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Religion, Gewalt und Opfer – ein gordischer Knoten?“

Tillich-Lecture 2022

Die Tillich-Lecture 2022 fand auf ausdrücklichen Wunsch der Referent/innen „nur“ als Analogveranstaltung statt. (Die Studienleitung hätte eine Hybridveranstaltung begrüßt, um mehr Personen erreichen zu können. Die Tillich-Lecture des Jahres 2021, die via Youtube gestreamt wurde, konnte immerhin 372 Aufrufe verzeichnen.) Zu Beginn der sog. „Sommerwelle“ der Covid-19-Pandemie fanden sich ca. 25 Teilnehmende in der Akademie ein. Nach einer Begrüßung und inhaltlichen Einleitung durch den Studienleiter moderierte Professor Dr. Heiko Schulz, Systematischer Theologe an der Goethe-Universität Frankfurt, die Veranstaltung in bewährter Weise. Die beiden Referent/innen des Abends waren Prof. Dr. Thomas Schmidt, Philosoph an der Goethe-Universität (ein Schüler von Jürgen Habermas) und Frau Prof. Dr. Gesche Linde, Systematische Theologin aus Tübingen (Nachfolgerin am Lehrstuhl des 2021 unerwartet und viel zu früh verstorbenen Prof. Dr. Christoph Schwöbel).

 

Die Themenexposition rankte sich um folgende Überlegungen: Naturkatastrophen und Autounfälle, Pandemien und Terroranschläge fordern Opfer. Und Kriege fordern Opfer – in der Gegenwart auf erschreckende Weise der Krieg in der Ukraine. Auch haben zu allen Zeiten Menschen aus religiösen Gründen Opfer gebracht: Zeit und Mühe, die Früchte des Feldes, geweihte Tiere und sogar Menschenopfer. Religion, Opfer und Gewalt sind in der Geschichte so eng miteinander verbunden, dass sie fast untrennbar scheinen: ein gordischer Knoten. Müssen Götter, musste auch der Gott, an den Christenmenschen glauben, Blut vergießen lassen, um besänftigt und versöhnt zu werden? Welche Rolle spielt hierbei der Kreuzestod Jesu?

 

Eine elementare philosophische Reflexion des Themas setzt ein bei der Unterscheidung von „victim“ und „sacrifice“. Es ist ethisch gesehen sicherlich richtig, in allem menschlichen Handeln einen „tutioristischen“ Grundzug durchzuhalten, der die Anzahl der „victims“ (also unschuldigen Opfern, etwa von Pandemien oder Kriegen) so gering wie möglich halten möchte. Wo ein Opfer im Sinne eines „sacrifice“ gebracht wird, ist es sehr wohl möglich, dies ethisch zu reflektieren und zu bewerten. Mit einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung wird dies aber kaum gelingen. Insgesamt spricht aus philosophischer Perspektive viel dafür, den Opferbegriff als solchen differenziert zu betrachten und sich seiner Problematik im Zusammenhang mit dem Phänomen der Gewalt zu stellen, aber einen ethisch sinnvollen und verantwortbaren Gebrauch des Begriffs für möglich zu halten.

 

Die theologische Behandlung des Themas geht vom Befremdungspotenzial des – wie gezeigt – mehrdeutigen Opferbegriffes aus und sucht über den biblischen Befund nach Spuren eines sinnvollen Begriffsgebrauchs. Die Frage, wie sich der „gordische Knoten“ von Religion, Gewalt und Opfer auflösen lässt, erhält eine besondere Zuspitzung durch die Vorstellung vom Sühnopfer Jesu am Kreuz. Das einmalige und unüberbietbare Opfer Jesu macht immerhin – das lässt sich als religionsgeschichtlicher Fortschritt deuten – das Darbringen weiterer Opfergaben in der Zukunft überflüssig. (An diesem Punkt stellt die protestantische Theologie an die römisch-katholische Vorstellung vom „Messopfer“ in der Eucharistie die Frage, ob hier nicht die Einmaligkeit des Opfers Jesu negiert wird. Es öffnet sich somit ggf. ein kontrovers-theologisches Feld.) Von Paul Tillichs Theologie her ist der Gedanke eines Selbstopfers aus Liebe durchaus plausibel zu machen, auch wenn Tillich sich an diesem Punkt einer dialektischen Denkfigur bedient.

 

Man wird – so das Fazit am Ende des Abends – den Opferbegriff nicht vorschnell verabschieden dürfen, aber man wird ihn in differenzierter und sensibler Weise betrachten müssen. Ein großer Dank für die Unterstützung der Tillich-Lecture 2022 gebührt wie in den Vorjahren jedenfalls dem Förderverein der Evangelischen Akademie Frankfurt