16. Tehillim-Psalmen-Reflexionsgespräch über Psalm 137
„An den Strömen Babels saßen wir und weinten“
Das 16. Tehillim-Psalmen-Projekt, war dem 137. Psalm gewidmet, der mit dem bekannten Vers beginnt: „An den Strömen Babels saßen wir und weinten“ (Luther 2017: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“) In der weiteren Öffentlichkeit wurde er wohl in den vergangenen Jahrzehnten durch die Afropop-Gruppe „Boney M“ bekannt, die aus Teilen der Textvorlage einen lustig-fröhlichen Popsong kreiierte. Die positive Stimmung dieser musikalischen Interpretation passt jedoch weder zu dem Anliegen eines Exils- noch eines Rache-Psalms – und dies sind die beiden entscheidenden Seiten der Medaille des Bibeltextes.
Der Psalm 137 erinnert eingangs an die Situation Israels im babylonischen Exil. Es ist eine Situation der Trauer und der Klage. Zwar sind – anders als die Mär es glauben machen will – nur einige Teile der Oberschicht Israels nach Babylon deportiert worden, also keineswegs das ganze oder auch nur das halbe Volk. Aber das dadurch erzeugte Trauma übertrug sich auf die Seele des Volkes Israel und schlug sich in vielem Textzeugnissen nieder.
Aber nicht nur Trauer und Klage werden sichtbar, auch Rachegefühle kommen bei den Unterdrückten auf, und es wird explizit zu Tötungen, sogar zu Tötungen von Kindern, aufgerufen: „Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“ Wenn man solche Verse nicht allegorisierend verharmlost, sondern ihren Literalsinn ernstnimmt, dann ist es sehr wohl geboten, hier Sachkritik zu üben. Das geschah im von Helwig Wegner-Nord moderierten Reflexionsgespräch von mehreren Seiten aus.
Insbesondere wurde dabei die alevitische Sichtweise deutlich. Die Aleviten, im Gespräch vertreten durch Yilmaz Kahraman M. A., wurden dabei als eine Religionsgemeinschaft sichtbar, die zwar Wurzeln im schiitisch geprägten Islam hat, aber durchaus eigenständige Entwicklungen durchlaufen hat. Über lange Zeit wurden die Aleviten von der Mehrheit der (sunnitischen) Muslime als „Häretiker“ unterdrückt und verfolgt, und auch heute noch finden sie sich oft in einer ähnlichen Lage vor. Deshalb fühlen sie sich wohl den ersten Versen des Psalms 137 besonders verwandt, während sie die dem Rachegedanken geltenden Schlussverse kritisch sehen. Nach ihrer Sichtweise seien ohnehin alle Religionen gleichwertig, und man suche mit allen ein gutes Einvernehmen.
Die Vertreterin des Judentums, Prof. Elisa Klapheck, verwies darauf, dass der Rachegedanke nicht das Primäre im Psalm sei; der Akzent liege wohl eher auf „Vergeltung“ als auf Rache. Die semantische Differenz dieser beiden Begriffe wurde nicht von allen Anwesenden als erheblich eingeschätzt. Die ersten beiden Verse des Psalms läsen sich, so Frau Klapheck, in rabbinischen Interpretationen noch einmal anders: Anstelle der Kopula „und“ nähme man im ersten Vers ein „auch“ (hebräisch: „gam“) wahr, und das Aufhängen der Harfen bzw. Zithern an den Bäumen meine wohl weniger „Resignation“ als eine Art von „Streik“.
Prof. Siegfried Krückeberg als Repräsentant der christlichen Religion (in evangelischer Gestalt) rekonstruierte als das Hauptanliegen des durchaus ambivalenten Psalms die Frage: „Wie können wir unsere Identität in der Diaspora bewahren?“, ein Thema, das alle Religionen betreffen könne, wenn sie sich in einer Minderheitensituation vorfinde.
Insgesamt waren etwa 80 Präsenzgäste vor Ort, die sich im letzten Drittel der Veranstaltung lebhaft mit Fragen und Anmerkungen in das Gespräch einbrachten: https://www.youtube.com/watch?v=Mj_MHxtXvwE. Gegenüber dem letzten Jahr stellt dies eine erhebliche zahlenmäßige Steigerung dar. Wohl auch deshalb waren diesmal weniger Teilnehmende per „Zoom“ zugeschaltet als im Vorjahr. Da das Video auf dem Youtube-Kanal der Akademie auch weiterhin verfügbar bleiben wird, ist jedoch eine breitere Rezeption des inhaltlich sehr dichten Gesprächs erwartbar.