben ist das kaum bis gar nicht der Fall. Die Engel sehen meistens aus wie Menschen, weil sie nämlich in aller Regel Menschen sind – Menschen mit hellen Botschaften, mit guten Nachrichten für uns. Sie sind keine Nachrichtensprecher mit Katastrophenberichten, keine Angstmacher von Beruf. Deshalb eröffnen sie das Gespräch meistens mit der Formel: „Fürchte dich nicht!“ Gottes Boten wollen Licht in unser Leben bringen, sie sollen und wollen uns Mut machen zu einem Leben mit Gott.
Darum geht es also in den Messages der himmlischen Messenger: um Themen wie Gnade, Liebe, Frieden und Licht. Gabriel spricht Maria als eine „Begnadete“ (griechisch: „ke-charitomene“) an, also als ein Mensch, dem Gott seine Gnade schenkt. Und er begründet diese Anrede mit der Aussage: „Du hast Gnade (griechisch: „charis“) gefunden bei Gott.“ Das Wort „Gnade“ ist eines der wichtigsten Worte in der Bibel überhaupt. Es meint die Art, wie Gott Menschen seine Liebe zuwendet, nämlich so, dass er sie ohne Vorbedingungen annimmt. Gnade ist also eine Gabe, ein Geschenk, eine unverdiente Zuwendung, bei der man nicht fragen kann: Warum? Eine klassische Engelsbotschaft. Und jetzt an Weihnachten steht der Frieden im Mittelpunkt, wenn es vor Bethlehem heißt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Eine Botschaft, die wir uns an diesem Weihnachtsfest sicherlich ganz besonders wünschen. Da hätten wir also zwei Kennzeichen dafür, dass wir es in unserem Leben mit Engeln zu tun haben könnten: Sie bringen Heils-, Gnaden-, Licht- und Friedensbotschaften von Gott, und sie wollen uns Menschen Angst nehmen. Daran kann man sie erkennen. Und nicht an Flügeln.
4. These: Es gibt sie – mitten in unserem Leben!
Die Jahresendzeitfiguren in der DDR waren langweilige Gestalten, kitschig, stereotyp und so leer und inhaltslos wie Gott als alter Mann mit einem weißen Bart. Echte Engel sind anders. Sie sind mitten im Leben dynamisch unterwegs. Deshalb schreibt man Krankenschwestern oft zu, sie seien Engel. Man denke an die legendäre Florence Nightingale oder Elsa Brändström, den „Engel von Sibirien“. Wer anderen Menschen hilft, wer den Hungrigen Brot gibt oder die Kranken pflegt, hat offenbar etwas Engelhaftes an sich. Manche empfinden Pfarrer/innen als Engel. Ich habe einige Pfarrpersonen – bei weitem nicht alle! – so ähnlich erlebt. Wie so oft gibt es natürlich positive und negative Beispiele, und wo Geistliche Missbrauch begangen haben – und das gab es ja auch –, da haben sie eher teuflisch gewirkt. Ich möchte hier gar nicht erst über Politiker/innen sprechen; vielleicht sind Engel in ihrem Berufsfeld noch etwas seltener vertreten. Ein ganz anderes Beispiel war „die Putzfrau Gottes“, die ich einmal kennenlernte: eine Frau, die in ihrer Gemeinde fleißig die Kirche und Gemeinderäume reinigte. Wenn sie in der Kirche allein war, sprach sie mit Gott. Wenn ich sie antraf, sprach sie liebevoll mit mir. Diese Frau könnte ein Engel gewesen sein. Viele Menschen könnten „ein bisschen Engel“ sein.
Kinder fragen sich mitunter, ob wohl auch Tiere Engel sein können. In meiner Kindheit gab es viele Fernsehserien, in denen Tiere die Hauptpersonen waren: Lassie, die schöne Collie-Hündin, Flipper, der kluge Delfin, Skippy, das lustige Känguru. In fast jeder Sendung mussten diese Tiere irgendjemanden aus der Gefahr retten: „Lassie, hol Hilfe!“ – „Flipper, hol Hilfe!“ – „Skippy, hol Hilfe!“ Das klappte auch immer, meistens in letzter Minute. Die Botschaft war dabei klar: Da ist ein Mensch in Not, kommt mit und helft! Aber diese Botschaft blieb in ihrem Umfang und ihrer Deutlichkeit eher beschränkt. Also: Tierische Engel sind nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sehr wahrscheinlich.
Das wichtigste Thema in unserer Zeit ist sicherlich die drohende Klimakatastrophe. Daher liegt die Frage nahe: Ist die junge Schwedin Greta Thunberg ein Engel? In ihren Reden zum Klimaschutz sagt sie von sich selbst: „Ich bin nur eine Botin.“ Bote oder Botin, das ist die deutsche Übersetzung des griechischen „angelos“, auf Deutsch „Engel“. Greta Thunbergs Botschaft ist: „Alles und alle müssen sich ändern. Nur so können wir die Katastrophe verhindern.“ In der Sache hat sie sicher Recht. Andererseits sagt sie auch: „Ich will, dass ihr in Panik geratet.“ Engel sagen eher: „Fürchtet euch nicht!“ – so Gabriel zu Maria oder die Engel vor Bethlehem zu den Hirten. Falls Greta Thunberg ein Engel sein sollte – und ich will das gar nicht ausschließen –, dann wäre sie wohl ein Paradox-Engel. Eine seltene Sorte. Aber warum soll es die nicht geben, wenn sie der Schöpfung und dem Leben dienen?
5. These: Es gibt auch Schutzengel, mitten unter uns!
Unter den verschiedenen Arten von Engeln werden häufig die Schutzengel erwähnt. Sie gelten im Leben der Einzelnen als besonders wichtig. Sie werden das ganze Jahr über benötigt, und sie können einen Menschen auch ein Leben lang begleiten – wenn es sie denn gibt. Dann wären sie den Jahresendzeitfiguren weit überlegen, die ja nur im Dezember ihre Auftritte hatten.
Zwei Schutzengel aus meinem eigenen Leben kann ich sogar namentlich nennen. Es waren meine Urgroßmutter und meine Großmutter, Susanne und Elise. Die beiden tun ja längst im Himmel ihren Dienst, ich will sie aber niemals vergessen. Sie holten mich als Kleinkind aus einem Kinderheim heraus und zogen mich auf. Deutsche Kinderheime in den 1960er-Jahren – ich brauche wohl nichts weiter dazu zu sagen. Bewusste Erinnerungen an die Zeit im Heim habe ich nicht, aber im Unterbewusstsein ist alles gespeichert. Wichtig war die Rettung, das Geschenk einer Heimat für ein Kind, das sich selbst als verstoßen empfand. Wichtig waren die Liebe und die Geborgenheit, die ich erlebte. Wichtig war, dass ich beten lernte von Omi und Oma und dass sie mir Geschichten von Gott und von Jesus erzählten. Besonders die Advents- und Weihnachtszeit habe ich jedes Jahr als bunt und beglückend erlebt. Susanne und Elise brachten mir Gott und den Glauben nahe, sie nahmen mir meine Angst und waren daher echte Boten Gottes. Auch an anderen Menschen, etwa meinen Geschwistern, habe diese beiden Engel sehr viel Gutes getan. Womöglich sind Omas meistens Engel für die Enkel – umgekehrt können auch Enkel Engel für ihre Omas sein (das nennt man auch den „Engel-Trick“).
Robbie Williams hat in seinem Lied „Angels“ ganz sicher einen Schutzengel im Blick. Denn er singt darin: „And through it all / She offers me protection / A lot of love and affection / Whether I’m right or wrong / And down the waterfall / Wherever it may take me / I know that life won′t break me“. Auf Deutsch: „Durch dies alles bietet sie (die Engelin) mir Schutz / reichlich Liebe und Zuneigung / egal ob ich recht habe oder nicht / und wohin der Wasserfall mich auch treiben mag / weiß ich, dass das Leben mich nicht zerbrechen wird“. Ja, das tun die Schutzengel, so sind sie.
Natürlich gibt es erst recht Schutzengel, die unser Leben nur gerade mal streifen. Das ist vielleicht der häufigere Fall. So eine Begegnung hatte ich erst kürzlich, Anfang Oktober, als ich ein unheimliches Erlebnis der „dritten Art“ hatte: Mir kam unter mysteriösen Umständen meine Brieftasche abhanden – mit Geld darin, mit Personalausweis und Bankkarten. Ich war natürlich entsetzt, erstattete bei der Polizei Anzeige, suchte Fundbüros auf und bereitete mich auf höchst komplizierte Wiederbeschaffungsvorgänge vor. Acht Tage später tauchte die Geldbörse unter ebenso merkwürdigen Umständen wieder auf, wie sie verschwunden war. Es war alles darin, vielleicht fehlten ein oder zwei Geldscheine. Meine Frau meinte, da habe jemand wohl ein schlechtes Gewissen bekommen. Das kann so gewesen sein. Oder aber ein Schutzengel kam im Auftrag Gottes plötzlich in mein Leben und gab mir ganz persönlich das Portemonnaie zurück, um mein Leben nicht noch komplizierter zu machen, als es oft ist. Ich bin froh und dankbar, dass es so ausging. Was auch immer da passiert sein mag, Jahresendzeitfiguren kriegen so etwas sicher nicht hin.
Reisen
Eine Einladung zur Rückschau
Dieses Jahr hat mich gefordert. Ich sitze im Zug auf dem Weg zu einem vertrauten Ort, an dem ich Ruhe finden und Kraft tanken kann. Ich schaue in andere erschöpfte Gesichter. Dieses Jahr hat uns alle gefordert. Die Anspannung ist spürbar. Wir sind kollektiv betroffen.
Früher habe ich auf Bahnfahrten gerne das Gespräch gesucht. Die Spontaneität des Austausches war erfrischend, heiter, manchmal gar inspirierend. Doch etwas hat sich verändert – und es sind nicht allein weiße Masken, die Begegnungen erschweren. Der Zug ist voll. Wir reisen zusammen und bleiben doch mit uns allein.
Ich schaue aus dem Fenster. Eigentlich hatte ich einen Sitzplatz in Fahrtrichtung gewählt. Ich reise ungern rückwärts, sehe gerne, was vor mir liegt, was mich erwartet. Die Musik auf meinen Ohren besänftigt mich. Ich lehne mich zurück in meinen Sitz und genieße das geschmeidige Gleiten des Zuges, der sich mit scheinbarer Leichtigkeit seinen Weg durch eine Landschaft bahnt, deren Schönheit mich mit dem Moment versöhnt. Bunt gespickte Flussläufe, taufrische Wiesen und Täler ziehen an mir vorbei, eröffnen immer neue Perspektiven und überraschen mich mit einer farbigen Komposition, die mich staunen und ankommen lässt in der Bewegung des Reisens. Für das, was vor mir liegt, was ich in den kommenden Tagen suche, ist das rückwärtsgewandte Reisen doch eine willkommene Gelegenheit. Eine Einladung zur Rückschau.
(Kein) Getreide für alle
Hunger und Armut in Zeiten von Pandemie und Krieg
Es war endlich mal eine halbwegs gute Nachricht aus der Ukraine: Sieben Schiffe mit insgesamt 124.300 Tonnen Getreide an Bord haben die Häfen von Odessa, Tschornomorsk und Piwdenne in Richtung Europa und Asien verlassen – so meldete es das ukrainische Infrastrukturministerium am 24. Oktober 2022. Darunter befand sich auch ein vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gechartertes Schiff mit 40.000 Tonnen Weizen, die in den Jemen gebracht werden sollen, wo sie dringend benötigt werden.
Im Juli, als die Ukraine und Russland auf Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei ein Abkommen über den Export von Getreide schlossen, hatte UN-Generalsekretär António Guterres insofern von einem „Leuchtfeuer der Hoffnung“ gesprochen. Wie vor dem Krieg sollten wieder Frachtschiffe über das Schwarze Meer und den Bosporus fahren und den Weltmarkt beliefern. Am 29. Oktober 2022 allerdings, nur fünf Tage nach dem Start der besagten Getreide-Schiffe, hat Russland die entsprechende Übereinkunft mit der Ukraine bereits wieder aufgekündigt.
Das Zeitalter des Lebendigen
Eine neue Philosophie der Aufklärung
Von der französischen Philosophie gehen auch im 21. Jahrhundert immer wieder neue, bedeutende Anregungen aus. Die Namen Alain Badiou, Alain Finkielkraut und Jacques Rancière sind seit Langem bei uns bekannt. Nun gilt es, sich auch den Namen von Corine Pelluchon zu merken. Die in Paris wirkende Hochschullehrerin hat in ihrem jüngsten Buch vorgeschlagen, eine „neue Aufklärung“ auf den Weg zu bringen. Da schlägt einem der Aufklärung verpflichteten Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt das Herz gleich höher – nicht nur, weil er von seiner Landeskirche wie viele andere Kirchenmitglieder auch in diesem Herbst wieder eine „Impulspost“ zum Thema „Herzbegegnungen“ erhalten hat.
Das Krankenhaus als mediales Brennglas
Was wir von TV-Serien „lernen“ können
Wir steuern auf ein Jubiläum zu: die eintausendste Folge der ARD-Krankenhausserie „In aller Freundschaft“. Im Jahr 1998 hatte der MDR mit der Ausstrahlung der ersten Folge begonnen und den Zuschauer/innen die Türen der Sachsenklinik in Leipzig geöffnet. Eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, denn diese TV-Serie hat sich nahezu 25 Jahre lang die Gunst des Publikums erhalten und eine Fangemeinde aufgebaut. Doch wie gelingt so etwas? Wie kommt es, dass es gerade Geschichten aus dem Krankenhaus sind, in denen Patient/innen nach Unfällen und mit Erkrankungen eingeliefert werden, von denen der Einzelne selbst doch lieber verschont bleiben möchte? Oder sind es vielmehr die Einblicke in das Gefühlsleben von Ärzt/innen und Pflegekräften, die mit ihren Konflikten sowohl beruflich wie auch privat zu kämpfen haben? Was fasziniert daran? Was unterhält dabei? Wird auch etwas gelernt, oder kann der (zu häufige) Konsum von Krankenhausserien auch schaden?
Von Wahlen und Hausaufgaben
Es ist laut. Die Pause ist gerade vorbei. Der Klassenraum füllt sich. Vorne hängt die Tafel. Hier wird noch mit Kreide geschrieben. Gerade haben wir Assoziationen zum Thema Europa gesammelt. Jede und jeder hat ins eigene Handy getippt, was ihr oder ihm einfiel. Ein Onlineprogramm hat daraus eine bunte Wortwolke gemacht. Der Beamer projiziert sie über die blassen Kreidespuren auf der grünen Tafel: „Frieden“, „Demokratie“, „27 Länder“. Wer nähergeht, kann auch „Macht“, „Krieg“, „Deutschepass“ und „Hashish plantage“ dechiffrieren.
24. Juni 1922
Der Mord an Walter Rathenau und warum er uns heute beschäftigt
Vor 100 Jahren wurde Walter Rathenau, der damalige Außenminister Deutschlands, in Berlin auf offener Straße ermordet. Liberaler Politiker der Deutschen Demokratischen Partei, Industrieller und Schriftsteller, promovierter Ingenieur, der sich auf Elektrochemie spezialisiert hatte, Jude, der nicht zum Reserveoffizier befördert worden war, weil er Jude war, und der sich immer wieder antisemitischen Kampagnen ausgesetzt sah, seit er die politische Bühne betreten hatte. Walter Rathenau war der älteste Sohn des AEG-Firmengründers Emil Rathenau und seiner Ehefrau Mathilde, die aus der jüdischen Frankfurter Bankiersfamilie Nachmann stammte.
Es ist an der Zeit.
Alles scheint gerade gleichzeitig zu passieren. Es ist Krieg. In der Ukraine, aber nicht nur dort. Es ist noch immer Pandemie. Überall auf der Welt. Gleichzeitig befinden wir uns in der kritischen Phase, wenn wir die Klimakatastrophe verhindern wollen. In unserem Land ist immer mehr von Zerrissenheit und Spaltung die Rede. Populisten gewinnen an Zuspruch. Nicht nur bei uns. Wir haben mindestens eine handfeste Diktatur in den Reihen der EU.
Selbst für einen Menschen mit einer ordentlichen Portion Zuversicht und Hoffnung sind das ein paar Dinge zu viel gleichzeitig. Wo fangen wir an? Was ist gerade dran? Was kann warten? Eigentlich nichts. In der Eisenhower-Skala ist alles im Quadrant „dringend und wichtig“. Nichts kann verschoben, nichts delegiert werden.
Ein Impuls von Hanna-Lena Neuser
im Mai 2022
Der Apostel Paulus, Alain Badiou
und sein Lob der Mathematik
Alain Badiou, geboren 1937, ist einer der großen französischen Intellektuellen der Gegenwart. Der Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie in Bonn, Markus Gabriel, hält ihn sogar für den „derzeit wohl einflussreichsten französischen Philosophen“ überhaupt. In gewisser Weise aber ist er ein komischer Kauz: ein unbelehrbarer maoistischer Kommunist, ein Liebhaber der antiken griechischen (Platon) und der klassischen deutschen Philosophie (Kant, Hegel, sogar Heidegger). Außerdem ist er ein atheistischer Fan des Apostels Paulus, mit dessen Denken und Wirken er sich bereits in den 1990er-Jahren intensiv beschäftigte. Vor allem aber ist er ein so großer Fan der Mathematik, dass er ihr ein Loblied geschrieben hat und sogar meint, sie mache Menschen glücklich.
Neue Wege der Erinnerung
Oder: Was hat das mit mir zu tun?
Anfang dieses Jahres, am 6. Januar 2022, starb Trude Simonsohn. Sie hinterlässt eine Lücke. Trude Simonsohn, seit 2016 Ehrenbürgerin der Stadt Frankfurt am Main, hatte das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und gehörte zu den letzten noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Schoa. „Fragt uns, wir sind die Letzten“, forderte sie immer wieder auf, seitdem sie Ende der Siebzigerjahre als Zeitzeugin zu sprechen begann. „Passt auf, dass das nicht wieder geschieht, und sagt rechtzeitig und laut genug Nein“, so ihre Botschaft an die Menschen, zu denen sie sprach. Gerade heute, da weltweit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus wieder bedrohlich erstarken, da antisemitische Verschwörungserzählungen in der Pandemie einen unfassbaren Aufschwung erhalten, brauchen wir eine lebendige Erinnerungskultur. Doch Trude Simonsohn hatte Recht: In nicht allzu ferner Zukunft werden wir in einer „Zeit nach den Zeitzeugen“ leben.
Mann beißt Hund!
Wann ist eine Nachricht eine Nachricht? Wir schlagen bei Wikipedia nach und werden fündig. Ende des 19. Jahrhunderts soll John B. Bogart, Lokalreporter der New Yorker Zeitung „Sun“, die wohl am häufigsten zitierte Definition journalistischen Bestrebens geformt haben: „Wenn ein Hund einen Mann beißt, ist das keine Nachricht, weil es so häufig geschieht. Aber wenn ein Mann einen Hund beißt, ist das eine Nachricht!“ Ein berichtenswertes Ereignis muss also selten vorkommen, darf einen Überraschungseffekt haben und soll auch das Interesse wecken, weiterzulesen. Letzteres lässt sich mit einfachen Fragen erreichen, für deren Beantwortung die „Sun“ ebenfalls berühmt war. So hatte sich im Jahr 1897 eine Achtjährige an die Zeitung gewandt und um die Beantwortung jener Frage gebeten, die ihr Weltbild zu verunsichern drohte: „Gibt es einen Weihnachtsmann?“. Die bewegende Antwort im Leitartikel der Zeitung wird bis heute in der Weihnachtszeit immer wieder abgedruckt.
Jugend, Weltschmerz, Hoffnung
Meine Reise durch den Kaninchenbau
Ein verregnetes Winterwochenende. Ich hänge die Wäsche zum Trocknen auf. Kleine Socken und bunte Pullis. Das große Kind leistet mir Gesellschaft. Offensichtlich aus Langeweile, aber ich genieße es trotzdem. Ausnahmsweise erzählt es von sich und seinen Gedanken. „Mama“, fragt es, „können wir eine Papiertüte mitnehmen, wenn wir später rausgehen?“ „Klar“, sage ich und überlege, was man mit einer Papiertüte Lustiges anstellen kann. „Papiertüten sind nämlich nur besser als Plastiktüten, wenn man sie mehr als einmal benutzt“, kommt die Antwort, und gleich spüre ich zwei Gefühle in meiner Brust. Freude darüber, dass mein Kind so schlau und verantwortungsbewusst ist; dass es etwas für die Umwelt machen will und sich darüber Gedanken macht, was wir als Familie tun können. Und gleichzeitig Sorge. Sorge um die Zukunft dieses Kindes und darüber, wie es ihm gehen wird, wenn es in ein paar Jahren noch besser versteht, was auf unserem Planeten los ist.
Abkehr vom Absoluten
Über den Wunsch nach einer anderen Diskurskultur
Der Advent und die Tage „zwischen den Jahren“ sind oft die Zeit, in der Menschen über das vergangene Jahr nachdenken und sich das neue Jahr vorstellen – und meist kommt man zu dem Schluss, dass es eigentlich nur besser werden kann. Gerade in Zeiten wie diesen. In der Akademie schauen wir auf ein ereignisreiches Jubiläumsjahr zurück. 75 Jahre Akademiearbeit mit dem Auftrag, den gesellschaftlichen Diskurs zu stärken. Doch wie steht es heute um unsere Diskurskultur?
In einem Gastbeitrag in der Sächsischen Zeitung vom 22. November stellt Dr. Roger Hillert, Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie in Görlitz, eine sehr treffende Frage: „Können wir es weiterhin akzeptieren, dass Impfärzte als Mörder tituliert werden und Impfskeptiker als kriminelle Dummköpfe?“ Hillert spricht eine der Konfliktlinien an, an denen sich zeigt, wie polarisiert aktuell Diskurse geführt werden. Es gibt oft nur noch zwei Meinungen, die sich aus der Perspektive der Beteiligten diametral gegenüberstehen: „meine“ Meinung und „die falsche“. Unter diesen Voraussetzungen kann ein Diskurs nicht gelingen. Wenn wir nicht bereit sind, einander zuzuhören, braucht es nämlich gar keinen Diskurs. Dann ist schon vorher alles gesagt.
Wohin schauen wir?
Über Afghanistan (hinweg)
Haben Sie die letzte Folge der „Anstalt“ gesehen? Da die Satireshow die Grundlage für unser Format „Humor ist …“ ist, schaue ich jede Sendung mehrfach. Und es ist wie in einem Wimmelbild: Man entdeckt bei jedem weiteren Schauen immer noch neue Details und Facetten. In der letzten Sendung vom 5. Oktober 2021 ging es um traumatisierende Momente der Geschichte. Nein, ich meine nicht das Ergebnis der Bundestagswahl und auch nicht die Regierungsbildung. Ich meine die Situation in Afghanistan. Vor 20 Jahren begann dort „der längste Krieg“, wie der Autor Emran Feroz ihn in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. Der Krieg gegen den Terror. Damals war Feroz, selbst Kind afghanischer Eltern, gerade einmal elf Jahre alt.
Über 170.000 Tote. Es dürften deutlich mehr sein, denn es wurde erst 2009 angefangen, die Zahl der Kriegsopfer zu erheben. Die lange Geschichte des Afghanistankriegs erlangt in diesem Jahr einen neuen, düsteren Höhepunkt, als der Abzug der US-Truppen für ein Chaos sorgt, das seinesgleichen in der Geschichte sucht. Am Ende stehen Afghanistan und alle Menschen, die dort leben – Kinder, Frauen, Männer, Mütter, Großväter, Brüder und Schwestern – vor einem unvorstellbaren Scherbenhaufen. Verzweiflung, Vergewaltigung, Verderben.
Neubesinnung auf den Wert der Nation
31 Jahre Deutsche Einheit werden dieses Jahr am 3. Oktober gefeiert. Diesen Anlass greifen wir einen Tag später mit einer Akademieveranstaltung auf. „Zur Lage der Nation“, so der etwas staatsmännisch anmutende Titel. Er ist angelehnt an die Reden gleichen Titels, die die Bundeskanzler der alten Bundesrepublik Deutschland früher einmal jährlich im Bundestag vortrugen. Drei Jahrzehnte lang, von 1968 bis 1989, gab es diese traditionelle Ansprache, in der es um eine Bestandaufnahme zur Lage der deutschen Teilung ging. Nachdem am 3. Oktober 1990 die Deutsche Einheit vollzogen war, wurde das Ritual aufgegeben. So als ob es mit der überwundenen Teilung Deutschlands obsolet geworden wäre.
Leitung in der Politik
Überlegungen in einem Wahljahr
Wenn am 26. September 2021 ein neuer Bundestag gewählt wird, steht längst fest, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach 16 Jahren ihr Amt abgeben wird. Kandidat/innen für ihre Nachfolge sind: Armin Laschet (geboren 1961) für die CDU/CSU, Annalena Baerbock (geboren 1980) für Bündnis 90/Die Grünen und Olaf Scholz (geboren 1958) für die SPD. Wer am Ende siegen wird, hängt von mehreren Faktoren ab: von der politischen Großwetterlage, von den Grundwerten der zur Wahl stehenden Parteien, von den konkreten Wahlprogrammen, von taktischen Erwägungen der Wähler/innen und vielem mehr. In Teilen aber wohl auch von der persönlichen Integrität und Leistungsfähigkeit der jeweiligen Kandidat/innen – besser gesagt davon, wie die Wähler/innen diese einschätzen.
Schmerzen, Eva und die Zukunft des Händeschüttelns
Angesichts dieses Jubiläums müssten alle auf die Knie fallen: Könige, Bettler, Anwälte, Bäuerinnen, Studenten, Schwangere, Minister, Handwerkerinnen, Junge und Alte. Kaum etwas ist vergleichbar mit dieser Errungenschaft, deren wir in wenigen Wochen am 16. Oktober gedenken: 175 Jahre Anästhesie!
Körperliche Schmerzen waren über Jahrtausende ein Problem der Menschheit. Und auch wenn die Beseitigung von Schmerzzuständen bis heute nicht vollständig gelöst ist, so markieren doch die Ereignisse in den USA im Herbst 1846 einen nicht zu unterschätzenden, epochalen Einschnitt: Der Bostoner Zahnarzt William Thomas Green Morton (1819–1868) ließ im Massachusetts General Hospital einen Patienten Ätherdämpfe einatmen, wodurch ermöglicht wurde, dass der Chefarzt der Chirurgie, John Collins Warren, ihm in einer schmerzfreien Operation einen Tumor am Hals entfernen konnte.
Verhärtete Fronten
Über die Tücken und Folgen der Identitäts- und Rassismusdebatten
Die Brisanz der aktuellen Rassismusdebatten zeigt ein Blick in die Schlagzeilen: Die Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman führt zu hitzigen Diskussionen darüber, wer für wen sprechen darf. Die Debatte um die Rückgabe der als Raubgut geltenden Benin-Bronzen an Nigeria polarisiert. Jens Lehmann verliert nach einer rassistischen Chatnachricht seinen Posten bei Hertha, und die Grünen prüfen nach Rassismusvorwürfen ein Parteiaustrittsverfahren gegen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.
Hadija Haruna-Oelker attestiert Deutschland eine neue Rassismusdebatte. Am 22. Juli 2020 schrieb sie in einem Artikel für die Heinrich-Böll-Stiftung:
„Dass ein weißer Polizist den Schwarzen George Floyd nicht mehr atmen ließ, hat vieles in Bewegung gebracht. Nicht nur auf den Straßen in den USA. Groß erscheint die Entschlossenheit vielerorts, mit Rassismus aufzuräumen. Auch in Deutschland hat die Dekolonialisierungsbewegung einen Schub erhalten. (…) Nach Corona wird in den Redaktionen Rassismus das Top-Thema 2020.“
Politische Bildung für wen?
Von Verzweiflung, Beunruhigung und dem Drang nach Trotzigkeit
Der aktuelle 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt sie in den Fokus: politische Bildung. „Das wichtigste Ziel politischer Bildung ist, jungen Menschen demokratische Prinzipien wie Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit oder den Schutz von Minderheiten zu vermitteln.“ So kommentiert Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Fokussierung auf dieses Thema.
Auf allerhöchster politischer Ebene ist also etwas angekommen, das Praktiker:innen aus dem Bereich der politischen Bildungslandschaft schon seit jeher klar ist: Politische Bildung ist ein wichtiges Element einer gesunden und stabilen Gesellschaft. Viele Menschen setzen sich seit Jahrzehnten mit Herzblut dafür ein, dass politische Bildung stattfindet und viele Menschen erreicht – zum Teil unter immer schwieriger werdenden strukturellen und finanziellen Bedingungen. Gelder werden gekürzt (oder schon seit Jahren nicht angemessen erhöht), es wird in Projektlogik gefördert, langfristige Perspektiven werden dadurch unmöglich gemacht. Politische Bildung wird in Lehrplänen, in der Lehrerausbildung und im Stundenplan minimiert oder ganz gestrichen, Träger politischer Jugendbildung müssen um ihren Status der Gemeinnützigkeit kämpfen.
Zwischen Erinnerungskultur, Antisemitismus und Gegenwartsbewältigung
Der Film „Masel Tov Cocktail“
Wie es sich anfühlt, heute als Jude in Deutschland aufzuwachsen, davon handelt der Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ (Regie: Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch). Am Anfang stand für die beiden Regisseure die Frage, was sie aus einer subjektiv jüdischen Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft mitteilen wollen und wie sie das in 30 Minuten vermitteln können. Entstanden ist ein temporeicher Film, der sich mit Witz und Ironie den unterschiedlichen Facetten des Themas widmet und der filmästhetisch überzeugt.
Es geht um die Wahrnehmungsdifferenz von Juden und Nichtjuden, um die Zuschreibungen, denen Jüdinnen und Juden im heutigen Deutschland immer wieder begegnen, und um das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es ist ein dichter Film, der Spaß macht und zugleich ein ernstes Thema verhandelt. Das sei ihm wichtig gewesen, sagt Regisseur Arkadij Khaet. Denn Lachen entkrampft.
Hauptfigur ist der Abiturient Dimitrij Liebermann, genannt Dima. Er ist Sohn russisch-jüdischer Eltern, die zu Beginn der 1990er-Jahre als Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Aufgewachsen ist Dima im Ruhrpott, in einer Hochhaussiedlung. Weil er es satthat, sich judenfeindliche Provokationen anzuhören, die seine Menschenwürde beleidigen, setzt er sich eines Tages gegenüber einem Mitschüler zu Wehr und schlägt diesem mit der Faust ins Gesicht. Nun soll Dima sich entschuldigen.
Friede für Afrika
Hoffnung ist, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal sagte, „ins Gelingen verliebt“. Wenn Menschen etwas erreichen wollen, dann brauchen sie auf dem Weg zu ihrem Ziel immer auch Erfolgserlebnisse. Wenn schon nicht große Narrative, dann mindestens kleine Beispielgeschichten, die zeigen, dass unser Leben und Wirken gelingen kann, dass nicht alles umsonst ist, was geschieht, dass wenn schon nicht alles, so doch einiges besser werden kann auf der Welt, in der wir leben. Zweifellos bildet die Befreiung Südafrikas von dem Regime der Apartheid zu Beginn der 1990er-Jahre ein positives Beispiel dafür, dass die Geschichte eines Landes in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit verlaufen kann. Die Namen Nelson Mandela (1918–2013) und Desmond Tutu (* 1931) stehen symbolisch für den seinerzeit errungenen Erfolg einer Befreiungsbewegung.
Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Dieser Frau haben wir unendlich viel zu verdanken: zum einen die Erforschung der Ursachen der Krebsentstehung, zum anderen die Tatsache, dass Medikamente gegen Brustkrebs, Leukämie und Parkinson entwickelt werden konnten – ebenso wie ein Polioimpfstoff. Ihre Zellen waren bei den ersten Raumflügen dabei, weil man wissen wollte, wie sie sich unter den Bedingungen der Schwerkraft verhalten. Sie war die erste Frau, die „unsterblich“ wurde, und dennoch blieb sie weitgehend unbekannt. Ihr und ihrer Familie blieb die gebührende Anerkennung lange verwehrt.
Im vergangenen Jahr wäre Henrietta Lacks, die Frau, von der wir hier sprechen, 100 Jahre alt geworden. Nun jährt sich bereits ihr Todestag zum 70. Mal. Doch was genau macht die so jung Verstorbene „unsterblich“? Wie kommt es, dass ihr bis heute viele Patient/innen das Leben verdanken?
No Love
Über verlernte Nächstenliebe und gute Vorsätze
Dezember. Adventszeit. Noch nicht ganz Zeit der Besinnung, aber Zeit des großen Vorbereitens und der Vorfreude. Normalerweise Zeit für Besorgungen und gründliches „Fertigmachen“ vor den Ferien, aber auch für einen Glühwein mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt. Für mich immer die Zeit, wenn ich – mit einem nostalgischen Seufzen – meine schwedischen Rezepte heraushole und mit den Kindern Pfefferkuchen und Safranbrötchen backe. Wir gehen ins Lucia-Konzert und singen die Lieder, die ich aus meiner Kindheit kenne. Die Tickets für das Zusammenkommen unserer internationalen Familie aus drei Ländern sind normalerweise längst gebucht. Vergangenes Jahr traten wir die Reise im Zug an, hatten mit Verspätungen zu kämpfen und verpassten fast den Anschluss. Aber wir kamen an. Das Fest der Liebe konnte beginnen.
Und dieses Jahr: Was traut man sich? Was ist realistisch, was erlaubt, was zu riskant? Die schwedische Gemeinde hier in Frankfurt bietet einen digitalen Weihnachtsmarkt an. Schön. Aber Heiligabend im Digitalformat – bitte nicht! Zum ersten Mal fühle ich mich von meinem Elternhaus und meinen kleinen Nichten unfreiwillig abgetrennt und isoliert. Meine Schwester, die in England lebt, scherzt: Vielleicht feiern wir am 25. Dezember einfach eine Fiesta Mexicana mit Tacos und Sombreros, damit wir nicht dasitzen und trauern müssen, dass ein „richtiges“ Weihnachten nicht möglich war. Ob das die Lösung ist?
Wer ist reif für die Demokratie?
Warum genau jetzt die Zeit sein könnte, das Wahlalter zu senken
2020 ist das Jahr der Jubiläen. Vor 300 Jahren wurde Baron Münchhausen geboren, vor 200 Jahren Friedrich Engels, vor 100 Jahren Johannes Paul II. Richard von Weizsäcker und Marcel Reich-Ranicki wären dieses Jahr beide 100 geworden. Wir feiern das Beethoven-Jubiläum, die Wiedervereinigung, und wir schauen seit 50 Jahren Tatort. Das Vermächtnis von besonderen Menschen und historischen Ereignissen lässt uns jubilieren, gedenken und ihre Wichtigkeit würdigen.
Aber dank Heribert Prantl wurde mir ganz mulmig im Bauch, als ich in seiner Kolumne vom 26. Juli 2020 erfuhr, dass wir ein wirklich wichtiges Ereignis in unserem Jubiläumskalender völlig übersehen hatten: Vor genau 50 Jahren wurde in der Bundesrepublik das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt. Prantl beschreibt sehr lesenswert, in welcher Zeit und unter welchen Bedingungen diese politische Entscheidung getroffen wurde.
Welche Gründe gab es, das Wahlalter anzupassen? Welche Argumente wurden ausgetauscht? Ein wesentlicher Aspekt war damals das ambitionierte Projekt des noch ziemlich „amtsjungen“ Bundeskanzlers Willy Brandt. „Mehr Demokratie wagen“ – vor ziemlich genau 51 Jahren hat er das erstmalig als Credo seiner Politik verkündet. Mehr Demokratie, das geht auf verschiedenen Wegen. Eine Rolle spielt das Ausmaß der Beteiligung, nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ. Je mehr Menschen wählen dürfen, desto mehr Demokratie, so könnte man verkürzt sagen.
„Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen“
Das Leben von Ruth Bader Ginsburg
Dass die Welt amerikanischer Frauen heute eine andere ist als vor fünfzig Jahren, dazu hat Ruth Bader Ginsburg maßgeblich beigetragen. In einem Interview sagte sie einmal: „Obwohl wir nicht im Nirwana angekommen sind, haben wir doch viel erreicht.“ Ihr Leben lang kämpfte die amerikanische Verfassungsrichterin für die Gleichstellung der Geschlechter. Sie setzte sich auch immer wieder für Männer ein, die soziale Benachteiligung erfuhren. Etwa als es darum ging, einem Witwer für die Betreuung seines Sohnes die gleichen Steuervergünstigungen zu verschaffen, die Frauen zustanden, ihm aber von der Finanzbehörde verweigert wurden.
Auf einem Schild an der Tür ihres Büros in Washington, so heißt es, habe der biblische Vers „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen“ aus dem 5. Buch Mose gestanden. Er entsprach ihrem Credo, das sich in ihrem Handeln widerspiegelte. Authentizität, sachliche Strenge und Beharrlichkeit sowie das Eintreten für liberale Werte und soziale Gerechtigkeit, das waren Eigenschaften, die Ruth Bader Ginsburg ausmachten. Sie trugen ihr die Anerkennung quer durch die Generationen ein und verliehen ihr während des vergangenen Jahrzehnts geradezu Kultstatus, vor allem bei jüngeren Menschen. 1993 hatte Bill Clinton sie als Verfassungsrichterin an den obersten amerikanischen Gerichtshof berufen, als erste jüdische Frau und zweite Frau überhaupt in diesem Amt. 27 Jahre lang übte sie dieses Amt aus, bis zuletzt. Am Freitag, 18. September 2020, ist die legendäre Verfassungsrichterin im Alter von 87 Jahren an den Folgen von Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben.
„Jesus ist nicht weiß“
Erinnerung an Martin Stöhr
Im Jahr 1981 war ich als junger Theologiestudent erstmals auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain zu Gast. Dabei lernte ich Martin Stöhr, den damaligen Akademiedirektor, kennen. Drei Jahre später hielt er ein theologisches Seminar an der Philipps-Universität Marburg. Ich schrieb bei ihm eine Seminararbeit über „Paul Tillich in der Weimarer Republik“ und erhielt dafür die Note „sehr gut“, was mir das „Kleine Luther-Stipendium“ der EKHN einbrachte. Immer wieder während meines Berufswegs – als Pfarrer der Frankfurter Kreuzgemeinde, als Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD in Hannover, als Reformationsbeauftragter der EKHN, zuletzt als Studienleiter der Evangelischen Akademie Frankfurt – kreuzten sich unsere Wege. Wir hatten immer freundliche Begegnungen und fruchtbare Gespräche miteinander. Bis Martin Stöhr vergangenes Jahr im Dezember starb. Mit diesem Text möchte ich an ihn erinnern.
Am 30. August dieses Jahres (2020) wäre er 88 Jahre alt geworden. Sein bewegtes Leben begann im Sommer 1932 in einem evangelischen Pfarrhaus in Singhofen im Taunus. Genau fünf Monate später, am 30. Januar 1933, gelangte Adolf Hitler an die Macht. So war die gesamte Kindheit Stöhrs vom Nationalsozialismus und vom Zweiten Weltkrieg überschattet. Da sein Vater zur Bekennenden Kirche gehörte, nahm der Junge das Dritte Reich in seiner ganzen Unmenschlichkeit wahr. Auch prägte ihn ein Erlebnis, das sich im Jahr 1944 ereignete: Ein englischer Flieger war abgestürzt. Martin Stöhr gehört zu einer Handvoll Kinder, die den toten Piloten entdeckten. Er war ausgezogen, einen Feind zu suchen – und fand einen wehrlosen, toten Menschen, der das Foto seiner Frau und seiner Kinder in den Händen hielt. Diese Szene berührte ihn sehr, wie er mir einmal erzählte.
Des Doktors Dilemma
Ethische Fragen in Zeiten knapper Ressourcen
Der irische Dramatiker George Bernard Shaw hatte im Jahr 1906 ein prägendes Erlebnis im Untersuchungslabor des St. Mary’s Hospital in London. Zu dieser Zeit versuchte der britische Pathologieprofessor Almroth Wright einen Impfstoff gegen die gefürchtete Tuberkulose zu entwickeln, wobei die klinische Methode der Impfung zur damaligen Zeit unter britischen Ärzten heftig umstritten war und nur wenige Forscher darin eine Erfolg versprechende und verantwortbare Zukunft sahen.
Sir Almroth erläutert gerade seinem Freund Bernard Shaw die Methode der Impfung, da wird der angesehene Arzt unterbrochen und gefragt, ob ein bestimmter Patient – nennen wir ihn hier Herr X – auch mit der neuen Methode behandelt werden könnte. Sofort entsteht unter den Anwesenden im Labor eine hitzige Diskussion, und deutlicher Unmut macht sich breit. Von Überlastung des kleinen Forscherteams ist die Rede – und dass Herr X es „nicht wert“ sei, angesichts der knappen Ressourcen behandelt zu werden. Bernard Shaw, zur damaligen Zeit schon ein bekannter Theaterkritiker und erfolgreicher Bühnenautor, wird hellhörig. Er wittert den dramatischen Stoff, der sich ihm in dieser Szene offenbart: Darf der Arzt darüber entscheiden, ob das Leben eines Menschen „erhaltenswert“ ist? Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer behandelt werden soll, wenn die medizinischen Ressourcen nicht für alle ausreichen?
Shaw erkennt, wie er später selbst schreibt, dass man diesen realen Fall nur noch auf einen „sehr interessanten Patienten mit einem moralisch extrem fraglichen Soll-und-Haben-Stand und vielleicht noch einer sehr attraktiven Ehefrau zu übertragen brauchte, um das Dilemma des Arztes praktisch unlösbar und folglich hochdramatisch zu machen“. Innerhalb von nur vier Wochen bringt er das Stück The Doctor’s Dilemma zu Papier, das am 20. November 1906 im Royal Court Theatre in London mit großem Erfolg uraufgeführt wird.
Meckert ruhig!
Alles ist anders als sonst, inzwischen schon seit vielen Wochen. Wie wir arbeiten, wie Kinder betreut und unterrichtet werden, wie das soziale Leben und unsere Freizeit sich gestaltet, was Solidarität heißt und wo sie gezeigt wird, was uns beschäftigt, Sorgen bereitet oder auch freut. Es fasziniert mich, wie stoisch wir als Gesellschaft mit den Lockdown-Maßnahmen umgegangen sind und wie diszipliniert wir uns nun auf das Maskentragen und die Regeln des schrittweisen Lockups einstellen. Sowohl in der öffentlichen Berichterstattung als auch in privaten Gesprächen ging es meinem Eindruck nach wochenlang um das, was man auf Englisch silver lining nennt: den Silberstreif am Himmel, das kleine Glück im Unglück. Natürlich ging es auch um das Virus, die Erkrankten, „flatten the curve“ und die befürchteten Wirtschaftsfolgen. Aber auch um alles, was spontan aus dem Boden gestampft wurde, um einander zu helfen, sich zu unterstützen und in Kontakt zu bleiben: Nachbarschaftshilfe, Einkaufsdienste, Online-Kniffelspiele und digitales Bierchentrinken.
Die fehlende Bildung und Kinderbetreuung allerdings beschreiben manche Eltern mir gegenüber öfter als „nervig“. Oder sie lassen durchscheinen, dass sie mit den Nerven am Ende sind, um sich gleich darauf zu entschuldigen: Das sei ja „Meckern auf hohem Niveau“. Immerhin lebten sie in einer Demokratie, seien (noch) gesund, könnten raus, hätten schönes Wetter … Eine Bekannte im Ausland, die wegen der Krise ihren Job verloren hat, meinte gar, nun müsse sie ja immerhin nicht mehr den Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung hinkriegen. Uff!
Wo kämen wir hin?
Von Corona lernen heißt neue Wege gehen
Sicher kennen viele dieses Zitat von Kurt Marti (1921–2017), einem Schweizer Pfarrer und Schriftsteller:
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.
Angeregt durch eine Andacht, in der wir das Gedicht gemeinsam als Kanon sangen, habe ich eine Weile darüber nachgedacht, was es in konkreten Fällen aussagen könnte. Was wäre, wenn wir uns aufmachen würden, die Klimaziele tatsächlich zu erreichen? Was würde passieren, wenn wir alle vehementer gegen Rassismen, Verschwörungstheorien und Hassparolen Stellung beziehen würden? Was wäre in unserer Gesellschaft los, wenn wir auf Dinge verzichten würden, die nachweislich der Umwelt, dem Gemeinwohl und dem Frieden schaden? Was wäre, wenn?
Und dann, während ich darüber nachdachte, kam Corona. Ich will hier und heute gar nicht über die Gefahren, die gesellschaftlichen Auswirkungen, die berechtigte Sorge, die Hamsterkäufe, die Verschwörungstheorien und all das schreiben. Dazu gibt es genug schlechte und gute Beiträge, die in den Medien zu finden sind.
Was mich bewegt, ist die Beobachtung, dass in der Ausnahmesituation, in der wir uns befinden, gerade auch etwas anderes entsteht. Etwas Neues. Eine zuweilen erstaunliche Parallelität von Stillstand und Dynamik. Offline und online gleichzeitig. Absagen und Ansagen.
Das Mädchen von der Südseite Chicagos
Wenn die Gegenwart unübersichtlich und entmutigend erscheint, hilft mitunter der Blick auf vergangenes Gelingen, um daraus Impulse für Künftiges zu schöpfen. Das Buch von Michelle Obama ist so ein Buch. Es ist klug, und es inspiriert. „Becoming. Meine Geschichte“, so lautet der Titel der deutschen Übersetzung. Die Autorin erzählt, wie sie in einfachen Verhältnissen in Chicago aufwuchs, wie sie an der Seite des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten die erste afroamerikanische First Lady wurde. Zu den wesentlichen Dingen, die sie im Leben gelernt habe, gehöre, wie man die Macht der eigenen, authentischen Stimme benutzt. Sie habe ihr Bestes gegeben, um die Wahrheit auszusprechen und Licht auf die Geschichten von Menschen zu werfen, die oft marginalisiert würden. Das „Werden“ im Titel des Buches lässt sich als Credo der Autorin deuten, dass es nicht nur um die Erinnerung an Vergangenes geht, sondern dass sich in dem Blick zurück stets etwas Zukünftiges andeutet, etwas, das im Werden begriffen ist, auch wenn man es gegenwärtig noch nicht erkennt.
Ist der Gottesdienst tot?
Der katholische Kommunikationsprofi Erik Flügge rät in einer seiner neuesten Veröffentlichungen der evangelischen Kirche, sie solle vor allem drei Dinge tun, um wieder mutiger in die Zukunft gehen zu können: Erstens prominente Personen wie Margot Käßmann an die Spitze ihrer Institution stellen. Zweitens die Bibel fortschreiben – neue Texte müssten her, die alten seien verbraucht! Und schließlich, drittens, den Gottesdienst hinter sich lassen. Oder jedenfalls die Illusion, dieser könne das Zentrum der Gemeinde sein. Flügges Urteil ist vernichtend: „Sie können am Format des Gottesdienstes so viel drehen, wie Sie wollen! Ihre Gottesdienste sind tot. Sie werden nicht mehr lebendig.“
Nun kann man Flügges These, die Kirche brauche Promis an der Spitze, gerne so hinnehmen. Das kann man machen. Es ist aber grundsätzlich Sache der Synoden und Kirchenleitungen, ihr Spitzenpersonal so zu bestimmen, dass es kompetent, glaubwürdig und ausstrahlkräftig ist.
Flügges zweite Aussage, wir müssten die Bibel fortschreiben, ist leicht als eine Variante der urkatholischen Forderung „et scriptura et traditio“ („sowohl die Bibel als auch die Tradition“)zu entziffern. Also das Argument, das sich gegen Luthers Forderung „sola scriptura“ („allein die Schrift“) richtet. Natürlich sagt die Bibel uns nicht, wie wir mit dem Klimawandel umgehen sollten. Sie lehrt uns aber Grundsätze, die wir dann auf die gegebenen Situationen und Kontexte anwenden können. Etwa, dass wir eine Verantwortung für Mitmenschen und Mitgeschöpfe haben.
Problematisch, ja fatal ist meiner Meinung nach aber vor allem Flügges dritte These bezüglich des Gottesdienstes. Und zwar auch deshalb, weil die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in ihrer Studie „Faktoren des Kirchgangs“ scheinbar Flügges Sicht der Dinge stützt. Denn sie empfiehlt den Gemeinden, über den Fortbestand des Sonntagsgottesdienstes offen zu diskutieren. Für viele sei der traditionelle Sonntagsgottesdienst – so das Ergebnis der Studie – nicht (mehr) attraktiv.
So weit, so schlecht, könnte man meinen. Schlägt für den Gottesdienst also die letzte Stunde? Zumindest für den regelmäßigen Sonntagsgottesdienst in jeder Kirchengemeinde?
Aliens im Weltraum Gottes
Plädoyer für eine Theologie mit weitem Horizont
Was ist der Mensch? Das ist nicht nur der Titel eines Anthropologie-Büchleins des Theologen Wolfhart Pannenberg (1928–2014), sondern eine unsere ganze Existenz betreffende Frage. Naturwissenschaftlich gesehen lässt sich grob sagen, dass der Mensch eine funktionstüchtige Einheit vieler Systeme darstellt. Er ist im Besitz eines Stütz- und Bewegungsapparats, im Inneren mit Organen und dem Nervensystem ausgestattet, und seine Sinnesorgane sind Teil eines Steuerungssystems für wichtige Körperfunktionen. Über solches Bildungswissen verfügte der Beter von Psalm 8 noch nicht. Und doch scheinen mir auch seine alten Worte darüber, was der Mensch sei, nach wie vor bedenkenswert. Denn sein betendes Fragen nach dem Menschsein des Menschen hing für ihn (noch) aufs Engste mit der Frage zusammen, wie Gott zu seiner Schöpfung und zum Menschen im Besonderen steht. Ergriffen von den unendlichen Weiten des Weltraums fand er Worte, die einem Gotteslob gleichen:
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast …
Gebrochene Figuren
Über Krisen und Burn-outs in aktuellen Serien
Das Krankenhaus steht im Kino als eine der letzten Institutionen für klare Werte. Dies trägt sicherlich auch zur verbreiteten Beliebtheit der Krankenhausserien im Fernsehen bei („In aller Freundschaft“, „Die jungen Ärzte“, „Der Bergdoktor“ etc.). Neben diesen eher beruhigenden Beispielen sind in der letzten Zeit zahlreiche Filme und Serien entstanden, die beunruhigende Zwischentöne beinhalten und in denen das ethische Handeln der Akteure auf die harte Probe gestellt wird. Dazu zählen auch Kriminalfilme und -serien. Wird beispielsweise jemand Opfer sexueller Gewalt, ermittelt die Polizei, und das Opfer erhält im Krankenhaus ärztliche Versorgung. Wie nun in dieser – für alle Beteiligten emotional belastenden – Situation die Gesprächsführung verläuft, dient dramaturgisch dem Zweck, dem Zuschauer den Charakter, die Feinfühligkeit und Sensibilität des Arztes, der Pflegekraft oder des Kriminalbeamten vor Augen zu führen. Auffallend ist, dass nahezu alle Protagonisten der modernen Serien, die mit belastenden Phänomenen wie Verbrechen, Krankheit, Sterben und Tod zu tun haben, gebrochene Figuren sind. So erfahren wir in einigen Serien wie „Die Toten von Turin“ (I 2015–2018), dass die Akteure entweder bereits einen Burn-out hinter sich haben, oder wir erleben mit, wie sie in den Strudel der Belastungen geraten. Selbst die modernen Kino- und Comic-Helden bleiben davon nicht verschont und haben ihre Krisen, oder sie sind auf Zusammenarbeit und Unterstützung angewiesen.
Steine im Glashaus
Wer fängt an, wenn es ums Klima geht?
Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Nichts stört uns so wie Mitmenschen, die Moralpredigten halten, aber ihre Forderungen selbst nicht befolgen. Ich werde jetzt einen Stein im Glashaus werfen. Und zwar so:
Ich finde, wir sollten uns alle nachhaltiger verhalten und gewissenhafter konsumieren. Das sind wir dem Planeten und kommenden Generationen schuldig. Doch jetzt kommt’s: In den Urlaub flog ich zuletzt mit dem Flugzeug. Als Familie besitzen und nutzen wir ein Auto. Zu Hause haue ich Bratwürste in die Pfanne – manchmal dreimal in der Woche. (Für das Letzte müssen Sie bitte Verständnis aufbringen. Ich habe einfach keinen Nerv mehr für das „Iiih, eklig!“, das ich von den Kindern für meine hausgemachten Gemüsepfannen und Linseneintöpfe ernte. So etwas hält auf Dauer niemand aus.)
Ich tröste mich damit, dass meine Heuchelei immerhin kleiner ist als die von Leuten, die mit dem SUV zum Ökoladen fahren. Wenigstens sind die Bratwürste bio, und ich selbst bleibe beim Linsengericht. Trotzdem fühle ich mich nicht getröstet. Irgendwie bezweifle ich, dass meine sechsjährige Tochter sich mit zwölf oder vierzehn noch daran erinnern wird, wie viel sie früher über das Essen jammern konnte. Was werde ich ihr bloß antworten, wenn sie dann fragt, warum ich nicht mehr für das Klima unternommen habe: „Wo warst du, Mama, als die Jugendlichen auf die Straße gingen, um unsere Zukunft zu retten?“ Ich will nicht, dass meine Antwort „in der Küche beim Bratwurst-Grillen“ lautet.
ICH ODER WIR ODER WAS?
VON RISSEN IN HOSEN UND IN UNSERER GESELLSCHAFT
Es gibt eine Menge Modetrends, die fragwürdig sind. Zum Beispiel zerrissene Jeans. Was lange Zeit als Grund galt, Hosen zu entsorgen oder schlimmer: alberne Aufnäher zu applizieren, ist heute Geld wert. Ja! Es gibt Menschen, die für diese Risse extra Geld ausgeben. Verrückt. Aber wahr. Und nun kann man das bescheuert finden, aber es ist ein Trend, eine Mode, die nicht wenige Menschen gut finden.
Auch in unserer Gesellschaft gibt es Trends. So diagnostiziert beispielsweise Andreas Reckwitz der aktuellen Gesellschaft den Trend der „Singularität“ als prägendes Phänomen der Spätmoderne. Der Kultursoziologe beschreibt in seiner Arbeit einen gesellschaftlichen Trend, der sich bereits seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts abzeichnet und sich stetig manifestiert: der Trend weg vom Wir und hin zum Ich.
UNBEDINGT SEHENSWERT!
WARUM WIR „FILME DES MONATS“ AUSZEICHNEN
Filme verändern unseren Blick auf die Welt und auf uns selbst. In der Bildungsarbeit kommt ihnen eine bedeutende und immer beliebtere Rolle zu. Ergänzend zu der intellektuellen, diskursiven Beschäftigung mit einem Thema vermitteln sie nichtkognitive Zugänge, indem sie unsere sinnliche Wahrnehmung ansprechen. Filme erzählen individuelle Schicksale und Geschichten, seien es fiktionale oder reale, die uns ein Fenster zur Welt öffnen – wie auch zu uns selbst. Sie ermöglichen neue Einsichten in noch nicht bedachte Aspekte eines Themas, machen fremde Perspektiven anschaulich. Das Archiv der „Filme des Monats“ kann als einzigartige Quelle für all diejenigen dienen, die in der Bildungsarbeit oder Gemeindearbeit tätig sind. Wer beispielsweise eine Filmreihe zu einem Thema zusammenstellen möchte oder nach einem inhaltlich passenden Film sucht, wird hier fündig.
EIN „D-DAY“ FÜR DIE AUFKLÄRUNG
GEGEN BARBAREI UND VÖLKISCHE PARANOIA
„… verwunden mein Herz mit eintöniger Mattigkeit“ – als vor 75 Jahren diese Worte aus einem Gedicht des französischen Dichters Paul Verlaine (1844–1896) in der BBC erklangen, begann in der Nacht zum 6. Juni 1944 die Invasion der englischen und amerikanischen Truppen in der Normandie: der D-Day oder „Der längste Tag“. Damit rückte das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und des Zweiten Weltkriegs in greifbare Nähe. Das bedeutete Hoffnung für viele Menschen in Europa und darüber hinaus – darunter zahlreiche aus Deutschland geflüchtete Menschen, nicht zuletzt Menschen jüdischer Herkunft. Unter den in die USA Geflüchteten waren auch die beiden Sozialwissenschaftler und Philosophen Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969), zwei Gründungsväter der sozialphilosophischen „Frankfurter Schule“. Ihre Anstrengung zur Überwindung des Nationalsozialismus war eine groß angelegte philosophische Untersuchung, die in den letzten Maitagen des Jahres 1944 abgeschlossen wurde. Der Name: „Dialektik der Aufklärung“.
Wohnst du noch oder demonstrierst du schon?
Die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, bestimmt im Moment weite Teile des gesellschaftspolitischen Diskurses. Dieser Diskurs – oder besser die entsprechenden Teildiskurse – umfasst Fragen zu explodierenden Mieten in den Ballungsräumen, zur Digitalisierung unserer Lebensbereiche, zur Zukunft von Mobilität und Energie, Inklusion und Zuwanderung. Unter den Vorzeichen globaler Herausforderungen und dem sich immer deutlicher abzeichnenden Klimawandel heißt die Frage heute für viele nicht mehr nur, welchen Lebensstil wir uns leisten wollen, sondern welchen Lebensstil wir uns in Zukunft noch leisten können. Immer mehr Menschen sind bereit, für diese Themen auf die Straße zu gehen.
TEENAGER IM INTERNET
IHRE MEDIEN, UNSERE FRAGEN
Wie wirkt sich die Medialisierung unserer Gesellschaft auf die Mediennutzung von Jugendlichen aus? Welche Veränderungen können wir in den letzten 20 Jahren beobachten, und was bedeuten sie für Menschen, die mit Jugendlichen arbeiten oder zusammenleben? Wie gut gerüstet sind sie für eine Welt voller Fake News, Propaganda und Hassbotschaften? Wie gut gerüstet sind wir für die Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, mit Reizüberflutung und ständiger Erreichbarkeit umzugehen? Basiswissen für diese Diskussion liefert uns unter anderem die Studie „Jugend, Information, Medien“ (JIM), die seit 20 Jahren das Mediennutzungsverhalten von Zwölf- bis Neunzehnjährigen in Deutschland untersucht.
ETHISCHE FRAGEN ZUR GERECHTEN GESUNDHEITSVERSORGUNG
In den aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten spielt die Frage nach der gerechten Verteilung der Mittel eine entscheidende Rolle. Ob Rente oder Bürgergeld, stets wird die Frage der gerechten Verteilung aufgeworfen. Die Gesundheitspolitik bildet hierbei keine Ausnahme. Welche Leistungen von den Krankenkassen bezahlt werden sollen, welche Zuzahlungen geleistet werden müssen, wer schneller einen Arzttermin bekommt – sofort stellt sich die Frage, ob die Regelung gerecht sei. Wer die Hoffnung hegt, dass Philosophie und Ethik schnell und eindeutig entscheiden könnten, sieht sich enttäuscht. Das liegt nicht darin begründet, dass die Geisteswissenschaften keine Vorstellung von „Gerechtigkeit“ hätten, sondern dass es viele konkurrierende Vorstellungen gibt, die untereinander nicht kompatibel sind. Ein einfaches Beispiel macht dies deutlich.
„DAS WILL ICH SO NICHT!“
GEDANKEN ZUR STREITKULTUR
Während ich mich zurzeit auf das Jahresthema „Streit! – Demokratie“ unserer frisch besetzten Jungen Akademie vorbereite, komme ich an den Begriffen trotzdem, Trotz, Trotzigkeit nicht vorbei. Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn es um den Streit zwischen vorzugsweise jungen Menschen geht? Ich sehe wildes Gestikulieren, abwehrend verschränkte Arme, einen aufstampfenden Fuß. Trotzverhalten eben. Was in der realen Situation – zum Beispiel von Eltern – vielleicht als eher nervige und anstrengende Situation empfunden wird, kann mit anderen Augen ins Positive gewendet werden. Denn nur wer eine feste Meinung entwickelt hat, kann sie auch vertreten. Im Streit. Zur Not sogar körperlich durch einen markanten Tritt auf den Boden.
TROTZDEM!
VON DER GEISTLICHEN KRAFT ZUM WIDERSTAND IN EINER VERRÜCKTEN WELT
Es sind drei Fragen, die mich zurzeit beschäftigen. Drei Fragen, die in besonderer Weise zusammenhängen: 1. Was hilft uns als Gesellschaft, mit „Krisen“ umzugehen, den vermeintlichen wie den wirklichen? 2. Was gibt mir (und anderen Menschen) die innere Kraft zu widerstehen? 3. Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert protestantisch an Gott zu glauben? […] Gerade angesichts der „Krisen“ unserer Zeit und angesichts der offensichtlichen Notwendigkeit, dass ich lebe, denke, handle, ist es notwendig, dass wir Gott und Glauben als letzten Grund des eigenen Widerstands neu ins Spiel bringen. Darum soll es beim Schwerpunktthema der Akademie in diesem Halbjahr gehen: „Trotzdem!“
HALBZEIT
DIE KONGRESSWAHLEN UND DAS „ECHTE AMERIKA“
Die amerikanischen Kongresswahlen vom 6. November 2018 wurden mit Spannung erwartet. Sie gelten als Stimmungsbarometer für die Zustimmung der US-Bevölkerung zur Politik des Präsidenten, da dessen Handlungsfähigkeit maßgeblich von der Sitzverteilung im Senat und im Repräsentantenhaus abhängt. […] Paul Krugman, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Wirtschaftswissenschaftler und Kolumnist der New York Times, hat eine Erklärung dafür, wie das enttäuschende Abschneiden der Demokraten im Senat zu beurteilen ist, wo diesmal nur wenige Sitze neu zu besetzen waren. In einer viel beachteten Kolumne, die am 9. November 2018 in der Zeitung erschien, kommt er zu folgendem Schluss: Die Tatsache, dass die Demokraten im Kongress die Mehrheit errungen hätten, sei ein deutliches Zeichen dafür, dass Donald Trumps Politik von der Mehrheit der Amerikaner nicht gutgeheißen, ja sogar verabscheut werde.
RELIGION ALS OPIUM?
MIT MARX, GEGEN MARX, ÜBER MARX HINAUS
Es gibt ein weit verbreitetes Vorurteil darüber, was Karl Marx (1818–1883) über Religion dachte: Er habe sie als „Opium für das Volk“ verurteilt und energisch bekämpft. Die Regierung der DDR bekämpfte unter Berufung auf ihn die Christinnen, Christen und ihre Kirchen, und schaffte es, ein einstmals christlich – hauptsächlich protestantisch – geprägtes Land in eine religiöse Ruinenlandschaft zu verwandeln, einer der zahlreichen Pyrrhus-Siege des sozialistischen Regimes. Der Befund zu Marx ist allerdings viel differenzierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sein Verhältnis zur Religion war kompliziert und vielschichtig, mindestens ambivalent. Es war einerseits wohlwollender und andererseits kritischer, als dies im öffentlichen Bewusstsein präsent ist.
DAS FLÜSTERN DES STERNENHIMMELS
Bilder vom nächtlichen Sternenhimmel gehören kulturgeschichtlich zu den stärksten, die die Menschheit besitzt: Es sind Bilder, die zutiefst mythisch und religiös aufgeladen sind – und zwar vermutlich in allen Kulturen und epochenübergreifend. Bilder, die eine Ahnung des Unendlichen und Unfassbaren in sich tragen, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Dimension. Bilder, die Fragen nach unserer Existenz, dem Ursprung des Lebens und dem Wohin unseres Daseins aufwerfen und Gedanken über das große Ganze evozieren. Bilder aber auch, die Freiräume für unser Denken ermöglichen.
SCHON VON DER „GENERATION PAY GAP“ GEHÖRT?
Dass es eine „Gender Pay Gap“ gibt – also eine Lohnlücke zwischen Frauen und Männern –, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, dass eine ähnliche Lücke auch zwischen den Einkommen der älteren und jüngeren Generationen in unserer Gesellschaft klafft. Über diese „Generation Pay Gap“ redet bisher kaum jemand. Warum ist das so? Warum ist es nicht in aller Munde, dass das Lebenseinkommen nicht allein von den eigenen Anstrengungen abhängt, sondern auch davon, wann man geboren wurde? Vielleicht deshalb, weil es uns bislang gar nicht bewusst war? Oder deswegen, weil es vor allem die Jüngeren trifft, die politisch schlechter repräsentiert sind?
FACTFULNESS
WARUM ES SICH LOHNT, FÜR EINE BESSERE WELT ZU STREITEN
Was denken Sie? Ist die Welt in den letzten 20, 50 oder 100 Jahren im Ganzen gesehen besser oder schlechter geworden? Oder blieb alles gleich – „same procedure as every year“? Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten und die Verkünder des Postfaktischen feiern zurzeit auch deshalb in vielen Ländern große Erfolge, weil sie die Weltwirklichkeit in einem äußerst düsteren Licht zeichnen. Und weil sie ihre Energie aus der tiefen, dumpfen Angst vieler Menschen beziehen, nicht nur der „Untergang des Abendlandes“ (Oswald Spengler), sondern die Apokalypse, das Ende der Welt, stehe gleichsam unmittelbar bevor. Fast jede Nachrichtensendung, die wir sehen, bestätigt unser Gefühl, es gebe immer und überall (auch in unserem Land) nur mehr Unglücke, Katastrophen und Verbrechen. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus.
KEINE DEMOKRATIE OHNE WACHSAMKEIT
Wer hätte je gedacht, dass die liberale Demokratie noch einmal so auf dem Prüfstand stehen würde wie heute. Dass wir im 21. Jahrhundert noch einmal derart um sie kämpfen und uns für sie engagieren müssen, damit sie gegen sämtliche aktuellen Anfechtungen attraktiv und zukunftsfähig bleibt. Die rechtsautoritären Bewegungen in Deutschland, Italien, Frankreich und weiteren europäischen Ländern zeigen, dass Demokratie in Europa keineswegs selbstverständlich ist. Sie kann gefährdet sein, wie man an den Entwicklungen in Polen und Ungarn sieht. Im schlimmsten Fall kann sie sogar wieder verschwinden, wie es in den 1920er-Jahren vor allem in Italien und 1933 in Deutschland geschah.
Zum Kern der Sache vordringen
Es ist derzeit wohl die brisanteste ethische Frage. Es geht nicht um selbstfahrende Autos oder Plastik in den Weltmeeren. Es ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen und hätte Auswirkungen auf ewig. Einmal umgesetzt kann es nicht wieder zurückgeholt werden. Ob es das angestrebte Ziel erreicht oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen hervorruft, kann mit letzter Sicherheit nicht ausgeschlossen werden. Den Ärzten und Wissenschaftlern steht eine Technik zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen könnte, schwerste genetische Erkrankungen, für die es bisher keinerlei Heilung gab, kausal so zu behandeln, dass nicht nur der Patient von dieser Erkrankung geheilt wird, sondern er oder sie diese Erkrankungsanlage nicht mehr an seine oder ihre späteren Nachkommen weitergeben werden.
Wertvolle Jugend
Kürzlich habe ich nach einer Definition des Begriffs „Jugend“ gesucht. Genauer gesagt: Ich habe verzweifelt nach einer Definition von „Jugend“ gesucht, in der 37-Jährige noch mitzählen, aber die gibt es leider nicht. Also beim besten Willen: Ich gehöre zu der Altersklasse leider nicht mehr dazu. Allein von Berufswegen bin ich jedoch vielleicht dennoch in der Lage, etwas zur Jugend zu schreiben.
Über „Rubens: Kraft der Verwandlung“
Eine Ausstellung im Städel Museum Frankfurt
Er war ein barocker Superstar in den katholischen Niederlanden. Ein Künstlergenie und ein Malerfürst, wie man ihn sich vorstellt, mit einer großen Werkstatt und entsprechender Anzahl von Assistenten. Er war nicht nur künstlerisch erfolgreich, sondern auch auf dem diplomatischen Parkett. Mehrfach wurde er mit politischen Missionen betreut. So handelte er beispielsweise 1629/30 den Friedensvertrag zwischen England und Spanien aus. Mehrfach und in unterschiedlichen Ländern wurde er zum Ritter geschlagen und geadelt. Weltgewandt und überaus sympathisch, ein ebenso herzlicher wie überschwänglicher Mensch, wie seine Briefe und Zeitgenossen bezeugen. Er war DER Hofmaler der spanischen Habsburger, er hat bedeutende Arbeiten für die Jesuiten geschaffen, und seine Malerei transportiert eben auch stark Ideen der Gegenreformation.
Ein neuer Aufbruch für Europa?
Einige Menschen hat es überrascht, wie viel Platz einer „Erneuerung der EU“ im Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD eingeräumt wurde. Steht – mit Merkel, Macron und Juncker – die alte Machtstruktur aus der Zeit Kohls, Mitterrands und Delors an der Spitze Europas wieder auf? Ist dies der Startschuss für die Konsolidierung der Eurozone, wenn gleich die Form dafür noch ausgehandelt werden muss? Das sehen andere eher skeptisch. Noch sind es nur schöne Wörter. Solche können CDU und CSU sich leisten, solange es genug andere Mitgliedsstaaten gibt, die die großen Pläne noch ausbremsen können. Inwieweit ein neuer Aufschwung für die europäische Integration zu erwarten ist oder nicht, wird sich frühestens in den nächsten Monaten herausstellen.
Christus oder: die Revolution Gottes
Weltverwandlung durch Gottesverwandlung
Wenn man einen Begriff aus einem Sachgebiet in ein anderes überträgt (Abduktion), erschließen sich oftmals kreative, neue Einsichten – sowohl im Blick auf das Sachgebiet, als auch im Blick auf den Begriff. Im Gedenkjahr 2018 wird an Revolutionen aus verschiedenen Jahrhunderte erinnert: 1618, 1848, 1918, 1968. Der Begriff dient aktuell oft dazu, um einen radikalen und rapiden sozialen Wandel zu beschreiben, der mit intensiven, z. T. gewaltsamen Konflikten einhergeht (so eine Revolutionsdefinition von R. Dahrendorf). Klassisches Beispiel ist dafür etwa die Rede von der digitalen Revolution. Theologisch interessant wird es nun, wenn man den historischen, gesellschaftspolitischen Begriff der Revolution auf die Vorstellung von Gott überträgt.
Lernbereitschaft auf allen Seiten
Eine Frage, die wir uns Ende September sicher reflexartig alle gestellt haben: Wie kann es sein, dass eine Partei, die Fakten verdreht und Thesen vertritt, die – wie wir dachten – so weit weg von dem geltenden politischen „Anstand“ sind – in den Bundestag einzieht? Haben wir – die „Guten“ – nicht allen gesagt, wie falsch diese Politik ist? Wie groß die Gefahr des Populismus ist? Haben die AFD-Wähler kein Geschichtsunterricht gehabt? Unfassbar, dass es so viele Menschen gibt, die die einfachen Antworten für die Wahrheit nehmen und deshalb AFD wählen! Und das, wo wir uns so viel Mühe gegeben haben, den Diskurs auf reflektierte Weise zu führen und auf die Fragen der „Wutbürger“ einzugehen.
Wir müssen reden
Die Bundestagswahl ist schon seit Wochen vorbei, aber die Auseinandersetzungen haben gerade erst begonnen. Der Eklat auf der Buchmesse, als Kritik und Proteste gegen Veranstaltungen rechter Verlage mit Gewalt beantwortet wurden, und der Streit um die Deutung der Vorfälle zeigen die Verunsicherung und Uneinigkeit deutlich. Wie können wir mit diesem Aufstieg rechten und rechtsextremen Gedankenguts umgehen?
Ein Impuls von Mirjam Jekel
im November 2017
Neustart Demokratie / Neustart Evangelische Akademie
Eine transatlantische Perspektive
„Wenn Du es leid bist, mit Fremden im Internet zu streiten, dann versuch doch mal, mit einem davon im wirklichen Leben zu sprechen.“ (Barack Obama, Abschiedsrede am 11. Januar 2017)
Selten zuvor traten die Folgen gesellschaflicher Polarisierung so drastisch zutage wie mit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten im November vor einem Jahr.
Was von „Luther“ bleiben sollte
Endspurt in der „Reformationsdekade“: Nur wenige Wochen sind es noch bis zum 31. Oktober 2017, dem einmaligen Feiertag, an dem Staat, Gesellschaft und Kirchen in der Bundesrepublik sich an das Ereignis „Reformation“ erinnern, das sich symbolisch an jenem 31. Oktober 1517 festmachen lässt: dem Tag, an welchem Martin Luther (1483-1546) seine 95 Thesen gegen den Missbrauch des Ablasses veröffentlichte. Dass er sie eigenhändig an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt hätte, mit wuchtigen Hammerschlägen gar, das wird heute bezweifelt. Dass er sie jedoch versandte und sie eine breite Öffentlichkeit erreichten, das ist ebenso unstrittig wie die bekannten historischen Folgen. Zu diesen gehört wesentlich die Entstehung evangelischer Kirchen.
Mehr Kunst im öffentlichen Raum
Ein Plädoyer
Mitte Juni nahm ich an einer Veranstaltung anlässlich des Anne-Frank-Tages in Frankfurt am Main teil, bei der es um die Frage von Kunst im öffentlichen Raum ging, einer Frage, der wir auch in der Akademie immer wieder nachspüren. Der öffentliche Raum wird zunehmend vereinnahmt, Freiräume werden beschnitten. Argumentiert wird dabei zum einen mit Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit gegenüber einer wachsenden Terrorgefahr und damit einhergehend dem Wunsch nach einer stärkeren Überwachung des öffentlichen Raumes. Es sind aber auch handfeste ökonomische Gründe, die den öffentlichen Raum der Stadt einschränken, ihn zunehmend kommerzialisieren und privatisieren lassen, ein Phänomen, das vor allem in den Citys, den absoluten Innenstadtlagen der Großstädte und Ballungsräume zu beobachten ist.
Zellen der Freiheit
„Freiheit“ ist ebenso hohes und wertvolles wie vielschichtiges und schwieriges Gut. Jeder will frei sein, niemand unfrei. Zentrale Freiheitsrechte wie Handlungs-, Gewissens-, Religions-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit u.a. sind als Schutz des Einzelnen auch gegenüber dem Staat bewusst an den Anfang des Grundgesetzes gestellt – als Basis einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung. Auch theologisch steht Freiheit zugleich am Anfang und im Zentrum des Glaubens. Der Exodus, die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, stellt die Urerfahrung des jüdischen Glaubens am Anfang der Geschichte des Volkes Israels dar. Das Kreuz Christi ist das christliche Symbol der Freiheit von Sünde, Tod und Teufel. Anknüpfend vor allem an Paulus hat Luther seine Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) formuliert – mit der paradoxen Doppelpointe: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemanden untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Das erste gilt, da er in Christus im Glauben lebt und „über sich“ in Gott fährt; das zweite, da er in der Liebe im Nächsten lebt und aus Gott „unter sich“ fährt.
Die Entzauberung der Welt
In den aktuellen medizinethischen Debatten ist ein „Unbehagen an der Kultur“ spürbar. Neben sorgenvolle Bedenken treten hier jedoch auch hoffungsvolle Ausblicke und die Wiederbesinnung auf frühere Entdeckungen. So hatte sich kürzlich eine Konferenz in den USA mit dem Verhältnis von „Medizin und Religion“ beschäftigt und dabei in ihrer thematischen Ausrichtung auf den deutschen Soziologen und Ökonom Max Weber zurückgegriffen, der bereits vor knapp 100 Jahren die „Entzauberung der Welt“ prognostiziert hatte. Was Weber damals zuerst 1917 in seinem Vortrag und zwei Jahre später in seiner Veröffentlichung „Wissenschaft als Beruf“ ansprach, hat sich über das letzte Jahrhundert in der westlichen Welt nachdrücklich entfaltet:
Das Postfaktische nicht fürchten
Beiträge zum Projekt einer doppelten Aufklärung
Die Vernunft ist derzeit weltweit in der Defensive. „Postfaktisch“ wurde in Deutschland zum „Wort des Jahres“ 2016 gewählt, so wie kurz zuvor „post-truth“ für den englischen Sprachbereich. Das Wort bezeichnet unter anderem die Verbreitung von gezielten Falschinformationen und Verschwörungstheorien im Internet und in sozialen Medien, die Millionen Menschen das Gehirn vernebeln. Hinzu kommen „alternative Fakten“, ein anderes Wort für wahrheitswidrige Propaganda. Wahrheit und Unwahrheit, Fakten und Fiktionen sind für viele Menschen heute kaum noch unterscheidbar. Daran hat das Internet, haben social media ihren Anteil an Schuld. Politisch bildet sich diese Situation etwa im Sieg des USamerikanischen Milliardärs Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen in den USA mit all seinen problematischen Folgewirkungen ab.
GROSSE WORTE, GROSSE WIRKUNG?
Wir erleben eine Zeit, in der das gesellschaftliche Zusammenleben auf vielen Ebenen vor Herausforderungen steht. Es ist nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass es so ist – und es wird nicht das letzte Mal sein. Nichtsdestoweniger und als Kinder unserer Zeit erfordert es die aktuelle Lage, aktiv zu werden. Ein schlichtes „Weiter so!“ geht nicht.
Metaphysik
Metaphysik lautete der Titel der letzten Ausgabe der Quartalszeitschrift „Kunst und Kirche“ im Dezember 2016. „Metaphysik“, schrieb Hannes Langbein im Editorial zu dieser Ausgabe, „bedeutet Grenzüberschreitung: über die Physis, über die sinnliche Wahrnehmung der materiellen Welt hinaus … – Dennoch oder gerade deshalb haben sich Menschen – zumal Philosophen und Theologen – immer wieder darangemacht, diese Grenzen zu überschreiten, auf der Suche nach einem großen Ganzen, nach ersten Gründen, zeitlosen Prinzipien, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält“.
„Gnade“
Woraus leben wir
„Gnade“ ist ein eigenartiger, etwas verstaubter Begriff, aus den Kellerräumen des kollektiven Sprachgebrauchs. Er kommt meist nur noch in pathetischen Film-Szenen („Gnade!“) oder altertümlichen Wendungen vor: Gnaden-Brot, Gnaden-Gesuch, Gnaden-Frist, … Sein Gegenteil ist da schon eher vertraut, etwa bei Akten gnadenloser Gewalt. Zugleich reden wir aber auch von Gnade, wenn es um Erfahrungen außerordentlichen Glücks geht: etwa die besondere Begabung eines begnadeten Künstlers oder das überwältigende Geschenk, wenn einem ein Kind geboren wird.
„Lutherjahr“ 2017
Ein wenig Melanchthon tut uns allen gut!
Wer in einer evangelischen Akademie arbeitet, steht immer auch in der Tradition des großen Humanisten und Reformators Philipp Melanchthon (1497-1560). Dieser war ohne Zweifel der beste Freund Martin Luthers (1483-1546). Und ihre Freundschaft war eine zwischen ebenbürtigen Personen, die in der Geistesgeschichte einen vorderen Rang einnimmt. In dieser Freundschaft war Luther der Ältere, der Führende, der Prophet und Charismatiker. Melanchthon war der Jüngere, der Geführte, der überragende Wissenschaftler und pedantische Arbeiter. Beide lernten sich kennen, als der junge Gelehrte 1518 an die Wittenberger Universität berufen wurde. Er galt zu diesem Zeitpunkt als Wunderkind, war humanistisch hoch gebildet und unglaublich sprachbegabt. Luther beherrschte zwar das Lateinische recht gut, aber Melanchthon war in allen Sprachen brillant und lehrte Luther auch das Griechische. Im Hebräischen überragte er Luther weit, so dass dieser immer wieder aus dem philologischen Füllhorn des Jüngeren schöpfte. Luther hatte sich 1517 mit seiner Kritik am Ablass weit vorgewagt.
Enhance yourself!
Von der Selbstliebe zum Selbstbild zur Ethik des Friedens
Der Dalai Lama: ein Mann, der ein Geflüchteter ist. Ein Mann, der seine Heimat verließ, vertrieben, bedroht, verfolgt. Er betet für seine Feinde und politischen Gegner. Er lebt Nächstenliebe auf sehr eindrückliche Weise. Und was mich besonders berührt: Er bringt dies mit einer Leichtigkeit zum Ausdruck, er lacht viel, er erscheint so unglaublich unverbittert, dass es kaum zu fassen ist. Wie macht er das? Könnte man lernen, ein bisschen zu sein wie er? Umfragen zeigen, dass er für über 20 Prozent der Deutschen ein geistiges Vorbild ist. Vorbilder: Was machen wir mit ihnen? Wir suchen sie uns manchmal gar nicht aus. Sie sind einfach da. Sie faszinieren uns und mir geht es manchmal so, dass ich zunächst gar nicht genau weiß, warum diese Personen so beeindruckt.
Gärtner – Mörder – Gott
Gott und der Ursprung des Bösen im Krimi
„Ich wälze die Verantwortung ab. Aus dem gleichen Grund greifen die Menschen, die abends beruhigt einschlafen wollen, zu einem Krimi, weil er eine der großen metaphysischen Fragen befriedigt: Whodunit? – „Wer war’s?“ Das betrifft die Bibel ebenso wie den Krimi. In der Bibel ist das Problem hochkomplex, im Krimi ist die Lösung einfach.“
Die eingangs zitierten Worte von Umberto Eco stammen aus einem Interview mit der ZEIT im Herbst letzten Jahres (2015/39). Sie beschreiben die enge Beziehung zwischen Bibel und Krimi im Blick auf die Wirklichkeit des Bösen – und dem Versuch seiner Bewältigung durch Klärung der Schuldfrage.
Die Popularität des Kriminalromans ist augenfällig: Schätzung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zufolge ist jedes vierte Buch, das über den Ladentisch geht, ein Krimi und jeder dritte Euro im Bereich von Belletristik wird mit Mord und Totschlag verdient. Doch wie sieht die Lösung der Krimis eigentlich aus und ist sie tatsächlich so einfach? Wie verhält sie sich zu biblischen Deutungsmustern? Und auf wen zielt die Frage „Wer war’s?“ eigentlich genau: Auf den menschlichen Verbrecher, der so etwas tut, auf den allmächtigen und allgütigen Gott, der so etwas zulässt, oder auf die Strukturen, die Erziehung oder die Gesellschaft, die zu so etwas führen?