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Schuld und Scham. Von der Menschlichkeit des
Menschen und der Geschichte vom Fall

Tillich-Lectures 2021

Evangelische Akademie Frankfurt
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Am 8. Juni fanden die „Tillich-Lectures“ 2021 zum Thema „Schuld und Scham: Von der Menschlichkeit des Menschen und der Geschichte vom Fall“ in digital-hybrider Weise statt. Vor Ort anwesend waren als Moderator Prof. Dr. Heiko Schulz, als Vortragender Prof. Dr. Knut Berner sowie für die Ev. Akademie Frankfurt Studienleiter Dr. Eberhard Pausch – alle drei Evangelische Theologen. Per „Zoom“ zugeschaltet wurde Frau Prof. Dr. Maria Sibylle Lotter, sie hat einen Lehrstuhl für Philosophie inne und hat sich viele Jahre lang mit den anthropologischen Grundphänomenen „Schuld“ und „Scham“ wissenschaftlich beschäftigt.

Die Theologie Paul Tillichs (1886-1965) fungierte in dieser Veranstaltung einmal mehr als hermeneutischer Schlüssel für die Themenerschließung, ist doch seine methodische Grundannahme die, dass nur in einer Doppelperspektive von Philosophie und Theologie (Stichwort: „Korrelationsmethode“) die menschliche Existenz hinreichend thematisiert werden kann. Als Stichwortgeber eignet sich Tillich freilich nur bedingt, da zwar das Thema „Schuld“ bei ihm ausführlich erörtert wird, aber das Register seines Hauptwerkes „Systematische Theologie“ den Begriff der „Scham“ gar nicht ausweist. Das wiederum heißt nicht, dass das Thema bei ihm keine Rolle spielen würde. Tillichs existenzphilosophische Terminologie hat nur andere Begriffe für das Phänomen der „Scham“ gefunden.

Von Hegel und Marx hat Tillich den Begriff der „Entfremdung“ übernommen, und selbst war er begriffsschöpferisch tätig und prägte die schöne Metapher von der „träumenden Unschuld“. Was sich im Menschen jenseits seiner „träumenden Unschuld“ ereignet, lässt sich mit Begriffen wie „Entfremdung“, „Schuld“ und „Scham“ charakterisieren, womit das Thema hinreichend umrissen wäre.

Eine vertiefte Befassung mit den Themen „Schuld/Scham“ und „Schuldzuweisung/Beschämung“ in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart bot der Vortrag von Frau Lotter. Sie unterschied dabei deutlich zwischen einerseits der Bearbeitung von Schuldphänomenen etwa in der historischen Aufarbeitung von Völkermorden wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts an den Herero und Nama geschehen – hierbei seien Schuld und Scham zu Recht als Kategorien im Spiel, die es ermöglichen, geschehenes Unrecht zu identifizieren, Schuld anzuerkennen und einen Beitrag zur Wiedergutmachung/Entschädigung zu leisten. Dies sei möglich, legitim und notwendig. Andererseits aber gebe es problematische gegenwärtige Diskurse, in denen sich als „Opfer“ identifizierende Gruppen andere Gruppen, die sie als „Privilegierte“ wahrnähmen, mit Begrifflichkeiten wie „Critical Whiteness“, „toxische Männlichkeit“, „alte weiße Männer“ usw. denunzierten, um sich selbst Vorteile auf Kosten der anderen zu verschaffen. Beschämung und Schuldzuweisung würden hierbei gezielt als „Waffen“ eingesetzt, die andere bewusst verletzten und in ihren Rechten einschränkten und benachteiligten. Ein ganz aktuelles Beispiel seien „Transgender“-Gruppen, die Feministinnen attackierten und als „trans-phob“ verleumdeten, weil die feministischen Frauen auf ihrem Recht bestehen wollen, etwa Toiletten nur für Angehörige ihres biologischen Geschlechts vorzuhalten oder in Sportwettkämpfen Menschen auszuschließen, die sich selbst als weiblich definierten, aber aufgrund ihres weiterhin biologisch männlichen Körpers in Konkurrenzen mit biologisch eindeutig als weiblich zu erkennenden Personen erhebliche Vorteile hätten.

Knut Berners Vortrag wählte zwar zur phänomenologischen Charakterisierung von Schuld und Scham einen Einstieg über Werke Franz Kafkas, trug aber sehr bald schon eine genuin theologische Perspektive in die Diskussion ein. Es fragt sich nicht nur von Tillichs Ansatz her, ob eigentlich Schuld oder nicht vielmehr Scham das ursprünglichere der beiden Grundgefühle sei – oder ob beide gleichursprünglich und auch gleichwertig gedacht werden müssen. Jedenfalls kann in der existenziellen Wirklichkeit das eine Gefühl ohne das andere wohl nicht vorkommen – beide bedingen einander in spezifischer Weise. Mochte auch der Apostel Paulus beteuern, er schäme sich des Evangeliums nicht (Römer 1,16), so sind doch in der Gegenwart religiöse Phänomene wie „Beten/Gebet“ und „die Bitte um Vergebung“ und „die Gewährung von Vergebung“ immer auch mit Scham verbunden. Nicht nur in der im 1. Buch Mose erzählten Urgeschichte, auch in der faktischen Historie und in der komplexen Gegenwart sind Schuld und Scham mit ihren vielfältigen Konnotationen und Auswirkungen präsent. Daher ist es tröstlich, um Gottes Präsenz bei uns zu wissen – und um seine Präsenz gerade auch in der Verborgenheit. Denn Gottes unverborgenes Licht würden Menschen nicht aushalten. „Dann würde nur die Scham überleben.“ (Berner)

Beide Vorträge riefen eine Reihe von Fragen hervor, die im Chat übermittelt wurden und sich in drei Kategorien clustern ließen: „westliches vs antikes und östliches Verständnis von Schuld und Scham“, „Schuld und Tragik“, „Schuld und Scham – gleichursprüngliche und gleichwertige Phänomene?“.

Im „Zoom-Live-Streaming“ waren ca. 35 Personen präsent, auf Youtube gab es am Abend des 8. Juni an die 100 Aufrufe des Clips. Das beweist das große Interesse am Thema. Und auch in den Folgetagen wurde das Video noch viele Male abgerufen.