„Soviel Anfang war nie“
Leben mit Krebs und danach
Bevor etwas gesagt wird, ist Bach zu hören. Auf dem Cello. Vorgetragen von der Cellistin Susanne Müller-Hornbach, Professorin an der Hochschule für Musik und Tanz (HFMT) in Köln/Wuppertal und Dozentin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HFMDK) in Frankfurt am Main. Vor über 10 Jahren erkrankte sie an Krebs. Dreimal hat sie die Diagnose erhalten. Dreimal hat sie die Krankheit überwunden und im Laufe der Veranstaltung erfahren die Zuhörer*innen, dass es neben der Familie und der modernen Medizin die Musik war, die ihr geholfen hat, dies alles zu überstehen. Die Musik, das eigene Musizieren, auch einmal nur für sich selbst spielen – und dann vor allem Johann Sebastian Bach. Seine Musik hat sie durch die Krankheit getragen. Und um dies ein Stück weit nachspüren zu können, unterbricht sie die Schilderung ihrer Krankheitserlebnisse immer wieder und spielt Bach.
Und sie sind zu zweit auf der Bühne, gemeinsam mit dem Arzt und Psychoonkologen Dr. med. Klaus Siegler. Aber Dr. Siegler ist nicht als medizinischer Experte dabei, sondern als Betroffener. Auch er, der Onkologe, der Krebsspezialist, erkrankte an Krebs und was er früher immer nur bei Patienten gesehen hatte, erlebte er nun selbst. Kann ein Arzt besser mit einer Krebserkrankung umgehen? Was hat sich im eigenen Leben verändert? Was wurde „gelernt“? Und gibt es eine „gesunde“ Art, krank zu sein?
Die Veranstaltung in der Evangelischen Akademie war Teil einer Vortragsreihe zum Thema „Medizin und Ethik“, initiiert von Prof. Dr. med. Elke Jäger, Chefärztin der Klinik für Onkologie am Krankenhaus Nordwest, und Dr. Kurt Schmidt vom Zentrum für Ethik in der Medizin und nebenamtlicher Studienleiter an der Evangelischen Akademie. "Diese Reihe beschäftigt sich mit dem Tabu, das die Erkrankung in vielen Fällen auslöst", sagt Jäger in einem Vorbericht von Marie Lisa Kehler, der in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.03.2020) unter Hinweis auf diese Veranstaltung erschienen ist. Die maßgeschneiderten Behandlungsentwürfe, die die moderne Krebstherapie mit sich bringe, seien häufig mit einer "unglaublichen Erwartungshaltung" verknüpft, so die Krebsspezialistin. Aber was ist, wenn sich diese Hoffnungen nicht erfüllen? Wie gehen Patienten, Familienangehörige, Freunde und Bekannte mit diesen existenziellen Zweifeln und Bedrohungen des Lebens um? Was ist hilfreich? Auf jeden Fall sollte in der Behandlungsphase Raum für diese Fragen gegeben werden, auch für die Zweifel. Patienten und ihre Angehörigen sollen ermutigt werden, sich offen über die Erkrankung auszutauschen, auch um sich so ggf. wieder näherzukommen.
Klaus Siegler hat als Onkologe viele Patienten kennengelernt, die die Krankheit am liebsten verdrängen wollten. Seit seiner eigenen Diagnose im Jahr 2005 kann er diese Haltung zwar besser nachvollziehen, verstehen kann er sie aber nicht. Er wolle die Krankheit nicht schönreden. Manchmal sei sie entsetzlich. Und zu der Einsicht, was ein gutes Leben ausmache, könne man auch anders kommen. Aber die Krankheit zwinge einen dazu, darüber nachzudenken, so Siegler in dem FAZ-Interview. Und auch wenn er mittlerweile im Ruhestand ist, setzt sich weiterhin dafür ein, dass zu einem früheren Zeitpunkt als bisher in die psychoonkologische Betreuung der Patient*innen investiert wird.
Siegler und Müller-Hornbach haben bei der Veranstaltung nicht nur als Betroffene berichtet, sondern auch als Freunde darüber gesprochen, wie sie ihre eigene Art gefunden haben, mit ihrer Erkrankung umzugehen. So habe die Cellistin Müller-Hornbach in der Zeit ihrer Erkrankung, in der sie nur für sich gespielt habe, gelernt, auch die leisen und die nicht ganz perfekt getroffenen Töne anzunehmen, und sich von der Musik tragen und trösten zu lassen. Beide, da waren sie sich einig, seien heute mutiger geworden als noch vor einigen Jahren.