Als Mann und/oder Frau geschaffen?
Menschen als geschlechtliche Wesen
Die Tillich-Lecture 2023 fand auf ausdrücklichen Wunsch der Referent/innen wie schon im Vorjahr „nur“ als Analogveranstaltung statt. (Die Studienleitung hätte eine Hybridveranstaltung begrüßt, um mehr Personen erreichen zu können. Die Tillich-Lecture des Jahres 2021, die via Youtube gestreamt wurde, konnte immerhin 531 Aufrufe verzeichnen.)
Zur Veranstaltung, bei der Eintritt erhoben wurde, fanden sich etwa 35 Teilnehmende in der Akademie ein. Nach einer Begrüßung und inhaltlichen Einleitung durch den Studienleiter moderierte Professor Dr. Heiko Schulz, Systematischer Theologe an der Goethe-Universität Frankfurt, die Veranstaltung in bewährter Weise. Die beiden Referent/innen des Abends waren die Philosophin Prof. Dr. Friederike Kuster (Bergische Universität Wuppertal und der Theologe PD Pfarrer Dr. Lukas Ohly (Goethe-Universität Frankfurt).
Die aktuellen Geschlechtertheorien basieren weitgehend auf dem Gedanken von Geschlecht als einer Konstruktion: Das Menschenwesen wird nicht als Frau oder Mann geboren, es wird dazu gemacht, wie es Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ erstmalig für die Frauen formuliert hatte. Judith Butler hat in den 1990er Jahren diesen Gedanken unter Berufung auf John L. Austins Sprechakttheorie weiterentwickelt und behauptet, die geschlechtliche Identität eines Menschen beruhe nicht auf seiner biologischen Ausstattung, sondern werde durch Sprechakte und somit verbale Zuschreibungen konstituiert. Ebenfalls seit den 1990er Jahre wird die die traditionelle Geschlechtermatrix als Heteronormativität oder Zwangsheterosexualität bezeichnet. Inzwischen hat sich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Realität (der meisten westlich-liberalen Länder) das anatomische Geschlecht von der Geschlechtsrolle und dem Geschlechtsrollenverhalten und von der ausschließlich gegengeschlechtlichen Begehrensrichtung entkoppelt. Geschlecht, Geschlechtlichkeit ist gleichsam in die drei Module sex (Körpergeschlecht), gender (soziales Geschlecht oder Geschlechtsrolle) und desire (sexuelles Begehren) zerlegt, die jetzt frei und flexibel kombiniert werden können in hetero-, homo- und bisexuell und diverse transversale, querliegende, queere Formen. Darüber hinaus ist der rigide Binarismus des anatomischen Körpergeschlechts zugunsten der Anerkennung eines Spektrums gelockert worden; zwischen eindeutig weiblich und eindeutig männlich werden anatomische Zwischenformen gelten gelassen: Eintrag divers. Oder alles zusammen: LGBTIQ plus … Die Philosophie folgt in diesen Fragen zunächst einmal auch den empirischen Einzelwissenschaften, deren Ergebnisse sie offen zur Kenntnis nimmt und die sie nicht aus einer Metaperspektive moralisch bewertet.
Letzteres gilt ebenfalls für die theologische Reflexion. Sie geht, soweit sie an Paul Tillich anschließt, davon aus, dass das Leben sich ohnedies immer in ontologischen Polaritäten vollzieht, die niemals einander vollständig ausschließende Gegensätze darstellen, und andererseits wesentlich eine geschichtliche Dimension hat. Menschliches Leben ist nicht, sondern wird – das gilt auch für die geschlechtliche Identität eines Menschen.
Das bedeutet wiederum, dass die Geschlechteridentität verdankt sich einem dynamischen Prozess verdankt. Welches Geschlecht ich habe, ist mir nicht vorgegeben, sondern stellt sich erst heraus. Das individuelle Geschlecht ist der jeweilige Zustand eines lebensgeschichtlichen Prozesses, in dem biologische, soziale und moralische Aspekte mit umfasst sind. Mit der biologischen Festlegung der Geschlechter ist sozial und moralisch noch nichts entschieden, aber die scheinbare Alternative Sex vs. Gender ist auch keine Alternative zwischen Amoralität und Moral. Die Wirklichkeit ist komplexer, darum auch anstrengender und vor allem auch nicht ein für allemal feststellbar, sondern bedarf ständiger Aushandlungsprozesse – individuell, sozial und moralisch.
In der Mediathek der Akademie finden sich die thematische Einführung des Studienleiters sowie die beiden Impulsvorträge, an die sich eine rege, aber hier nicht dokumentierte Debatte im Plenum anschloss.
Ein großer Dank für die Unterstützung der Tillich-Lecture 2023 gebührt wie in den Vorjahren dem Förderverein der Evangelischen Akademie Frankfurt.