Wut und Zorn
Was Götter und Menschen umtreibt
Gefühle sind flüchtig und instabil, sie haben eine zeitliche Struktur und dauern nicht ewig, wie die Historikerin Ute Frevert, Direktorin em. des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, beschreibt. „Wut steigt auf, bricht los und ebbt ab. Tut sie das nicht und entwickelt sich stattdessen zu einer anhaltenden Raserei, wird sie pathologisch. Gleiches gilt für Freude, Angst, Trauer. Wer sich stets freut, fällt ebenso aus dem Rahmen wie jemand, der von immerwährenden Ängsten geplagt wird. Darüber, wie lange man um einen geliebten Menschen trauern soll und darf, haben sich Gesellschaften seit jeher Gedanken gemacht und unterschiedliche Antworten gefunden.“ (Vergängliche Gefühle, Wallstein 2013, S. 7)
Abgesehen von der Leidenschaft der Liebe dürften Wut und Zorn jene starken Gefühle sein, die seit jeher die größte Aufmerksamkeit gefunden haben und das menschliche Zusammenleben prägen. Sei es in der Theologie und Religionsgeschichte (der Zorn Gottes oder der Zorn des Moses), sei es in der Geschichte und Literatur (der Zorn des Achill oder die Wut des Michael Kohlhaas), sei ist in der Philosophie (bei Aristoteles oder Seneca) und schließlich auch im Spielfilm (bei Werner Herzog „Aguirre, der Zorn Gottes“ oder David Fincher).
Gefühle können einzelne Personen, aber auch ganze Gruppen erfassen. Im Jahr 2010 wurde durch einen Journalisten im SPIEGEL der Begriff des „Wutbürgers“ geprägt, anschließend zum Wort des Jahres gewählt und in den Duden aufgenommen. Dies verdeutlicht eindrücklich, welche individuelle und gesellschaftspolitische Bedeutung Gefühle nach wie vor haben. Dies wurde von uns zum Anlass genommen, um auf der Tagung den Einflüssen der beiden starken Emotionen „Wut und Zorn“ von der Vergangenheit bis in die Gegenwart aus interdisziplinärer Sicht nachzugehen.
Zum Einstieg wurde Wut und Zorn als individuelles und kollektives Phänomen untersucht (Prof. Achim Stephan, Universität Osnabrück) und eine Einordnung aus psychiatrischer Sicht vorgenommen (Dr. Peter Wagner, Frankfurt/M.). Eng verknüpft ist damit die Frage, wie Taten, die aus Wut und Zorn begangen werden, aus strafrechtlicher Sicht zu bewerten sind (Prof. Bernhard Kretschmer, Universität Gießen). Ein kritischer Blick wurde aus rechtmedizinischer Sicht auf eine berühmte biblische Szene geworfen (Buch Judith), die in zahlreichen Gemälden düster-dramatisch dargestellt ist: Judith tötet Holofernes, den Feldherrn des baylonischen Königs Nebukadnezar, um große Not von ihrem Volk abzuwenden (Prof. Hansjürgen Bratzke, Frankfurt/M.). Kunsthistorisch wirft auch Michelangelos berühmte Skulptur des Mose in der Kirche San Pietro in Rom zahlreiche Fragen auf, inwieweit es sich hier um einen zornigen Mose handelt, was bereits Sigmund Freud beschäftigt hatte (Prof. Gerd Blum, Münster/Wien). Neben der Malerei wird auch die Weltliteratur durchzogen von Wut und Zorn, denen die Protagonisten erliegen. Zum einen ist hier Heathcliff in Emily Brontës „Sturmhöhe“ zu nennen, zum anderen ist Kapitän Ahab in Herman Melvilles Moby-Dick eine der Figuren, die von Wut und Zorn, Hass und Rache geradezu zerfressen sind und der es auf beängstigende Weise vermocht hat, seine Wut und seinen Hass auf die gesamte Mannschaft des Walfängerschiffs zu übertragen (Prof. Kurt Schmidt, Frankfurt/M.). Ein versöhnliches Ende deutete zwar die Frage des letzten Beitrags an: Kann Wut auch komisch sein? Doch blieb hier das Urteil zweigeteilt: Jein (Prof. Kurt Bayertz, Münster).
Der Umgang mit den eigenen Gefühlen bleibt individuell und gesellschaftlich eine ständige und notwendige Herausforderung. Wir danken dem Förderverein der Evangelischen Akademie für die freundliche Unterstützung, die diesen spannenden interdisziplinaren Austausch ermöglicht hat.