„Rache“ in Oper, Literatur und Film
Die Tagung analysierte das Phänomen der „Rache“ aus interdisziplinärer Sicht. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Rache nicht nur im antiken Drama beschrieben, sondern bis heute auch Thema im Gerichtssaal ist: reale Straftaten, bis hin zum Mord, werden aus Rache („niedere Beweggründe“) begangen. Erinnern wir uns nur an den Fall Marianne Bachmeier, die den Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschießt, oder an sogenannte „Ehrenmorde“. Ob in zwischenmenschlichen Beziehungen, der Arbeitswelt oder in der Politik: bis heute lebt die Rache als eine Antwort des Menschen auf erlittene Ungerechtigkeit.
Zu Wort kamen bei der Tagung u.a. Juristen, Philosophen, Mediziner, Ethiker, Literatur-, Film- und Kulturwissenschaftler. Jedem Referenten standen 90 Minuten inklusive Diskussionszeit zur Verfügung, was eine intensive Auseinandersetzung mit der vorgetragen Thematik ermöglichte. Besonders zu erwähnen in Hinblick auf die Zusammensetzung der Teilnehmer ist, dass die Tagung in Kooperation mit der Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht der Justus-Liebig-Universtät Gießen stattfand und neben Herrn Prof. Dr. jur. Bernhard Kretschmer auch Mitarbeiter seines Lehrstuhls und Studierende der Rechtswissenschaft teilnahmen.
Freitag
Nach einer Einführung zum Phänomen der Rache durch Herrn Prof. Dr. phil. Kurt Bayertz vom Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, folgte der erste Beitrag durch den Literatur- und Filmwissenschaftler Prof. Dr. Matthias Hurst vom Bard College in Berlin. Prof. Hurst ordnete den Film Blinde Wut (Originaltitel „Fury“, USA 1936) in das Gesamtwerk des Regisseurs Fritz Lang ein, der 1934 aus Deutschland in die USA emigrierte. Blinde Wut war Langs erster Spielfilm in den USA und schildert die beklemmende Wandlung des unbescholtenen Bürgers Joe Wilson, der zu Unrecht der Entführung eines Mädchens bezichtigt wird, in einen zornigen Rächer. Ein aufgestachelter Mob (bis dato „unbescholtene Bürger“ allen Alters, Geschlecht und sozialer Stellung) war zur Lynchjustiz bereit, steckte das Gefängnis in Brand, in dem der Verdächtige Joe Wilson den Tod zu finden scheint. Durch eine glückliche Fügung konnte er jedoch unerkannt entkommen und will sich nun in gnadenloser Verbitterung an seinen Peinigern rächen.
Der Film lässt Grundelemente erkennen, die mit der Rache häufig verbunden sind:
- Rache ist eine Antwort des Menschen auf erlittenes Unrecht.
- Die Zivilisation mit ihrer Gerichtsbarkeit hat Verfahren etabliert, die den Zwang zur Rache vom Opfer loslöst und der Rechtsprechung zuweist.
- Ziel der Rechtsprechung ist nicht „blinde Wut“ (Rache), sondern Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Es soll ein Ausgleich geschaffen werden.
- Maßgeblich für das westliche Verständnis ist das alttestamentarische „Auge und Auge, Zahn um Zahn“, das nicht auf Vergeltung aus ist, sondern auf eine Unterbrechung der Eskalation der Gewalt. Die Rache soll eben nicht zu einer größeren Verletzung führen als die erlittene.
- Bevor die Rechtsprechung etabliert war, müssen andere „Gesetze“ dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit wieder hergestellt wird (das ist der klassische Hintergrund des Western-Genre, denn dies spielt in der Welt der frontier, dem neu eroberten Westen, in dem die Zivilisation mit Gesetzbuch, Richtern, Gesetzeshüter, Gefängnis u.ä. weder vollständig etabliert noch von den Bürger/innen vollständig akzeptiert ist).
- Nachdem die Rechtsprechung in der Gesellschaft etabliert und allgemein akzeptiert ist, muss (und darf) der Einzelne seine Rache nicht mehr selbst ausführen. Wenn „das System“ jedoch versagt, der Täter zwar überführt, aber bspw. durch Verfahrensfehler freigesprochen werden muss, bleibt das Bedürfnis nach Rache und Vergeltung unbefriedigt. Für die Literatur und den Film ein „klassischer“ Ausgangspunkt, der den friedfertigen Einzelnen zum Rächer werden lässt. Fritz Langs Film „Blinde Wut“ beschreibt diese Situation: Joe Wilson ist zutiefst enttäuscht:
- „Das Gesetz weiß nicht, dass viele Dinge, die mir wichtig waren – alberne Dinge, wie der Glaube an Gerechtigkeit, die Vorstellung, dass alle Menschen zivilisiert sind, und das Gefühl des Stolzes auf mein Land, das anders sei als all die anderen – das Gesetz weiß nicht, dass diese Dinge in jener Nacht in mir verbrannten.“
Samstag
Am Samstag Vormittag widmete sich Prof. Dr. phil. Horst-Jürgen Gerigk von der Universität Heidelberg, der Rache des „Grafen von Monte Christo“. Gerigk verwies darauf, das Peter Sloterdijk in seinem Buch „Zorn und Zeit“ (Frankfurt/M., 2006) dem Trieb nach Rache nachgeht. Für Sloterdijk hat Alexandre Dumas mit der Gestalt des Grafen von Monte Christo eine moderne Ilias geschaffen, einen Helden, der von Neidern und Karrieristen denunziert wird, vierzehn Jahre unschuldig im Gefängnis sitzt, um nach seiner Flucht ausschließlich für die Erfüllung seiner Rachepläne zu leben.
„Titel und Handlungsverlauf des Romans ließen keinen Zweifel daran, daß Dumas die Geschichte eines Messias erzählen wollte, der wiederkehrte, um Rache zu üben“ (Zorn und Zeit, S. 275).
Auch hier ist es „das gesellschaftliche System“, das korrupt ist. Der zu Unrecht Verurteilte versucht sich mit legalen Mitteln Recht zu verschaffen, doch er findet kein Gehör. Fortan lebt er nur für die Rache.
Wie in Blinde Wut verändert dieser Drang nach Rache das Wesen und den Charakter des Protagonisten Edmond Dantès, der nach seiner Flucht den märchenhaften Schatz seines früheren Mitgefangenen findet und zum geheimnisumwitterten Grafen von Monte Christo wird.
Wie sehr die Rachegedanken das Wesen der Menschen geradezu vergiftet, hat kaum jemand eindrücklicher dargestellt als William Shakespeare. Dr. phil. Marga Munkelt vom Englisches Seminar der Wilhelms-Universität Münster und ausgewiesene Shakespeare-Expertin, analysierte verschiedene Rachemotive, aber auch Erkenntnisse etwa bei Macbeth, dass die Folgen seiner schrecklichen Mördertaten auf ihn selbst zurückfallen werden („Blood will have blood“)
Der Samstag Nachmittag stand ganz im Zeichen der Rachemotive in der Oper. Auf den ersten Blick scheint es, dass das Recht stets versucht habe, Rache einzudämmen. So ist das alttestamentarische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gerade kein (!) Aufruf zur Rache (wie vielfach mißverstanden), sondern es geht hierbei um die Eindämmung ausufernder Rache: es soll „nur“ das gleiche Maß an Vergeltung zur Anwendung kommen wie in der Tat und nicht mehr! Nun hat kürzlich Philipp Ruch in einer bemerkenswerten Studie gezeigt (Ehre und Rache, Frankfurt 2017), dass das antike Racherecht nicht nur ein Zuviel an Rache ahndete und die überschäumenden Affekte zügeln wollte, sondern auch ein Zuwenig! So gab es Gesetze, die bei einem Ehebruch verlangten, dass nicht nur den Ehebrecher, sondern auch die Frau – selbst wenn sie vergewaltigt wurde – umgebracht werden musste. Das heißt: das antike Recht genehmigte nicht nur eine gewalttätige Rache – es verlangt sie sogar, es „presste sie ab“. Das führt zu einer steilen These: Die Geschichte des Rechts kann nicht einfach nur als Geschichte der Kultivierung und Domestizierung physischer Gewalt erzählt werden, sondern im Übergang von homerischer zu archaischer Zeit wurde die Rachegewalt erst durch das Recht hervorgerufen! In Aischylos’ Orestie bzw. Orest in der Oper von Richard Strauss’ Elektra wird dies deutlich: Auch wenn der Sohn seinen ermordeten Vater nicht rächen will: das Recht verlangte die Rache. Ob die Rache – wie Ruch darlegt - gerade keine (!) anthropologische Größe ist, kein unentrinnbarer menschlicher Affekt, sondern ein Rechtskonstrukt, wurde bei der Tagung diskutiert.
Anhand von zwei Beispielen wurde die Spannbreite der musikalisch vermittelten Stimmung und dramaturgischen Inszenierung in der Oper deutlich: Prof. Dr. phil. Niko Strobach vom Philosophisches Seminar der Wilhelms-Universität Münster, ging der Rache in Richard Strauss’ Elektra nach, Prof. Dr. phil. Kurt Bayertz der Rache der Frauen in Mozarts Don Giovanni und setzte es in Beziehung zur aktuellen #MeToo-Debatte. Denn im Gegensatz zum häufigen Mißverständnis handelt es sich bei Mozarts Don Giovanni keineswegs um einen strahlenden Frauenhelden, denn er ist kein Sympathieträger. Aber er beeindruckt und entwaffnet alle durch seine Unverfrorenheit, mit der er sich alles nimmt, was er kriegen kann. Als er den Vater von Donna Anna tötet, schwört diese Rache, doch ihre Rache muss ebenso lange auf sich warten, wie die anderer Frauen und Männer, da alle scheinbar so fasziniert sind von Don Giovanni, dass sie ihre eigenen Rachepläne nicht verwirklichen können. Wenn diese Frauen und Männer unfähig sind, ihre Rache umzusetzen, muss in der Oper ein Toter zur Hilfe kommen. Er fordert Don Giovanni auf zu bereuen, was dieser verweigert. Daraufhin öffnet sich die Erde und verschlingt ihn. Umstritten ist die Deutung: Ist es die Hölle, die sich auftut und den Sünder verschlingt? Ist es ein moralisches Urteil? Eine höhere Ordnung?
Zwei Aspekte sollen aus der Debatte festgehalten werden: In Elektra werden die Folgen deutlich, sich der Rache verschrieben zu haben. Elektra lässt sich auch äußerlich gehen, nichts ist ihr mehr wichtig, nur der Gedanke an Rache lässt sie leben. Zeit ist dabei kein Faktor, der die Rachegedanken besänftigt. Und wenn man/frau selbst zur Ausübung der Rache nicht fähig ist oder die Möglichkeiten fehlen, muss sich Anderer bedient werden. Dies wird auch in Mozarts Don Giovanni deutlich. Die Vorsätze sind gefasst, die Rache beschlossen, aber Don Giovanni ist eine derart schillernde Figur von entwaffnender Unverfrorenheit, dass die Rächer immer wieder Abstand nehmen von ihren Vorhaben. Der Zuschauer will jedoch beim Anblick dieses Weltentheaters (und die literarische Grundlage von Don Giovanni ist ein Volkstheaterstück) die Wiederherstellung des Gleichgewichts erleben. Gerechtigkeit soll und muss hergestellt werden. Ob durch die Protagonisten auf Erden, den Einbruch des Göttlichen oder im Jenseits.
Dass Rache einen langen Atem hat, wurde am Samstag Abend durch den Film In ihren Augen erneut deutlich. Der argentinische Spielfilm aus dem Jahr 2009 gewann den Oscar als bester fremdsprachiger Film und war in Argentinien die meistgesehene einheimische Produktion der letzen 35 Jahre. Der Film verknüpft geschickt eine unglückliche Liebesgeschichte mit einem Kriminalfall und einer gesellschaftspolitischen Tragödie: Der pensioniert Gerichtsbeamte Esposito beschließt einen Roman zu schreiben über einen Fall, der lange zurückliegt und ihn nicht loslässt: die Vergewaltigung und Ermordung der jungen Liliana. Es gelang zwar, den Täter zu überführen und zu verurteilen, doch dieser wurde nach kurzer Zeit von der argentinischen Militärdiktatur als Spitzel angeworben und kam frei. Alle Versuche, den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen, blieben erfolglos.
25 Jahre später macht Esposito den Witwer von Liliana ausfindig und muss feststellen, dass dieser eigenmächtig grausame Rache an dem Täter verübt hat.
Im Spielfilm In ihren Augen ist es der Staat, bzw. die Militärdiktatur, die ihre Bürger nicht schützt und Willkür walten lässt. Von einer Justiz in einer Militärdiktatur kann der Bürger keine Gerechtigkeit erwarten. Der Film lässt die Hauptfigur, den Gerichtsbeamten Esposito, ebenso verstört zurück wie den Zuschauer, nachdem dieser erkennen muss, welch grausame Rache der Witwer verübt hat. – Wie aber, so die übergeordnete Frage, lässt sich Gerechtigkeit herstellen, nachdem Bürgerinnen und Bürger in einem Unrechtsstaat Ungerechtigkeit erlitten haben? Die politischen Beispiele im 20. Jahrhundert sind zahlreich (etwa Argentinien, Griechenland, Spanien), die Wege der Aufarbeitung höchst verschieden (siehe Südafrika).
Sonntag
Dass es auch innerhalb eines demokratischen Rechtssystems zum Scheitern kommt und sich Rache Bahn bricht, zeigten am Sonntag Vormittag Prof. Dr. iur. Bernhard Kretschmer von der Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht der Justus-Liebig-Universität Gießen und Dr. Kurt Schmidt. Zu Beginn des für 11 Oscars nominierten Meisterwerks von Francis Ford Coppola Der Pate (USA 1972) bittet ein Bestattungsunternehmer den „Paten“ seiner Tochter um Rache an den drei Halbstarken, die versucht hatten, seine Tochter zu vergewaltigen und nachdem ihnen dies nicht gelungen war, sie derart mißhandelt hatten, dass sie ihr Leben lang entstellt bleiben wird. Auch hier war zuerst alles „lege artis“ verlaufen: Die Polizei war eingeschaltet worden, eine Strafanzeige gestellt, die Täter verhaftet und vor Gericht gestellt. Dort erhalten sie eine Bewährungsstrafe und verlassen den Gerichtssaal mit höhnischem Grinsen. Der Vater, italienischer Einwanderer, hatte bis dato an Amerika und seine Werte geglaubt, ist nun tief enttäuscht und bittet den Paten um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit.
Hier ist es also nicht das Opfer selbst, das Rache übt, sondern der Vater wendet sich an eine andere Institution, die parallel zum Staat existiert – und sogar mächtiger als der Staat ist, da sie viele Vertreter des Staates bestochen hat, die Mafia. Ihre Vertreter kennen die politischen Spielregeln und halten sich im Hintergrund.
Dieses Wissen um die „Spielregeln“ macht sich auch ein besonderer Typus des Rächers zunutze, der in dem Roman von John MacDonald erscheint: Max Cady. Zwei Verfilmungen aus den Jahren 1962 (mit Robert Mitchum) und 1991 (mit Robert de Niro) setzen die Erzählung um: ein sadistischer Straftäter wird verurteilt und will sich nach seiner Entlassung an seinem Pflichtverteidiger rächen. (In der Verfilmung von 1991 hat dieser sogar entlastende Beweise unterschlagen). Für seine Rache studiert Max Cady im Gefängnis juristische Fachliteratur, um den Anwalt (und das Rechtssystem) mit den eigenen Mittel zu schlagen. Die Botschaft ist düster: Nicht nur das Rechtssystem kann im Einzelfall versagen, dass Rechtssystem kann sogar dazu benutzt werden, grausame Straftaten (Rache) zu üben, ohne dafür belangt werden zu können. Dies führt zu einer unaufhaltsamen Spirale der Gewalt.
Kann nun die göttliche Ordnung diese Spirale der Gewalt beenden? Bereits Sloterdijk hatte in dem oben zitierten Buch „Zorn und Zeit“ die Rede vom Zorn Gottes aufgegriffen. In den biblischen Geschichten rächt Gott nicht nur das Vergehen der Menschen, sondern am Ende aller Tage steht das Jüngste Gericht bevor und die Rache des Weltenrichters. Prof. em. Dr. phil. Hermann J. Real vom Englischen Seminar der Wilhelms-Universität Münster ging am Ende der Tagung den eschatologischen Gedanken Jonathan Swifts und seiner Zeitgenossen nach. Wird die Sehnsucht des Menschen, dass die erlittene Ungerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht werden möge, auf Erden nicht erfüllt, verlagert sich diese Sehnsucht ins Jenseits. Die Vorstellungen des Jüngsten Gerichts können dabei von ungeheuerer Stärke sein. Sie sprengen die menschliche Vorstellungskraft, wenn sie etwa in einer ganz anderen Richtung verlaufen und statt Zorn und Rache von Allversöhnung gesprochen wird. Hier kollabieren die Pole von Himmel und Hölle. Interessanterweise gelingen in Film, Literatur und Oper die Bilder der Versöhnung kaum. Sie wirken „aufgesetzt“ oder werden vom Filmstudio – wie bei Fritz Lang gegen die Intension des Regisseurs - „angeordnet“.
Das versöhnende Ende in Blinde Wut und im Grafen von Monte Christo wird durch die Liebe der Verlobten eingeleitet. Damit endet zugleich der Erzählstrang. Zurecht, wie Sloterdijk betont, denn von dem Menschen, der sich von der Rache abwendet und seine Rachepläne nicht weiter verfolgt, will das Publikum nichts mehr wissen. „Wer den Fahneneid auf den Geist der Rache bricht, hat den Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit verloren.“ (Zorn und Zeit, S. 281) Rache erscheint als Bedürfnis des Lesers, es funktioniert als Motiv in der Unterhaltungsindustrie. Sie bricht sich vor allem dann Bahn (in der Fiktion und im wahren Leben), wenn die Institutionen und die Strukturen des gesellschaftlichen (Rechts)Systems darin versagen, eine ausgleichende Gerechtigkeit zu schaffen.