HERMAN MELVILLES „MOBY-DICK“
MEDIZIN IN DER LITERATUR
Wenn jedes Jahr in Deutschland etwa 200.000 (!) Bücher neu erscheinen, fällt der Überblick und schwer. Was soll man lesen? Was ist gute Literatur? Seit mehreren Jahren geben wir in der Evangelischen Akademie dazu Hilfestellung und konzentrieren uns dabei besonders auf das Themenfeld „Medizin und Literatur“. Wie Menschen mit Erkrankungen und Schicksalsschlägen umgehen, war für Leserinnen und Leser stets interessant, wie auch Bücher selbst eine therapeutische Wirkung entfalten konnten. So haben in unserer Reihe auch jene berühmten Bücher Platz gefunden, die vom Namen her jede und jeder kennt, aber bei ehrlicher Prüfung kaum jemand wirklich gelesen hat. Dies betraf unsere Literaturauswahl der letzten Jahre, wie beispielsweise Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Bram Stokers „Dracula“. Diesmal hatten wir uns Herman Melvilles Meisterwerk „Moby-Dick“ vorgenommen. Das Buch war bereits in der alten ZEIT-Bibliothek der „100 besten Bücher“ aufgenommen worden und hat zurecht auch seinen Platz gefunden in der neuen ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur, weil es zu jenen Büchern gehört, die wahre „Lebensgefährten“ werden und Leser und Leserinnen lebenslang begleiten können. In der Evangelischen Akademie befördern wir diese literarischen Entdeckungsreisen dadurch, dass ausgewählte Passagen von der bekannten Schauspielerin Mechthild Großmann vorgetragen werden, die mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme die Zuhörer schon mit dem ersten Satz auf magische Weise einfängt. Für ihre Hörbücher ist sie mehrfach ausgezeichnet worden.
Bei der Veranstaltung konnte jeder nachspüren, dass „Moby-Dick […] nicht nur das größte Buch [ist], das von einem Amerikaner geschrieben worden ist; es ist auch das größte amerikanische Buch“, so Henry Bamford Parkes, Professor für Geschichte an der New York University im Jahre 1947. Es ist in der Tat ein gewaltiges, rätselhaftes, philosophisches und religiöses Buch, das in Deutschland lange Zeit unentdeckt geblieben ist, weil die ersten Übersetzungen sehr stark gekürzt waren und zu dem Missverständnis führten, es handle sich bloß um ein Abenteuerbuch für Kinder und Jugendliche. Doch weit gefehlt! In der vollständigen Fassung mit seinen 1000 Seiten geht es um nichts weniger als um die großen Fragen der Menschheit: Gibt es ein Schicksal? Gibt es Vorsehung? Wie weit reicht die menschliche Freiheit? In der vor 175 Jahren erschienen Erzählung geht es auf veblüffende Weise um hochaktuelle und brisante Themen: Es geht um die Maßlosigkeit des Menschen im Hinblick auf die Ausbeutung der Natur und um die Rache der Natur. Es geht um die Spannungen in multikulturellen Gesellschaften, die Überwindung der Angst vor dem Fremden, die Folgen von Ausgrenzung, das Einfordern religiöser Toleranz, die Überheblichkeit des weißen Mannes, den kritischen Blick auf die Zivilisation, die Anfälligkeiten der Demokratie. Es geht um die Gefahren, die von charismatischen Führern ausgehen, die Macht der Rhetorik, die Verführbarkeit des Menschen. Es geht um Aberglauben und Wissenschaft, um Krankheit, Sterben und Tod.
Um diese unterschiedlichen Aspekte näher zu beleuchten, wurde die Lesung von Mechthild Großmann durch Kommentare aus medizinischer Sicht (Prof. Dr. Klaus Lewandowski, Berlin), ethischer Sicht (Prof. Dr. Kurt W. Schmidt, Frankfurt/M.) und psychiatrischer Sicht (Dr. Susanne Markwort, Offenbach und Prof. Dr. Martin Hambrecht, Darmstadt) ergänzt.